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Literatur: Andreas-Salomé
Literatur: Das literarische Echo
Als der unmittelbare dichterische Ausdruck erscheint der lyrische; vom Berufenen herab bis zum herzerleichternden Verslein eines vom Leben bewegten Menschenkindes. Im Lyrischen scheinen wir die ganze Fülle der Außeneindrücke mit der reinsten Gefühlshingebung zu umfangen, die sich unbeschränkt und unbedenklich mit ihnen einläßt, dadurch im Ausdruck weltumspannend: jedoch eben am Gefühlsmäßigen ist er am festesten gebannt in die Schranken des Personellen. In der Art, wie wir lyrisch hinausgreifen ins Weite, liegt noch eine Kunst des sofortigen Sichausstreckens, um sich wieder zurückzuziehn, ohne daß die Organsation sich dem dauernden Gefüge des Außen angepaßt, Glieder dafür angesetzt hätte. Hängen wir mit derartigem Fühlen am Nebenmenschen, so reißen wir ihn leicht in unsere dichterische Verfassung herein, machen wir uns an ihm produktiv anstatt ihm zu dienen, – wofür der Verliebte, seiner Liebes-Lyrik Überantwortete, das Schulbeispiel gibt; am Dichter ist es sogar der schönste Teil seiner Treue gegen Menschen, die sie so schöpferisch für ihn erhöht, während die Personen selbst ihm meist dabei umso gründlicher entschweben. Weil aber die Folge Enttäuschung am Wirklichen sein muß, ergibt das typisch lyrische Verhalten eine letzte Sehnsucht nach dem Erlöstwerden von sich selbst, nach einem Aufgenommensein im Positiven, nach etwas außerhalb sowohl des Schöpferischen als auch des Genießerischen, wenn es nur, streng und bescheiden, dem Zufälligen wie dem Zügellosen enthebt und unterkommen läßt als "Ding unter Dingen". Gerade vom Lyrischen geht, wo es mächtig die Seele bestimmt, auch selbstrettend eine ästhetische Freude aus an allem Gehaltenen, Zurückhaltenden, am Sinn aller Konventionen, und die "interessante Verwilderung", die eine solche zu sein sich's noch [326] leisten kann, kommt aus geringerer Tiefe herauf, als manche Korrektheit, ja heimliche Pedanterie, womit ein Poet wider Willen verrät, was alles er zu kompensieren hatte, und was dann in seine flachern, toten Stunden mit emporgespült wurde, wie Muscheln, die die Ebbe zurückließ; wunderlich wichtig und winzig. Steht doch sogar die größere Strenge und Mannigfaltigkeit der Formen, deren die Lyrik im Vergleich mit sonstigen Dichtungen sich befleißigt, ganz gewiß ebenfalls im gleichen Zusammenhang, – mit der Gefahr der Entwirklichung; dem Zwang sich formell zu bändigen; dem Antrieb, über das Allzusubjektive damit einen Schleier zu breiten, der nur durchscheinen läßt, was im Grunde in Einsamkeit, in Selbstgenuß sich vollzog und eine Scham abwerfen muß, um öffentlich zu werden.
Eine ganz natürliche Ergänzung unseres lyrischen Verhaltens zum Leben
ist in uns allen deshalb das Stück dramatischen Temperaments, desjenigen, wodurch
wir uns auf die Seite der Dinge werfen, in ihre objektive Gliederung und Gestaltung.
Um wieviel materieller gerichtet sich das auch gebe, um soviel ist es doch
entselbstender, entmaterialisierender sozusagen, in bezug auf uns.
Weit unmittelbarer übergehend aus einer bloß dichterischen in die positive
Einigung mit jeglichem; ohne poetische Überschätzung schärfer blickend, doch auch
blutwärmer liebend und der lyrischen Enttäuschung drum
nicht ebenso zugänglich. Dafür die andere Gefahr: sich am einzelnen zu verstricken, anstatt das Viele
und Ganze zu umfassen, wie wir es ja auch menschlich erreichen möchten, und wie es dem Dichter
in uns das wesentliche Lieben ist: denn in und hinter allem Geschauten ist er dem allein verbunden,
woran alle Mannigfaltigkeit zu ewiger Wandlung, Spiel und Maske wird. Wonach seine
Sehnsucht geht, während er sich dramatisch dazu einstellt, das ist drum die Lösung
im Allgemeinsamen, das jedes Ding durchströmt und ausfüllt, jedes gerade dadurch
erst rundend und legitimierend zu einer Welt für sich. Ihm liegt nicht daran,
und sei es durch Formhüllen, einen feinsten Schleier der Scham zu wahren über seinem
Einsamsein; abzuwerfen strebt er alle Verschleierung, bis Blick auf Blick trifft und er im
Auge des andern, wie in Heimat aufgenommen, sich wiedererkennt, der hinausgestreut
war in die Welt der Dinge und – in sich selber bedrängt mit allen ihren
Gegensätzen oder Möglichkeiten, – nicht nach Hause fände ohne diesen Richtblick.
So möchte man auch sagen: ein anderes noch, als der Leser oder Hörer dem Lyriker ist, sei
dem Dramatiker der Zuschauer vor der Bühne über die sein Werk sich ausbreitete, –
als erfolge die wahre, eigentliche Handlung erst auf dessen und seiner eignen
Seelenbühne; als bliebe darin noch etwas übrig von der geheimen Bedeutung jenes
ursprünglichen, jenes sakralen Schauspiels, wo das mythische Geschehen als solches den
Zuschauenden als Handelnden mit in sich einschloß, und erst so zum Vollzug des
Dargestellten wurde. Wäre es auch wunderlich, derartige Maßstäbe an
[327] unsere Dramen legen zu wollen, so doch nur deshalb, weil diese sich seitdem begnügen,
entweder naturalistische Abbilder zu sein (was ihnen die Methoden ihrer Formung ja nahelegen),
oder beim lyrischen Sinnbild Ergänzung zu suchen. Nur durch das aber, was vom religiösen Ursinn
der dramatischen Handlung noch in ihnen nachwirken mag, ist ein Drama mehr als ein Lied
(sonst ist es weniger). Denn nur dadurch ist der Breite seiner Gestaltung auch alle Lyrik noch
eingesenkt; Poesie, stumm untergründend was Wort wurde, latent darunter verharrend,
und dann doch gelöst zwischen Mensch und Mensch als ein Erlebnis letzter Gemeinschaft.
Es gäbe nun noch den dritten Weg, der beschritten wird nach Dichterland: in Poesie und Prosa den des Epischen. Aber zunächst steigt er an vom Außerdichterischen, von der berichtenden, erzählenden Mitteilung praktisch-logischer Sprache, und dann, höher hinauf, durchschreitet er jedesmal das lyrische sowie das dramatische Gebiet. Freilich soll das nicht heißen: widerrechtlch oder zu Mißbrauch, er bringt damit nur eine neue, seine eigene, Poesie in Trab und Gang. Wie mir scheint, auf folgende Weise: der Lyrik geht das Epische nicht so weit nach, daß die Selbständigkeit der Gestalten sich an sie verlöre; andrerseits jedoch entspringen ihm diese auch nicht weit genug ins dramatisch Leibhafte, um aus dem Bereich des Erzählenden hinauszufallen. Er, der Erzählende, ob auch unsichtbar geworden wie der Gott hinter seiner Schöpfung, überwölbt sie dennoch mit sich wie mit einem Himmel, aus dem ihr all ihr Licht und Schatten kommt. Es ist ebenso richtig zu sagen: die epische Haltung sei die des Zurücktretens, allein darum sorgend, daß das Sachliche selbständig sich heraushebe, als auch: es erstehe erst zu einer Welt für sich, indem es unmerklich eingebettet sei in die Denk- und Fühlsweise des Dichters, der es zu umgreifen weiß. Von daher die große Spannungsweite des Epischen: vom simpelsten Bericht bis zur grandiosesten Dichtung; von daher auch das Urteil: daß sein Wert zunehme mit der Weite des Umfaßten, des sachlich wie geistig Bewältigten, und sein Ziel irgendwie das Weltenepos selber sei: gleichsam die Erzählung Gottes an uns.
Erstdruck und Druckvorlage
Das literarische Echo.
Halbmonatsschrift für Literaturfreunde.
Jg. 21, 1918/19, Heft 6, 15. Dezember 1918, Sp.325-331.
Unser Auszug: Sp. 325-327.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Das literarische Echo online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Zeitschriften_(Literatur)#529664-x
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100178380
Das literarische Echo Inhaltsverzeichnisse
URL: https://www.uibk.ac.at/iza/forschung/das-literarische-echo.html
Zeitschriften-Repertorien
Projekt
Kommentierte Ausgabe
Werkverzeichnis
Verzeichnis
Michaud, Stéphane: Lou Andreas-Salomé.
L'alliée de la vie.
Paris: Édition du Seuil 2000.
S. 347-361: Sources manuscrites.
S. 363-371: Oeuvres de Lou, par ordre chronologique.
Andreas-Salomé, Lou: Hedda Gabler und ihre Stellung
zu den Familiendramen Henrik Ibsen's.
In: Die Moderne.
Halb-Monatsschrift für Kunst, Litteratur, Wissenschaft und sociales Leben.
1891, Nr. 1, 24. Januar, S. 15-19.
Vgl. Peter Sprengel (Hrsg.): Im Netzwerk der Moderne: Leo Berg. Briefwechsel 1884 - 1891.
Kritiken und Essays zum Naturalismus. Bielefeld 2010, S. 71. Anm. 138.
Andreas-Salomé, Lou: Henrik Ibsen's Frauen-Gestalten.
Nach seinen sechs Familiendramen:
Ein Puppenheim – Gespenster – Die Wildente –
Rosmersholm – Die Frau vom Meere – Hedda Gabler.
Berlin: Bloch 1892.
URL: https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/4268314679/2/
URL: https://archive.org/details/henrikibsensfrau00andruoft [2. Aufl. 1906]
Andreas-Salomé, Lou: Ideal und Askese.
Ein Beitrag zur Philosophie Fr. Nietzsches.
In: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt.
Nr. 20, 15. Mai 1893, S. *1-2.
URL: zefys.staatsbibliothek-berlin.de/list/title/zdb/27646518
Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken.
Wien: Konegen 1894.
URL: https://archive.org/details/Andreas-Salome_1894_Nietzsche
PURL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN585105693
Andreas-Salomé, Lou: Grundformen der Kunst.
Eine psychologische Studie.
In: Pan.
Jg. 4 (1898/99), Heft 3, November 1898, S. 177-182.
URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/pan
URL: https://bluemountain.princeton.edu/bluemtn/cgi-bin/bluemtn
Andreas-Salomé, Lou: Der Egoismus in der Religion.
In: Der Egoismus.
Unter Mitwirkung von Lou Andreas-Salomé [u.a.] herausgegeben von Arthur Dix.
Leipzig: Freund & Wittig 1899, S. 383-402.
URL: https://digital.ub.uni-leipzig.de/mirador/index.php
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100524130
Andreas-Salomé, Lou: Ketzereien gegen die moderne Frau.
In: Die Zukunft.
Bd. 26, 1899, 11. Februar, S. 237-240.
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Zukunft_(Harden)
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000679567
Andreas-Salomé, Lou: Vom Kunstaffekt.
In: Die Zukunft.
Bd. 27, 1899, 27. Mai, S. 366-372.
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Zukunft_(Harden)
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000679567
Andreas-Salomé, Lou: Erleben.
In: Die Zeit.
Bd. 20, 1899, Nr. 255, 19. August, S. 120-122.
[PDF]
URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=zet
Andreas-Salomé, Lou: Lebende Dichtung.
In: Die Zukunft.
Bd. 62, 1908, 22. Januar, S. 262-267.
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Zukunft_(Harden)
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000679567
Andreas-Salomé, Lou: Expression.
In: Das literarische Echo.
Jg. 19, 1916/17, Heft 13, 1. April 1917, Sp. 783-790.
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Zeitschriften_(Literatur)#529664-x
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100178380
Andreas-Salomé, Lou:
Dichterischer Ausdruck.
In: Das literarische Echo.
Jg. 21, 1918/19, Heft 6, 15. Dezember 1918, Sp.325-331.
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Zeitschriften_(Literatur)#529664-x
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100178380
Andreas-Salomé, Lou: Des Dichters Erleben.
In: Die neue Rundschau.
1919, April, S. 358-367.
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_neue_Rundschau
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/007392290
Andreas-Salomé, Lou: Rainer Maria Rilke.
Leipzig: Insel Verlag 1928.
PURL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:061:1-4303
URL: https://archive.org/details/b30010160
Andreas-Salomé, Lou: Lebensrückblick.
Grundriß einiger Lebenserinnerungen.
Aus dem Nachlaß hrsg. von Ernst Pfeiffer.
Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1968.
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Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel Verlag 1989 (= insel taschenbuch, 1217).
Bölsche, Wilhelm: Briefwechsel. Mit Autoren der Freien Bühne.
Hrsg. von Gerd-Hermann Susen.
Berlin: Weidler 2010 (= Wilhelm Bölsche: Werke und Briefe. Briefe, 1).
Richter, Sandra: Den neuen Glauben dichten.
Louise von Salomés unbekannte Briefe an Friedrich Theodor Vischer (1880 und 1881).
Mit einem Abdruck der Originaltexte.
In: Euphorion 104 (2010), S. 17-41.
Andreas-Salomé, Lou: Lebende Dichtung.
Aufsätze und Essays.
Bd 3.1: Literatur I.
Hrsg. von Hans-Rüdiger Schwab.
Taching am See: MedienEdition Welsch 2011.
Andreas-Salomé, Lou: Lebende Dichtung.
Aufsätze und Essays.
Bd 3.2: Literatur II / Ästhetische Theorie.
Hrsg. von Hans-Rüdiger Schwab.
Taching am See: MedienEdition Welsch 2013.
Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Daniel Unger.
Taching am See: MedienEdition Welsch 2019.
Ungekürzte Ausgabe nach der Erstpublikation von 1894.
Literatur: Andreas-Salomé
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Hrsg. von Eike Brock u. Jutta Georg.
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Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (18711914).
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Hrsg. von Christoph König.
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Redlich, Julianna: Der vergessene Meinungsstifter.
Carl Busse (1872-1918). Schriftsteller, Literaturkritiker, Publizist.
Leipzig 2021.
Kap. 3.7. Engagierter Berater und Fachmann im Bereich der Publizistik.
Busses Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung der
Zeitschrift Das Litterarische Echo.
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer