M. F. Cyprian

 

 

Moderne deutsche Lyrik

[Auszug]

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Cyprian
Literatur: Hochland

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Texte zur George-Rezeption

 

[647] In R. M. Rilkes Prosabuche des Malte Laurids Brigge * findet man die folgenden sehr treffenden Bemerkungen über das Wesen der Dichtung: 'Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man muß zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die man lange kommen sah . . . Auch bei Sterbenden muß man gewesen sein, muß bei Toten gesessen haben in der Stube mit dem offenen Fenster und den stoßweisen Geräuschen. Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.'

Darin, daß die Dinge der Welt Blut in ihm werden, besteht das Schicksal des Dichters. Er muß mit begehrenden Augen die Natur in sich aufnehmen, die Erlebnisse, die Erschütterungen, die Untergänge, die göttlichen Geheimnisse. Des wahren Dichters Leben ist eine ewige Pilgerschaft nach dem Blut des Lebens, nach dem Sinn des Lebens; seine falschen Freunde sind es, die ihn bewahren wollen vor der eingeborenen Tragik seiner Sendung: er muß durch die Not und das Leiden, er muß über die Abgründe hinweg, die ihn zu verschlingen drohen; denn aus der Passion reift sein Werk – entflieht der Dichter der Tragik seines Lebens, so entflieht er zugleich der Gnade seiner Sendung. Erst im Leiden wird ihm die Welt bewußt, häuft sich Erkenntnis an Erkenntnis, wächst sein Mitleid, reift seine Güte, werden die Mysterien in ihm offenbar. So ist der Dichter krank an einer ewigen Sehnsucht, das Leben zu durchdringen und seinem Bewußtsein zu erobern; er kann nicht wie der Bürger sein Leben behüten, vor undurchkosteten Möglichkeiten des Lebens entsagend resignieren. In ihm brennt jenes unstillbare Verlangen, das Reinhard Johannes Sorge einmal in diesen Versen sagte:

'Ich schaue viele Stufen noch vor mir im Licht
Und viele Reinheiten, die ich noch nicht durchwandelt . . .
Ich ahne viele Liebe noch vor mir im Licht,
Und viele tiefe Lust, die ich noch nicht durchkostete . . .'

Und eine gleiche Sehnsucht ist es im Grunde auch, die eine so ganz anders geartete Dichterpersönlichkeit wie Richard Dehmel erfüllt:

[648] 'Ich will ergründen alle Lust
so tief ich dürsten kann;
ich will sie aus der ganzen Welt
schöpfen, und stürb ich dran.
Ich will's mit all der Schöpferwut,
die in uns lechzt und brennt;
ich will nicht zähmen meiner Glut
heißhungrig Element.'

So ist der Dichter ein Eroberer des Lebens, der die Einsicht in Wesen und Gehalt des Geschehens sich erringt. Demütig muß er sich hingeben der Schöpfung Gottes und doch zugleich ihr Blut in sein Blut aufnehmen. Nichts törichter, wie den Dichter als den beschaulichen Menschen in Gegensatz zu stellen zu dem Manne der äußeren Tat. Auch die Eroberung des Weltbewußtseins durch den Dichter ist Tat, Tat im höchsten Sinn. Wir nennen Napoleon einen Tatmenschen. Aber vielleicht waren seine Taten in ihm mehr dumpfer Drang als tätiges Bewußtsein; Gebot der göttlichen Vorsehung, deren tieferer Sinn nur dumpf in sein Blut drang. Und was ist von ihm geblieben? Eine dunkle Sage, eine verworrene Erinnerung, Umgestaltungen, denen er dienen mußte, die aber längst von seinem Namen gelöst sind. Und doch könnte Napoleon wieder auferstehen, um dauernd zu bleiben, wenn die Bewußtheit eines großen Dichters ihn aus einer historischen Erinnerung umzuschaffen vermöchte zum mythischen Symbol. Da stände er auf: der von den Dämonen des Schicksals aus kleinen Anfängen zu gebietender Macht Emporgetragene, der plötzlich am Wendepunkt seines Lebens im Anblick des brennenden Moskau nicht mehr zu handeln vermag, der hilflos erschauert vor der Gewalt der Flamme, die auch seines Handelns Macht ist, der schaut ohne zu wirken und so – die Tragik seines Schicksals heraufbeschwört. Die Tragik, die den Gebieter der Welt kreuzigt mit der Qual eines widersinnig tatenlosen Lebens – auf einem fernen Eiland – jenseits der wirkenden Welt. So den metaphysischen Sinn der historischen Geschehnisse aufzudecken, das ist des Dichters Tat.

Einer der größten Dichter der Gegenwart, Alfred Mombert, hat einmal dem Eroberer folgende Worte in den Mund gelegt über den Dichter, der nach ihm kommen wird. *

'Es lebt Einer, der immer hinter mir wandert.
Der hinter mir die Meere überschifft
kühn allein in einem Nachen.
Mein Geschichtschreiber:
mein Sänger und mein Sterndeuter.
Der mein strömendstes Leben
tönend formt zur Dauer.
Der meine Kämpfe,
alle Machtbrünste des Dämon
auslebt: ausringt: aussingt:
als Menschheitsage einschreibt in sein Buch.
Ein Buch, um das er die Urweltschlange windet,
die alles abschließt.'

[649] Versuchen wir uns diese großen Dichterworte in ihrem ganzen Tiefsinn zu eigen zu machen. Gewiß wandert der Dichter hinter dem Helden; aber nicht wie jener steht er im Gedränge des geschichtlichen Lebens: in kühner Einsamkeit überschifft der die Meere. Er zeichnet des Helden Leben auf und preist es, so ist er Geschichtschreiber und Sänger, aber er wirkt noch mehr: er erfaßt den metaphysischen Sinn des Heldenlebens – so wird er zum 'Sterndeuter'. Was im bunten Fluß der Geschichte zu verschwinden drohte, gestaltet er neu in der bleibenden Form des Werkes: so wandelt der Dichter strömendstes Leben in dauernde Gestalt. Was der Held durchlebt hat, das muß auch der Dichter bis in seine letzten Konsequenzen durchleiden, so daß er 'alle Machtbrünste des Dämon auslebt, ausringt, aussingt', auf daß dann dieses Heldenleben als unvergängliche Sage eingeschrieben ist im Bewußtsein der Menschheit. Aber dieses Heldenschicksal bleibt in dem Werke des echten Dichters nicht in der stofflichen Begrenztheit befangen. Es wird in Beziehung gesetzt zu den Urgünden des Seins: um die Episode der Menschheitsgeschichte wird die Urweltschlange gewunden, die alles abschließt.

So muß von dem echten Dichter jeder Stoff in seiner Ganzheit durchlebt, durchlitten und durchrungen werden. So wird vielleicht auch einmal ein ganz großes dichterisches Genie das ganze Leid dieses Krieges in sein Bewußtsein nehmen, aber auch allen Heroismus und alle Opfer – und so die Kraft gewinnen, das wirbelnde Geschehen des Weltkrieges zu bannen in geprägter Form und durch sein Werk dieses ungeheueren Geschickes Sinn uns zu deuten. Das Versagen der heutigen Kriegsdichtung besteht gerade darin, daß sie noch garnicht die Distanz hat, das gewaltige Geschehen in seiner Totalität zu begreifen und in Beziehung zu dem Absoluten zu setzen. So bleibt die Kriegsdichtung von heute in der lokalen Episode befangen, in der vergänglichen Stimmung oder gar in der politischen Phrase.

 

 

[Die Anmerkungen stehen als Fußnoten auf den in eckigen Klammern bezeichneten Seiten]

[647] * Leipzig, Insel-Verlag 1910.   zurück

[648] * Alfred Mombert, Aeon vor Syrakus. Drama, Berlin, Schuster und Löffler, 1911.   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Hochland.
Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst.
Jg. 15, 1917/18, Heft 12, September 1918, S. 647-659.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


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URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008919913

Hochland   Inhaltsverzeichnisse
URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:824-31-ba-2940-4

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

 

 

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