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Literatur: "1913"
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Texte zur Verlaine-Rezeption
Anthologien: Moderne Lyrik
Soll eine Kritik der Lyrik schöpferisch und lebenzeugend wirken, so
muß sie ihre Maßstäbe und Wertungen in erster Linie auch von der Stelle
nehmen, wo der Zeiger auf die wahren Zentralkräfte alles Lebens und Geschehens deutet.
Das will sagen: Der Kritiker muß als erste Vorbedingung ein eigenes,
persönlich geartetes, unmittelbares Verhältnis zu den Natur- und Lebensmächten
mitbringen, die in ihrer Gesamtheit und vielfältigen Fülle den Ur- und Grundgehalt
aller notwendigen Kunst, also auch aller notwendigen Lyrik ausmachen. Wer lyrische
Werte erfühlen will, muß zunächst lebendige Werte überhaupt erfühlen können,
sonst ist er ein armer Schächer, der sich und die Welt mit Worten plagt und hat vom
Worte Gottes oder des Lebens selbst keinen Hauch verspürt.
Lyrik ist von innerer Sprachmusik erfüllte Dichtung. Lyrik ohne innere Gewalt rhythmischen
Zaubers ist ein Baum ohne Wurzel, ein Fluß ohne Quelle. Wir mögen von Phantasie,
Gefühl, Leidenschaft, Plastik, Traumhaftigkeit, Symbolik, von der subjektivsten aller
Künste und dergleichen mehr reden – haben wir es mit Lyrik zu tun,
so haben wir es ganz und gar mit Dichtung zu tun,
der ein tiefes, sprachmusikalisches Grundelement innewohnen muß. Sonst reißen
wir sie von ihrem entwicklungsgeschichtlich, biologisch und psychologisch
gegebenen Mutterboden los und hängen sie schwankend in leere Begriffsluft, wo sie vor lauter
Willkürlichkeit schließlich vollkommen verschwimmt. Wo in den verschiedenen
Gattungen der Dichtkunst, mögen sie eine Bezeichnung führen, welche sie wollen,
oder welche ihnen aus anderen Normen vorwiegend zukommt, wo nur immer, sage ich,
Stellen vorhanden sind, an denen die besondere Fügung der Worte unmittelbare
sprachmusikalische Gesetzmäßigkeit und rhythmische Kristallisationstendenz
verrät, da ist auch Lyrik. Wenn also das Epos oder das Drama irgendwie eine Verbindung
mit dieser grunddichterischen Wesensart eingeht, so lebt es und wirkt es auch vermöge des
lyrischen Elements. Und wenn andererseits dies lyrische Element sich handlungs- oder
erzählungshafter Vorgänge bemächtigt, so bildet es eben die Formen
episch-dramatischer Lyrik, die wir in allen Spielarten seit Jahrtausenden besitzen und
kennen. Hüten wir uns davor, allzu schematisch vom Begriff der Lyrik zu
reden und ihn von vorneherein zu den Begriffen des Dramas oder des Epos in
ausschließenden Fachgegensatz zu bringen. Das zieht Ketten von toten
Begrifflichkeiten nach sich, die keinen Hund vom Ofen locken, wo es sich um fruchtbare
Bewertung lebensvoller dichterischer Kräfte, Bildungen und Beziehungen handelt.
Es ist der Fluch des bloß Schematischen, mit dem Schemenhaften verwandt zu
sein – man kann in diesem Fall nicht einmal bildlich blutsverwandt
sagen, denn gerade das Blut ist es, was dem Schemen gemeinsam fehlt.
[130] Wenn ich aber an Lyrik denke, und lasse dabei für einen Moment die lyrische
Lebensflut, wie sie uns aus tausend und abertausend Dichtungen entgegenquillt,
brausend und rieselnd durch meinen Sinn ziehen, so höre ich das Blut der
Menschheit in Worten singen. Durch eine zwingende Verbindung von Worten
wird mein inneres Gehör in dem Grade gereizt, daß ich dem so seltsam
und ungewöhnlich Ausgedrückten innerlich nachhaltig lausche und den rhythmisch
vermittelten Lebensgehalt meinem Wesen mit ganz besonderer Lust vermähle.
Zur Kritik der Lyrik gehört also abgesehen von einem starken und
ausgedehnten Lebensgefühl, vor allem auch ein angeborenes und hochentwickeltes
rhythmisches Gefühl. Wer nicht hervorragend Rhythmus im Leibe
hat, soll lieber Steinklopfer werden als Kritiker von Gedichten. Es ist ihm das umsomehr
anzuempfehlen, als er bei Ausübung dieses höchst ehrenwerten Berufes die
beste Gelegenheit findet, mit gutem Willen sein rudimentäres rhythmisches Organ wenigstens notdürftig
zu entwickeln und zu lernen, wie man pochender Weise mit dem Schlägel
philosophiert. Ganz davon abgesehen, daß es beinahe einträglicher ist,
– wenn man's nur nicht so hinschludert – Steine zu klopfen als Lyrik zu rezensieren.
Zur Warnung für solche, die "kompetent" werden wollen!
Erstdruck und Druckvorlage
Die Lese.
Wochenschrift für das deutsche Volk.
Jg. 4, 1913, Nr. 9, [März], S. 129-130.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://archive.org/details/dielesewochensch1913unse
Zeitschriften-Repertorien
Mit Änderungen aufgenommen in
Werkverzeichnis
Verzeichnisse
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Der Karl Henckell-Nachlass der Stadtbibliothek Hannover.
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Einziges Ex. in: Stadtbibliothek Hannover, Sign.: Nds 399Henck2.
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Die im Literaturverzeichnis des Artikels angegebene "Karl Henckell-Bibliographie"
ist nach Auskunft des Fritz-Hüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt
"vermutlich nie erschienen" (29.01.2009).
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URL: https://archive.org/details/bub_gb_9h8tAAAAYAAJ
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Minden. Bruns.
In: Berliner Monatshefte für Litteratur, Kritik und Theater.
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URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:6:1-315081
Henckell, Karl: [Rezension zu:]
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(Breslau. Preuß & Jünger. 1884).
In: Berliner Monatshefte für Litteratur, Kritik und Theater.
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URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:6:1-315081
Henckell, Karl: [Rezension zu:]
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(Bad Oeynhausen. Verlag der Ibershoff'schen Buch- und Kunsthandlung).
In: Berliner Monatshefte für Litteratur, Kritik und Theater.
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URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:6:1-315081
Henckell, Karl: Ueber Volkslitteratur.
In: Berliner Monatshefte für Litteratur, Kritik und Theater.
Bd. 1, 1885, Heft 6, September, S. 559-571.
URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:6:1-315081
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Henckell, Karl: Trutznachtigall.
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URL: http://archive.org/details/deutschedichter00hencgoog
PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.hnva32
Henckell, Karl: Schwingungen.
Neue Gedichte.
Buchschmuck von Fidus.
Berlin: Bard, Marquardt 1906.
URL: https://archive.org/details/bub_gb_ZCItAAAAYAAJ
PURL: https://hdl.handle.net/2027/njp.32101066418839
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URL: https://archive.org/details/weltlyrikeinlebe00henc
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In: Die Lese. Wochenschrift für das deutsche Volk.
Jg. 4, 1913, Nr. 9, [März], S. 129-130.
URL: https://archive.org/details/dielesewochensch1913unse
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Neue Vorträge. Zu Leben und Dichtung.
München u. Leipzig: Hans Sachs-Verlag 1914.
URL: http://archive.org/details/lyrikundkulturn00hencgoog
PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015064542676
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URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001783097
Enthält Aufsätze und andere kleine Schriften (1882 – 1923);
alle Texte datiert, aber ohne Quellenangaben.
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer