Johannes Imelmann (Hrsg.)

 

Deutsche Dichtung im Liede

Gedichte literaturgeschichtlichen Inhalts

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Anthologie

 

Vorwort.

 

[V] In dem vorliegenden Buche findet der Leser ein ziemlich weit zerstreutes Material zu bequemer Benutzung zusammengestellt: eine über mehr als sechshundert Jahre sich erstreckende Sammlung solcher deutscher Gedichte (oder Gedichtteile), welche selbst wieder deutsche Dichtung und deutsche Dichter zum Gegenstand haben. Es liegt in der Natur der Sache, dass Gedichte dieser Art – Literaturgedichte – in keiner Literatur fehlen können; Dichterlob und Dichterfehde, literarische Umschau und Lehre begegnen allenthalben in der Dichtung selbst. Zalreiche Epigramme der Griechischen Anthologie gehören diesem Gebiete an, auf welchem auch die lateinische Poesie der Augusteischen Periode und ebenso die neuere englische stattlich genug vertreten ist. In keiner anderen aber ist die bezeichnete Gedichtspecies der – "Poets' Corner" – so sehr eine feste Gewohnheit und gleichsam eine stehende Rubrik wie in der unsrigen. Von den Minnesängern, von dem Zeitalter Gottfrieds von Strassburg und Rudolfs von Ems an lassen sich literarische Stücke und Stellen in selten abgebrochener Continuität verfolgen bis hinauf zu den Höhen unserer classischen Poesie, und wiederum von den Tagen Goethes und Schillers bis zur jüngsten [VI] Vergangenheit und unmittelbaren Gegenwart, bis zu Freiligraths klangvollen, herzenswarmen Poetengedichten, Paul Heyses feinsinnigen, stimmungstiefen literarischen Sonetten und Episteln. Die reiche Fülle dieser Producte legt es nahe, sie zu sammeln und durch eine Inventarisirung auch äusserlich als eine selbständige, charakteristische Gattung zur Geltung kommen zu lassen. Eine solche – natürlich nach der Zeitfolge der Gegenstände geordnete – Aneinanderreihung ist aber auch sonst nicht ohne Reiz und Gewinn: sie ergibt ein farbenreiches, bewegtes, vielseitig anregendes Bild der in dem langen und mühsamen Entwickelungsgange unserer Dichtung einander ablösenden, neben- und durcheinander laufenden Richtungen, in welchem die Persönlichkeiten ihrer Träger und die lebendigen Wirkungen von Dichter auf Dichter, der Kunstzusammenhang, die Verzweigung der Schulen oft in greifbarer Deutlichkeit zur Anschauung kommen. An Art, Form und Wert sind die hier vereinigten Stücke selbstverständlich so verschieden wie möglich: lehrhafte Umständlichkeit wechselt mit epigrammatischer Prägnanz, Enkomiastisches mit Polemischem, Weitschauendes und Abschliessendes mit Halbwahrem oder Befangenem; nach tiefgeschöpften und tiefdringenden Worten eines Unsterblichen lässt wol ein Geringer seine matte Stimme vernehmen, auf prangende Blumen folgen welke Blätter. Ein literaturgeschichtliches Interesse möchte sich dennoch an jedes hier aufgenommene Stück knüpfen, und auch das poetisch oder kritisch dürftigste noch irgendwie instructiv sein, etwa einen Blick tun lassen in die Unsicherheit zeitgenössischen Urteils oder die Langsamkeit der Urteilsbildung überhaupt. Des Vorzüglichen, unbedingt Wertvollen ist keineswegs [VII] wenig in der Sammlung, es kann reichlich entschädigen für das, was unmittelbaren Genuss nicht gewährt.

Kleinere Gruppen auf Literatur bezüglicher Gedichte finden sich mehrfach in Anthologien zusammengestellt, so in Echtermeyers Auswal deutscher Gedichte und in Wagners Germania. Aber auch in dem Plane, eine umfassende Collection dieser Art anzulegen, habe ich einen Vorgänger gehabt und zwar an Ferdinand Freiligrath, welcher in der zweiten Abteilung seines poetischen Sammelwerkes "Dichtung und Dichter" (Dessau 1854) eine Geschichte unserer poetischen Literatur aus dem eigenem Munde der Dichter, wie er es nennt, bietet. Aus diesem Buche, mit dem ich mich in Folge der Erwähnung desselben in Freiligraths seinen "Gesammelten Dichtungen" vorausgeschickter Biographie bekannt machte, konnten etliche Stücke in die vorliegende Sammlung aufgenommen werden; von der Weiterführung der letzteren abzusehen konnte die Arbeit des Vorgängers mich nicht veranlassen.

Den Herren Dr. B. Suphan, Gymnasialdirector Dr. L. Bellermann, und Dr. F. Jonas in Berlin, welche mich bei meinen Nachsuchungen freundschaftlich unterstützt haben, spreche ich auch an dieser Stelle meinen besten Dank dafür aus. Auch die Herren Prof. Dr. W. L. Holland in Tübingen, Prof. Dr. Kraatz in Stuttgart, Dr. Reicke in Königsberg, Dr. Hans Meyer in Berlin, der seitdem verstorbene Dr. A. Strodtmann, und meine Collegen die Herren Dr. Seebeck und Dr. Heller haben sich durch dankenswerte Gefälligkeiten Verdienste um meine Arbeit erworben. Herr Prof. Dr. W. Wilmanns in Bonn hat die Güte gehabt, die älteren Sachen durchzusehen, und bei dieser Gelegenheit an einigen Stellen Textschäden [VIII] beseitigt, worüber die Anmerkungen das Nähere angeben. Was diese letzteren betrifft, so hoffe ich durch die Nachweise, Erläuterungen, Notizen, die sie bringen, die Brauchbarkeit des Buches erhöht zu haben. Möchte dieses denn den Freunden unserer Dichtung willkommen sein und auch beim Schul- und Selbst-Unterricht in der deutschen Literaturgeschichte sich nützlich erweisen. An Lücken und anderen Unvollkommenheiten wird es ihm gewiss nicht fehlen, inzwischen –

ez ist gar unschemelich,
ob in guotem muot ein man
tuot, so er beste kan
.

Berlin, November 1879.

J. Imelmann.    

 

 

 

 

Druckvorlage

Johannes Imelmann (Hrsg.): Deutsche Dichtung im Liede.
Gedichte literaturgeschichtlichen Inhalts.
Berlin: Weidmann 1880, S. V-VIII.

URL: https://books.google.fr/books?id=02YoAAAAMAAJ
PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.hnxiim
URL: https://archive.org/details/deutschedichtun00imelgoog

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

 

 

Bibliographie der deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 – 1914

 

 

 

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