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Wenn wir uns fragen, wer in unserer Literatur zuerst so recht mit vollem Herzen das, was Poesie ist, erfaßt und gedeutet hat, so werden wir Joh. Gottfried Herder nennen müssen. Er war der gelehrige Schüler Hamanns, des "Magus im Norden", der ihn die Poesie als die Ursprache des Menschengeschlechts begreifen lehrte. Und Herder ward wiederum der Lehrmeister Goethes, der in Tat und Wirklichkeit umsetzte, was Herder ahnte oder forderte. Dem jugendlich begeisterten Herder wohnte allezeit das feinste und schärfste Vermögen inne, in eine dichterische Schöpfung sich zu versenken, ihren innersten Lebenswert und Gehalt wie einen eigenen zu erfahren und zu erfassen; er genoß die fremde Tat, als ob er sie selbst schüfe. Er gehört nicht zu den schöpferischen Dichtern, die eine neue Welt in sich erleben und aus sich herausgestalten, aber die Welt des geschichtlichen Lebens löste sich wie ein eigenes Gedicht aus dem tiefsten Mitgefühl der Seele. 1
Es gibt kaum eine Wissenschaft und eine Literatur, die Herder nicht zu Dank für bahnbrechende Ideen verpflichtet wäre; Ästhetik, Ethik, Religions-, Kunst- und Zeitgeschichte sind durch ihn befruchtet und in neue Bahnen gelenkt worden; ja die vergleichende Literaturgeschichte und die Völkerpsychologie verdanken ihm den Ursprung. Ob er dem Geiste der ebräischen Poesie und den Stimmen der Völker, ob er der Geschichte als Erziehung der Menschheit nachgeht, ob dem Ursprunge der Sprache: überall sieht er ein Lebendiges und den tiefen Zusammenhang der Dichterkraft mit den ursprünglichen Schöpferkräften der Menschheit; auch der große Dichter der Gegenwart ist ihm ein Mythenbildner, der Schöpfer einer von leidenschaftlicher Handlung bewegten Welt der Seele; auch seine Sprache ist ein lebendes Wesen und atmet in dem leidenschaftlichen Anteil des Gefühls an den Dingen; sie ist eine Übersetzung aus der kalten Welt der Begriffe in die Lebendigkeit der unmittelbaren Anschauung durch die kühnen Analogien des Gefühls. Herder ist auch als Forscher mehr Dichter als Denker, Anreger als Vollender. Die Lieder der Völker wurden ihm zu Offenbarungen der [4] Völkerseelen, somit der Menschheit, ja der Natur überhaupt, die im Menschengenius gipfelt.
In den "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" steht er zur Welt wie sonst zu Werken der Dichtung; er hört die Melodie der Welt, sie ist wie ein Widerklang des eigenen klangreichen Herzens.
Eine großartige Geschlossenheit ist diesem Weltbilde eigen, das seine
Phantasie sich schafft. Wie so manchen Großen des Geistes kann man auch Herder
auf eine Formel zurückführen, die gleichsam den Schlüssel des ganzen
Gedankenbaues und Lebenswerkes bildet. Wie man Luthers Tat aus dem einen
Wort: "Nur der Glaube macht selig" ableiten kann, so die Herders aus der seelischen
Erfassung und Deutung des kleinen Liedes als einer Einheit von sprachlichem Leib
und einer Seele, die bedingt ist durch Zeit und Ort und Klima und eigenste
Wesenheit. Die Natur war ihm die Mutter des Lebens, die Sprache Gesang der Natur,
die wahre Poesie der notwendige Ausdruck einer Seele, eines Volkes, einer Zeit.
In diesem Mitleben und Mitfühlen der Menschheitseele und ihrer Einzelerscheinungen
liegt Herders Größe.
Er war der erste, der es unternahm, ein Dichtwerk genetisch aus seinen historischen Bedingungen heraus zu erklären, ohne in die Enge moderner Milieu- und Vererbungstheorie abzugleiten; die Seele als Individualität, das Lied als Ausdruck einer Persönlichkeit stand ihm immer in erster Linie. Ja, es trieb ihn am Ende auf eine Stufenfolge der Gedanken, die im Metaphysischen ihren Beschluß finden: das Kunstlied ist das Spiegelbild der Einzelseele, das Volkslied das des Volkes; die Stimmen der Völker sind Stimmen der Menschheit, ja die Welt des geschichtlichen Lebens, die Natur selbst wird zu einem großartigen Gedicht, das von einer – göttlichen – Seele belebt ist. Er belauscht die harmonischen Klänge, welche die ganze Schöpfung durchtönen, und sie klingen zusammen mit den Melodien seines im Mitleben und Mitfühlen seligen Herzens. Hierauf beruht seine Genialität. Kühnemann kann mit Recht rühmen, kein Mensch vor Herder habe die Menschheit so einheitlich, so allumfassend und in so tiefen Perspektiven geschaut; es ist der Adel seiner Seele, der ihn die Welt sehen läßt als das adelige Kunstwerk unermüdlicher Schöpferkräfte. Das einzigartige Ineinandergehen von Verstehen, Mitleben, Glauben, Glücksgefühl, Mahnen und Vorbilden, von Erkennen, Verkünden und Erziehen weist den großen Seher, Prediger und Lehrer auf. – "Gefühl ist alles": dies Wort des Faust paßt auf den auch sonst in vieler Hinsicht faustisch angelegten Herder (was nimmer so ausgelegt werden durfte, als habe Goethe den Faust nach dem Modell Herder gezeichnet!); Mitfühlen und Erleben: das ist seine Methode, sein Zauberstab, mit dem er aus dem Felsen Quellen [5] herausschlägt, d. h. den Dichtungen ihre Seele entlockt, so daß Ströme des Gefühls und des Lebens aus ihnen hervorbrausen.
Und alles das macht sein Gedankenwerk auch heute noch uns so sympathisch, so anregend. Sein Weitsinn hat die Weltliteratur umspannt und uns gelehrt, was echte Poesie in Ost und West ist. Humanität wurde ihm zum Inbegriff des menschlichen Ideals, denn das Gefühl für die Menschheit ist bei ihm Andacht; Gott, der Inbegriff alles Wahren und Guten, alles Lebens in Natur und Geschichte, ist ihm doch tiefstes und innerstes Erlebnis. Bei Herder ist alles Sehnsucht; darin liegt seine Stärke und seine Schwäche beschlossen; in diesem Brüchigen, Zwiespältigen, Unfertigen, in der Reizsamkeit, in dem Impressionistischen liegt das Moderne, das an ihm uns so verwandt und interessant ist, und sein Schicksal muß in seiner Tragik jeden Strebenden innig berühren. Sein so feines und weiches Menschentum erscheint – wie der kongeniale Deuter seines Wesens, Kühnemann, es wendet – als ein Opfer, das der neuen Kultur gebracht werden mußte. Solche Träger großer Sehnsucht und hoher Ansätze der Genialität sind als Vorläufer und Bahnbrecher und Ausstreuer fruchtbarster Keime ungemein wichtig und bedeutsam für den Kulturfortschritt; sie gelangen aber selbst nimmer zur vollen inneren Sicherheit ihres Wertes und zerreiben sich innerlich an Zweifeln, Enttäuschungen, Entbehrungen. Das Gefühl mag die Seele der Kunst, des kleinen Liedes sein, aber zur Erfassung der Welt und Betätigung wahrer Lebenskunst reicht es nicht aus; nur die Freiheit und Kraft objektiven Urteils verleiht Festigkeit, Glück.
Herder wußte durch scharfen Spott eines herben Lehrmeisters die Seele des jungen
Goethe aufs tiefste zu erschüttern und aufzuwühlen und in ihren Grund die Samenkörner
fruchtreichster Anregung zu senken. So schreibt Goethe (Mai 1772), als er die
"Fragmente" gelesen hat, an Herder im Hinlick auf das über die Griechen Gesagte:
"Nichts ist wie eine Göttererscheinung über mich herabgestiegen, hat mein Herz und Sinn mit warmer
heiliger Gegenwart durch und durch (mehr) belebt als das, wie Gedank' und
Empfindung den Ausdruck bildet".
In Goethe vereinten sich, wie bisher es nimmer wieder erreicht wurde, der
bewußte Kunstgedanke – der auch, wie bei Herder, gerne in das Reich des
Unbewußten und des Metaphysischen hinüberschweifte – und das in Anschauung
(Bild) und Empfindung (Seele) gleich sichere und selige Kunstschaffen. Ihm ist das
lyrische Stimmungsgedicht, das ihn überkommt, ihn überwältigt, ein liebliches
Rätsel und Wunder, indem es Leib und Seele zugleich gewinnt, indem die im Innern klingende
Empfindung
[6] harmonisch in rhythmisch bewegten Worten ausklingt; das Geheimnis des Werdens und
Wachsens aus dem Grunde der Seele herauf, diese wunderbare Durchdringung von Erleben und
Gefühl, von Gegenständlichem und Geistigem ist ihm wie alles organische Entstehen etwas
Unerklärliches (Inkommensurables).
Der junge Goethe fragt: "Was ist Schönheit?" und antwortet: "Sie ist nicht Licht
und nicht Nacht, Dämmerung, eine Geburt von Wahrheit und Unwahrheit, ein Mittelding."
Dem reifen Goethe erscheint "der Dichtung Schleier gewebt aus Morgenduft und
Sonnenklarheit". Was heißt dies anderes, als daß die Dichtung auf der
Verschmelzung von Phantasie und Wirklichkeit beruht? Die Phantasie verklärt die Welt,
indem sie Seele über sie breitet, das Sinnliche durchgeistigt, das Geistige
versinnlicht.
Und "Sonnenklarheit" soll in dem ruhigen, klaren Blick des Dichters liegen, der den Dingen auf den Grund sieht. So ist Poesie auch im kleinsten Stmmungsliede der wahre Lebensgehalt, erhoben in den reinen Äther des tiefen Gefühls oder der Idee, die alles Niedrige überwindet und in ihrem Feuertiegel umschmelzt.
Für Goethe ist
"die Gelegenheit",
der lebensvolle Augenblick, das von einer
Empfindung volle Herz die Quelle der Lyrik; er dichtet nur, wenn es ihm auf den Nägeln
brennt, wenn die Last in Lust und Leidenschaft ihm drückend wird. Die Dichtung ist
ihm Befreiung, Bekenntnis. In Sprüchen und Gesprächen hat Goethe vielfach Werden
und Wesen des künstlerischen Schaffens gedeutet. Dies ist ihm im weitesten Sinne
Ausstrahlung des inneren Lebensgefühls, Umbildung der inneren und äußeren
Eindrücke durch die Phantasie und somit auch wechselseitige Übertragung
von Sinnlichem und Geistigem. "Alles, was wir Erfinden, Entdecken in höherem
Sinne nennen" – so heißt es in dem Spruche 903 –, "ist eine
aus dem Inneren am Äußeren sich entwickelnde Offenbarung, die den
Menschen seine Gottähnlichkeit (Schöpferkraft) ahnen läßt. Es ist eine Synthese
von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste
Versicherung gibt".
Alle Kunst ist sinnlich wahrnehmbar gewordener Geist. Die Spiegelungen der Außenwelt in den Sinnen und in der Phantasie – d. h. die äußeren Wahrnehmungen – und das innere Erleben, das in mannigfachster Art das Herz bedrängt, klingen zusammen und werden Wort in der Poesie. 1 Das Lebensgefühl – das Erleben – ist so stark und mächtig, es muß ausströmen, [7] austönen in Klang und Wort und Bild, und in diesem Ausgestalten des Innenlebens ist alles künstlerische, also auch das dichterische Schaffen beschlossen.
"Ich empfing" – sagte Goethe zu Eckermann (6. Mai 1827) – "in meinem Innern Eindrücke, und zwar Eindrücke sinnlicher, lebensvoller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine rege Einbildungskraft es mir darbot; und ich hatte als Poet weiter nichts zu tun als solche Anschauungen und Eindrücke in mir künstlerisch zu runden und auszubilden und durch eine lebendige Darstellung so zum Vorschein zu bringen, daß andere dieselben Eindrücke erhielten, wenn sie mein Dargestelltes hörten oder lasen."
Über solche Anschauungen und Deutungen dürften wir auch heute noch nicht
hinausgekommen sein. Was Goethe
"Gelegenheit"
nennt, bezeichnet die herrschende Gefühlsästhetik als "Erlebnis", und
was Goethe hier von inneren und äußeren Eindrücken sagt, ist ja auch
nichts anderes als 'Erlebnis', und die Erfassung durch die Seele des Hörers
und Lesers soll ja auch ein Gleiches oder ein Ähnliches werden, d. h.
ein "Erlebnis" in nachbildender Form.
Für Schiller ist mehr der Gedanke als Anschauung und Gefühl das "Erlebnis",
das zur Gestaltung treibt, aber auch er preist den Augenblick als das
Schöpferische; der "gebietenden Stunde" muß der Dichter gehorchen.
Doch nicht das Stimmungsgedicht war ihm das Höchste, ja er verwarf sogar so
persönliche Gedichte, wie "Die Ideale"; das Allgemeine, die Idee, galt ihm höher
als das Empfinden der Einzelseele. Das schöne Wort aber, das er in anderem Sinne
geprägt hat: "Es ist der Geist, der sich den Körper baut", gilt von seiner
gewaltigen, von Ideen beseelten Dichtung ganz besonders.
Eine solche Synthese von Geist und Welt, wie sie in dem künstlerischen Erleben und Schaffen sich kundgibt, findet am letzten Ende ihre Erklärung darin, daß wir von der Außenwelt nichts anderes wissen, als was unsere Wahrnehmungen uns bieten und die Vorstellungen aus diesem formen, so geht die Wirklichkeit durch das Medium unserer Sinne hindurch und wird umgebildet in unserem Geiste nach dessen Gesetzen. In der Poesie strömt das Lebensgefühl auf die Außendinge über und gestaltet diese zu einem anschaulichen harmonischen Bilde um, denn
Wodurch bewegt der Dichter alle Herzen?
Wodurch besiegt er jedes Element?
Ist es derEinklangnicht, der aus dem Busen dringt,
Und in sein Herz die Welt zurücke schlingt?
Der echte Dichter vermählt das Leben, das er draußen beobachtet hat, mit
dem, was er drinnen im Herzen erlebt hat, und "ruft das einzelne
[8] zur allgemeinen Weihe", indem er das Persönliche (Individuelle) zu etwas
Allgemeinem (Typischen) emporhebt, um jedem empfänglichen Geiste verständlich zu sein.
Vischers ganze Ästhetik ruht auf solcher "Synthese von Geist und Welt",
auf dem Einklang von Subjekt und Objekt, Natur und Geist. Das Schauen des Künstlers
ist vom Beseelen nicht zu trennen, und wie Goethe in den Paralepomenis zum Faust
"das Einfühlen in die ganze Natur" vom Künstler fordert, so sagt auch Vischer:
"Der Dichter wird der Natur ein Auge geben, daß sie geistig blicke, und einen
Mund, daß sie rede." Besonders tief und groß ist Vischers Abhandlung
über "Das Symbol" (Aufsätze zum 50 jährigen Doktorjubiläum, Ed. Zeller gewidmet).
Unsere moderne Ästhetik (von Vischer bis Lipps und Volkelt) ist psychologisch, ist Gefühlsästhetik, gegründet auf Einfühlung. 1
Unter den neueren Dichtern hat kaum einer das Wesen der lyrischen Kunst schärfer und
strenger gefaßt und gedeutet als Theodor Storm; ja, in seiner Strenge,
die eigentlich nur als reine Lyrik das volksliedartig klingende Stimmungsgedicht
gelten läßt, z. B. bei Keller und Meyer daher nur weniges als vollgültig
ansieht, nennt er sich in einem Briefe an Keller "im Punkte der Lyrik einen
mürrischen griesgrämigen Gesellen".
In der vortrefflichen Vorrede seines nicht minder vortrefflichen "Hausbuches aus deutschen Dichtern seit Claudius" sagt Storm: "Wie ich in der Musik hören und empfinden, in den bildenden Künsten schauen und empfinden will, so will ich in der Poesie, womöglich alles drei zugleich. Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden; am vollendetsten scheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht."
Storm geht zu weit, wenn er dem noch so bedeutenden Gedankengehalt in der Poesie
die Berechtigung abspricht; mit tiefem Verständnis für seine eigene Kunst fordert
er aber, daß das Gedankenhafte durch das Gemüt und die (personbildende,
metaphorische) Phantasie seinen Weg nehme und dort Wärme und Farbe und womöglich
körperliche Gestalt gewönne. Storm hat recht, wenn er sehr viel kalte Rhetorik
und Reflexion in unserer Lyrik
[9] findet und die hohe Kunst selten nennt, den Gehalt in knappe und zutreffende
Worte auszuprägen – wobei ein falscher und pulsloser Ausdruck die
Wirkung des Ganzen zerstören könne – und diese Worte durch die rhythmische
Bewegung und die Klangfarbe des Verses gleichsam in Musik zu setzen und
solcherweise wieder in die Empfindung aufzulösen, aus der sie entsprungen sind,
d. h. also Anschauung (Bild) und Empfindung und Rhythmus in eins zu
schmelzen. Auch er betont:
"Wert und Wirkung eines Gedichtes werden davon abhängig,
daß sich die individuellste Darstellung mit dem allgemeingültigsten Inhalt
zusammenfinde; die besten lyrischen Gedichte sind daher auch unmittelbar aus der vom
Leben gegebenen Situation heraus geschrieben worden."
Und ein halbes Jahrhundert, ehe das "Erlebnis" zum Angelpunkt der Ästhetik des
lyrischen Liedes gemacht wurde, schrieb er: "Bei einem lyrischen Gedicht muß nicht
allein wie in der übrigen Poesie das Leben, nein, es muß das Erlebnis
das Fundament desselben bilden."
1
"Lebendiges Gefühl der Zustände und Fähigkeit, sie auszudrücken, macht den Poeten",
sagt Goethe.
Solche Gedanken sind die Leitsterne in den Aufsätzen Wilhelm Diltheys geworden;
zuerst veröffentlichte er den höchst anregenden Aufsatz in der Zeitschrift für
Völkerpsychologie
"Über die Einbildungskraft der Dichter",
mit Rücksicht auf Hermann Grimms Goethe-Vorlesungen (S. 42 bis 104); dort hieß es
u. a.: Die Phantasie baut ihre Gestalten aus der äußeren und aus der inneren
Erfahrung auf; die Grundform der dichterischen Einbildungskraft besteht in der Gestaltung
des in der Erfahrung Enthaltenen unter der Einwirkung einer bestimmten Art
affektiver Verfassung; Wiedererinnerung ist zugleich Metamorphose – die Reproduktion
selber ist ein Bildungsprozeß; die Fähigkeit, sich in voller Schärfe der
Erlebnisse zu erinnern, frühere Empfindungen und Stimmungen wieder lebendig werden zu lassen,
ist eine der wichtigsten Funktionen in der Phantasie des Dichters. – Bedeutend
vertiefte diesen Aufsatz Dilthey in den "Aufsätzen", Ed. Zeller zu seinem 50 jährigen
Doktorjubiläum gewidmet (Leipzig 1887), unter dem Titel: "Die Einbildungskraft des Dichters.
Bausteine zu einer Poetik." Die inhaltschwere Arbeit, die ebenso tief bohrt, wie sie
in die Weite ausgreift, ist eigentlich der erste wahrhaft wissenschaftliche Versuch einer
elementaren Psychologie des dichterischen Schaffens; so bietet sie (S. 336 f.) eine
"Beschreibung der Organisation des Dichters" und findet diese in der größeren
Energie gewisser seelischer
Vor[10]gänge, d. i. besonders der Fähigkeit, Wahrnehmungsbilder aufzunehmen und
Erinnerungsbilder zu reproduzieren, sowie der Kraft, seelische Zustände, selbsterfahrene,
an anderen aufgefaßte, folgerecht ganze Begebenheiten und Charaktere, wie sie in
der Verknüpfung solcher Zustände bestehen, nachzubilden"; S. 351 bis 400 folgt sodann
der "Versuch einer psychologischen Erklärung des dichterischen Schaffens", welcher eine Fülle
tiefsinniger Gedanken enthält, wenngleich die erforderte Knappheit die Erörterungen
nicht leicht verständlich und bisweilen abstrakt erscheinen läßt.
1
Allbekannt ist heute Wilhelm Diltheys Werk "Das Erlebnis und die Dichtung", in dem er die früheren Aufsätze zusammengearbeitet hat, vor allem in dem Abschnitt "Goethe und die dichterische Phantasie", die übrigen behandeln Lessing und Novalis und – in besonders herrlicher Weise – Hölderlin.
Fragen wir uns einmal: Wie ist es überhaupt gekommen, daß das Wort "Erlebnis" zum
Schlagwort unserer Zeit geworden ist, so daß man den religiösen Menschen als
solchen bezeichnet, der seinen Gott in sich "erlebt" hat, daß man die Natur
– Meer – Gebirge – Wald – oder ein Buch oder ein Gedicht nur dann
voll zu würdigen und zu verstehen vermag, wenn es einem zum "Erlebnis" geworden ist? Es gab
eine Zeit, und diese liegt noch nicht lange zurück, da war "Milieu" das Zauberwort, das
alles Geistige erklären sollte, das Wesen und das Werden der Persönlichkeit; schon
Goethe verspottete diese Vererbungstheorie; erst der Franzose Taine brachte sie in ein System,
und dies entsprach dem Darwinschen Entwicklungsgedanken; es schien so einfach, den Menschen
aus seiner sozialen, sittlich-religiösen, geistig-wissenschaftlichen, landschaftlich-klimatischen
"Umwelt" abzuleiten; selbst Genies glaubte man auf eine Formel, auf das Produkt
aus den Verhältnissen zurückführen zu können. Davon schillert in der Übertreibung des
Begriffes "Erleben" etwas nach; die Persönlichkeit
[11] wird durch die Umwelt, die Dichtung durch das Erleben bedingt; aber so gewiß
der Kern der genialen Persönlichkeit bei solcher mechanischen Rechnung nicht restlos aufgeht,
sondern in seiner aus dem Eigensten schaffenden, neue Lebenswerte erzeugenden Kraft
bestehen bleibt, so gewiß ist auch die Dichtung nicht nur ein Niederschlag des
äußeren und des inneren Lebens, sondern bleibt eine schöpferische Tat; das wahre
Erleben ist nicht ein bloßes passives Empfangen, sondern ein Er-leben ist ein
Erringen von etwas Bedeutsamem und Wichtigem und Neuem, und das beruht auf dem Empfinden,
auf der seelischen Teilnahme, mit der es zum geistigen Besitztum erhoben und mit dem vorhandenen
Seelengehalt verbunden und verschmolzen wird. Aller Anfang der Weisheit beginnt nach Plato mit dem
Staunen, und wie der wahre Philosoph, so kommt auch der echte Poet, der mit offenen
Augen und warmem Herzen in die Welt schaut, aus dem Staunen und Sichverwundern nicht heraus.
So sagt bei Frenssen der Heim Heiderieter, wenn er über die Heide geht: "Nun soll mich
bloß wundern, was ich heute noch erlebe." – Hier liegt eben das Geheimnis des
genialen Menschen. Er sieht und hört nicht bloß die Alltagswelt, die dem Dutzendmenschen
erscheint: jede Stunde, jede Begebenheit bietet ihm ein besonderes Erlebnis, kündet oder
löst ihm ein Rätsel. Mit den Außenbildern verbinden sich im Innern Ideen, geheimnisvolle
Beziehungen weben von diesen zu jenen, von jenen zu diesen hinüber. Er sieht der Natur ins Herz,
er leiht ihr seine Seele, er deutet den Zauber der ziehenden Wolken, sie werden von Sehnsucht und
Abenteuerlust erfüllte Wesen, er deutet den Donner der Wogen, die leuchtenden Blitze;
jedes Menschenantlitz wird ihm zum "Erlebnis": das Kindesauge strahlt ihm den Frieden der
Unschuld und Unbefangenheit wider, die festen Züge des Mannes verraten ihm Kampf und Sieg,
und die tiefen Furchen in dem Angesicht des Greises sind ihm die Spuren von Sorgen und
Enttäuschungen und Entbehrungen, kurz, es gibt nichts – und wäre es nur eine Knospe –,
das nicht zum Erlebnis, zu einem inneren Gewinn, ja zu einer Entwicklungsstufe seines
Charakters werden könnte. Nichts ist ihm fremd, weil er mit dem Auge des Herzens, mit
"Anteilnahme" (Sympathie), mit Liebe alles erfaßt und deutet. "Und hätte ich der Liebe
nicht, so wäre ich ein tönend Erz." Aber es kann auch der Haß, die Erbitterung und die
heilige Entrüstung die Erfahrung zu einem "Erleben" steigern. Der Dichter schöpft eben aus der
Fülle des Lebens; dieses wird für ihn reich, wenn es anderen arm und dürftig
erscheint; ihm ist alles wertvoll, weil er es in den Zusammenhang seines reichen Innenlebens bringt;
sein Auge trinkt unermüdlich "vom goldenen Überfluß der Welt".
Und gerade der Herbst in seinem überschweren Fruchtreichtum und dem trunkenen Schwärmen
und Summen der Wespen um die Früchte wird
[12] ihm (wie C. F. Meyer: "Fülle") zum Sinnbild des Dichtersinnes, der alles
Geschehen und Sein mit der Liebe des Verstehens – mit dem Verstehen der Liebe
– umfängt und nimmer genug finden kann.
Genug ist nicht genug! Mit vollen Zügen
Schlürft Dichtergeist am Borne des Genusses,
Das Herz, auch es bedarf des Überflusses,
Genug kann nie und nimmermehr genügen!
In jedem Dichter wird das Leben, die Welt neu geboren. Das Erleben im künstlerischen Sinne ist ein Neuschaffen; wie anders sah ein Böcklin das Meer und die Landschaft im Vergleich zu Claude Lorrain oder Ruisdael. Die Natur befindet sich in ewiger Menschwerdung, sagt Jean Paul; sie wird für den Schauenden beseelte Materie, schlummernder Geist, belebt in allen ihren Erscheinungen. Inder und Ägypter und Griechen sahen mit völlig verschiedenen Augen in die Außenwelt. Das Erleben setzt voraus, daß der Geist das Aufgenommene durch sich hindurchgehen läßt. Es steht im Gegensatz zum Ererbten und Überkommenen (Konventionellen), es ist Fremdes, das zu eigen gemacht wird; der ist kein echter Lyriker, der nicht auch seine Sprache erlebt hat, d. h. die Fähigkeit, seinen eigenen Gedanken und Empfindungen auch einen eigenen Ausdruck zu leihen, und dieser grüßt uns dann in Neuprägungen – man denke an Klopstock, Goethe, Mörike u. a., in eigenartigen Vergleichen und Bildern und Metaphern, die das Zusammenrinnen von Geist und Welt, Herz und Natur in besonderer (individueller) Weise widerspiegeln. Eine neue Natur und Geistesgewalt ersteht in dem echten, großen Dichter, und mit ihr das Vermögen, abseits von epigonenhaftem Geleier und übermittelter Technik in neuen Rhythmen und Formen das innerlich Erlebte ausklingen zu lassen, so daß wir unser Wesen von einer anderen Kraft bezwungen und uns selbst bereichert fühlen.
Wie das Kunstwerk aus dem geheimnisvollen Zusammenrinnen und Zusammentönen von Geist und Welt geboren wird, so muß auch das Auffassen nicht ein Aufnehmen passiver Art, sondern ein Verschmelzen mit dem Eigensten sein und zum Nachschaffen werden.
Dazu verhilft ein Doppeltes: man muß hinsichtlich des Allgemeinen, das ein Gedicht enthält, Ähnliches erlebt oder erlitten haben, und man muß hinsichtlich des Besonderen, das dem Dichter den Anstoß bot oder ihm keine Ruhe ließ, Kenntnis und nachfühlendes Verständnis gewonnen haben. Nur ein Tor kann leugnen, daß ein tieferlebtes Gedicht nur dann seine volle Erfassung und Deutung findet, wenn man es auf ein besonderes Erlebnis zurückführen kann. Wer möchte dies bei Goethe in Abrede stellen, ob wir an "Heidenröslein", "Gefunden" oder "Willkommen und Abschied" oder an Zeilen wie "Ach, ich bin des Treibens müde!" denken.
[13] Reicher und voller wird die Stimmung, die wir in uns zum Einfühlen und Nachfühlen erzeugen, sobald wir beim Dichter das Bekenntnis aus dem Erlebnis abzuleiten wissen. Ganz in der Allgemeinheit schwimmende Lyrik wird matt und farblos, wie so oft bei Geibel.
Und so lange der Lehrer nicht selbst des Dichtergeistes voll ist, den er deuten soll, nicht sich seiner Seele, seiner Stimmung, seinem Erleben nahe und verwandt fühlt, wird er nicht den rechten Ton treffen, der zum Herzen des Schülers dringt. Durch den Schall und Fall der Worte muß die seelische Erregung mitschwingen; ein Gedicht, wohl vorgetragen und erlauscht – nicht zugleich in der Druckerschwärze mit dem Auge erfaßt –, wird nur dann beim Hörer zum Erlebnis, wenn Begeisterung und Freude, Schmerz und Verzweiflung, Klage und Trauer des Dichters auch den Nachdichter erfüllt. Nur der Ergriffene kann wieder ergreifen, der Durchglühte zünden.
Die echte, rechte Jugendseele will durchrüttelt sein, sie lechzt nach Leben,
Anschauung, Bild, Farbe, Wärme. Grau und starr ist ihr das nur Gedankenhafte.
Wertvolle Kräfte weckt im Schüler nur das, was aus der Fülle der Kraft des ganzen
Menschen hervorwächst, der als Lehrer und als Erzieher und als Persönlichkeit
vor ihm steht. Dann werden straff auch die schlaffen Saiten des Knabenherzens in der
heilsamen Schwingung, das Blut gerät in Wallung, und das Auge – blitzt.
Welchen schöneren Erfolg kann der Lehrer haben? Er muß gerade in der
deutschen Stunde, wo das edelste Gut deutscher Dichtung den Knaben erschlossen
werden soll, den Weg zum Herzen finden, die gebundenen Kräfte lösen, den
etwaigen Hemmungen nachgehen, das Gestrüpp, das emporgewuchert war, beseitigen,
das Duckmäusigere, Befangene, Ängstliche verscheuchen und in Mut und frohe
Zuversicht umwandeln, die träge Zunge lösen, aber auch der üppigen Phantasie
Zügel anlegen – denn das Entwicklungsalter ist ja die Zeit der unbegrenzten
Möglichkeiten. Wie es große Kunst erfordert, dem Gefühlsleben der Dichter
bis in die geheimen Gänge nachzugehen, so noch mehr, die Jugend in diese hinabzuleiten,
und es wird den tatenlustigen, für Abenteuer glühenden Herzen am leichtesten zu
erschließen sein, wenn es sich in Weltdrang und Leidenschaft verbindet.
Aber für tiefere Naturen wird auch das Wort Hamanns "die Poesie ist die Ursprache
des Menschengeschlechts" zu einem Erlebnis werden wie für Herder und Goethe, und
es wird vielleicht Zeiten auch für sie geben, wo sie sich bewußt werden,
im Traum oder im Glücksgefühl, in Andacht und Freude Dichter zu sein, Stunden, wo
das Herz jaucht und überschäumt und das Leblose belebt – wie Goethe im "Mailied"
oder im "Willkommen und Abschied". Und ist dem auch nicht so, so wird ein
gesund und kräftig Empfindender doch
[14] sine Freude daran haben, fremdes starkes Leben mitzuerleben und nachzufühlen
und somit Ewigkeitswerte zu gewinnen.
Wahres Leben heißt Entfaltung aller Kräfte – und wer möchte leugnen, daß in einer Ballade, in einem dramatisch bewegten Liede starke Lebensenergie sich kund tue, ja, daß in engem Rahmen ein Spiegelbild des großen Menschendaseins sich uns zeigen könne? Je mehr ein Lehrer aus seinem inneren Leben schöpfen kann, um Welt und Begebenheiten zu deuten, desto mehr wird sich ihm die Seele eines Gedichtes erschließen und er die Fähigkeit gewinnen, es der Jugend faßbar zu machen. Das wird freilich auf den verschiedenen Stufen sehr verschieden sein. 1
Es ist die schwerste Kunst des Lehrers im Deutschen, das Verständnis und die Aufnahmefähigkeit seiner Schüler abzumessen und die rechte "Einstimmung", d. h. die Bereitung der Stimmung vor Darbietung des Gedichtes zu gewinnen. Vieles, was uns Ältere ergreift, die wir nach der Kindheit uns zurücksehnen, die wir die Natur suchen als ein verlorenes Paradies oder als eine Mutter, die uns tröstet, die wir, vom Leben durchgerüttelt und durchgeschüttelt, Entbehrung und Enttäuschung und Sorge haben ertragen müssen: das ist – Gott sei Dank! – der Jugend noch fremd; so ist ein großes Stück Lyrik der Sehnsucht für sie unverständlich, ungenießbar, langweilig. Und doch wäre es verkehrt, alle Stimmungspoesie ihr [15] vorzuenthalten und nur von Taten und tatkräftigen Männern die Dichter ihnen erzählen zu lassen. Es gilt, sie auch hinauf- und hinabzureißen, in die Höhen und in die Tiefen. Aber es fordert scharfe Beobachtung der jeweiligen Psyche einer Klasse und sehr geschickte Vorbereitung.
Dann kann der Knabe das auch schon empfinden, daß in einem Liede etwas durch Wort und Klang zum Ausdruck gelangt, was in Freude oder Schmerz oder Ahnung schon so oder so durch seine Seele gezogen ist. Er nimmt es vielleicht hin, wie er den Frühling ohne Grübeln hinnimmt und die blühenden Kirschbäume oder noch lieber die saftigen Kirschen, von denen er genau weiß, daß sie nicht nur lieblich anzusehen, sondern auch zu verschmausen sind. Manches Gedicht aus der Natur mag, ohne jede Erläuterung, seine Seele streifen wie ein sanfter Wind oder mag ein Körnchen Empfindung in sie streuen, das vielleicht erst spät aufgeht. Gerade in unserer Zeit, die der Jugend so viele Genüsse zu früh und in prickelnder Form bietet (ich denke an Buchläden, Kinos, Theater, Tanzbelustigungen usw.) ist es wichtig, die Freude am Einfachen und Schlichten und doch Bedeutsamen in Naturleben und in der Kunst zu wecken und zu nähren.
Die Ehrfurcht und Scheu vor dem Werden und dem Gewordenen, das Staunen wie über das Große so auch über das Kleine und Geringe, die Liebe zu allem Lebendigen, die Andacht vor den Geheimnissen, die dahinterliegen: alles das in empfänglichen Kindesgemütern wachzurufen, ist eine herrliche Pflicht, aber oft unendlich schwierige Kunst. Freidank sagt vorahnend das Goethische Wort: "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis":
Die Erde keine Gattung trägt,
In die nicht ein zweiter Sinn gelegt;
Alles Erschaffne, daß ihr's wißt,
Meint auch ein andres, als es ist.
Dieses Ahnungsvolle, Unnennbare muß die tieferen und stilleren Naturen
durchzucken; sie müssen in dem Gefühl erschauern: da tut sich etwas Geistiges
auf, in dessen Tiefe du noch nicht zu dringen vermagst; aber es ist da,
und du wirst es mehr und mehr erfassen und deuten. Gewiß ist Jugend noch
ganz Hingabe an den Augenblick oder Erwartung und Begierde (oft rohe, ungezügelte),
aber neben solchen und neben den Wagner- und Antonio-Naturen gibt es auch faustische und
herderische, und die dürfen vor dem platten Mittelgut nicht zu kurz kommen. Man
muß tasten, erproben, ob Seele sich zu Seele findet, ob ein Kunsterlebnis
zu vermitteln möglich ist.
Jeder Knabe wird schon seine Freude an einem Nest mit Vogeleiern, der brütenden Vogelmutter und dann den piependen Kleinen gehabt haben, [16] so daß es ihn anmutete wie ein Heim harmlos glücklicher Lebewesen. So wird er nachempfinden die Zeilen von Julius Lohmeyer:
Ein kleines Nest! O sagt mir an,
Was uns so herzig rührt daran!
Ein Kranz von Halmen its's doch bloß,
Drin weiche Flöcklein Hanf und Moos,
Ein Ährenhalm, ein Borkenstück
Und – eine ganze Welt voll Glück.
Ein Knabe, der an Gedichten wie "Jung Siegfried", "Schwäbische Kunde" oder "Einkehr" oder "Die Gäste der Buche" oder an einem "Morgen"- oder "Abend"- oder "Frühlingsgesang" sich erfreute oder begeisterte, ein Jüngling, den die wenigen Zeilen "Über allen Gipfeln" oder "Gefunden" tief ergriffen haben, wird verstehen, was Marie von Ebner so ahnungsreich andeutet:
Ein kleines Lied, wie geht's nur an,
Daß man so lieb es haben kann?
Was liegt darin? Erzähle!
Es liegt darin ein wenig Klang,
Ein wenig Wohllaut und Gesang
Und eine ganze Seele.
Sollten diese köstlichen Zeilen nicht eine Ästhetik des Liedes in nuce bilden können, für die Erfassung und Deutung der Lyrik in der Schule, von den unteren Stufen bis zu den höheren aufwärts? Vor den Ohren der Hörer muß das Lied klingen, sich wiegen in Wohllaut und getragen sein von der inneren Melodie. Der Lehrer trage frei aus dem Kopfe (nicht mit der Nase im Buche) innerlich ergriffen ohne schauspielerische Geziertheit, vor – sei es "Heidenröslein", "Über allen Gipfeln", "An den Mond", "Die linden Lüfte sind erwacht", "Das macht, es hat die Nachtigall", "Schön Rohtraut", "Früh, wenn die Hähne krähn", "Das aber kann ich nicht ertragen" – und wer nennt alle die Perlen herrlichster deutscher Dichtung – dann muß auch der stumpfere Knabe oder Jüngling es spüren, wie Wortkunst zu Gesang wird, wie die Rhythmik der Sätze und der einzelnen Wörter sich dem Stimmungsgehalt anschmiegt, wie so scheinbar Formales untrennbar vom Stimmungsgehalt ist, wie sich innere und äußere Form durchdringen und verschmelzen. Er spürt etwas von Laut- und Klangsymbolik bei den Drommetenstößen in "Es braust ein Ruf wie Donnerhall", und es durchschauert ihn bei der wundervollen Wirkung der Alliteration und der Wiederholung, wie in den Zeilen: "Der Regen rann – wir ritten hindann und dachten der Toten, der Toten". Und hat er jemals den "Archibald Douglas" singen hören, so wird er nimmer die Harmonie aus dem geistigen Ohr verlieren, die von Löwe zwischen Vers und Wort- und [17] Stimmungston einerseits und dem musikalischen Stimmungston anderseits erreicht worden ist.
Wie verschieden der Sprachrhythmus in Prosa und Poesie bei den einzelnen Dichtern ist, das läßt sich doch schon hie und da in der Schule zeigen, im Anschluß an die bedeutenden Werke von Meumann, Sievers, Köster, Minor, Saran usw. – "Und eine ganze Seele"!
Kunst ist Form, aber Kunst ist vor allem Seele. Und welche ist seelenvoller als
die Lyrik? Ein von einer Empfindung übervolles Herz klingt aus im Liede, ob von
Jubel oder Trauer, von Sehnsucht oder Glück. Man kann es der Jugend klarmachen, wenn man vom
Alltäglichen ausgeht. Man erinnert daran, wie ein Armer, Bedrängter, Hilfloser, plötzlich
durch eine Tat des Mitgefühls gerettet wird und wie seine ganze Seele in dem dankbaren
Blick, in dem dankbaren Worte sich ausdrücken kann. Oder man erinnert an das kurze Telegramm
Wilhelms I. an seine Gemahlin nach dem Falle von Sedan, an das Wort: "Welche Wendung
durch Gottes Fügung!" Darin liegt eine ganze königliche und doch menschlich demütige
Seele, eine ganze Welt- und Lebensauffassung. Und so drängt der Dichter mit der
Kraft der Verdichtung auch im Wort das, was sein Herz schwellen läßt in
heißem Gefühl, oft zu wenigen Zeilen oder Strophen zusammen. Oft erfordert es daher auch
die Kraft lebendigsten Nachfühlens und Nacherlebens, um dem Liede und dem Dichter auf
den Grund der Seele zu dringen. "Gedichte sind gemalte Fensterscheiben", mahnt Goethe
mit Recht.
Was fehlt nun aber doch in der Begriffsbestimmung der seelenkundigen Dichterin? Es ist gewiß herrlich zu sagen: Das Lied ist Gesang und eine ganze Seele. Aber nehmen wir das "kleine Nest" als Muster und "eine Welt", so ist auch das kleine Lied eine Welt, aber nicht bloß Innenwelt, sondern auch Außenwelt. Es schafft ein Bild vor unser inneres Auge; wohl ist dies nur ein Phantasiebild, es kann sich in Formen und Farben nicht mit dem des Malers messen, doch in dem Wort liegt auch eine Zauberkraft, blitzartig eine Vorstellung in uns wachzurufen. "Das Meer erglänzte weit hinaus –", wer je am Ufer gestanden hat und die weite Fläche im Sonnenlcht erstrahlen sah, den durchbebt es bei dieser Zeile. Denn das bleibt immer das Eigentümliche echter, starker Dichtkunst: sie versieht alle Anschauung, alle Vorstellungsbilder mit einem Gefühlston oder – um im verwandten Bilde zu bleiben – mit der Farbe innigen Gefühls. Denn die Seele muß das Bild mit Empfindung durchtränken. Die Vorgänge des menschlichen Lebens sind durchglüht von Mitgefühl; man kann das alles nur metaphorisch umschreiben, und wenn wir auch nur sagen: sie sind durch eine Dichterseele hindurchgegangen; diese ordnet das Verworrene und drängt das Einzelne zusammen, adelt das Stumpfe, erhebt und steigert [18] das Matte, gleicht Gegensätze aus, durchgeistigt das Stoffliche, beseelt die Natur in geheimnisreicher Sympathie. 1
Dies kann man der Jugend leicht veranschaulichen an "Einkehr" von Uhland oder an dem "Birkenbäumchen" von Falke, da es an ein Erlebnis anknüpft:
Ich weiß den Tag, es war wie heute,
Ein erster Maitag, weich und mild,
Und die erwachten Augen freute
Das übersonnte Morgenbild.
Der frohe Blick lief hin und wider,
Wie sammelte er die Schätze bloß?
So pflückt ein Kind im Auf und Nieder
Sich seine Blumen in den Schoß.
Da sah ich dicht am Wegessaume
Ein Birkenbäumchen einsam stehn,
Rührend, im ersten Frühlingsflaume,
Konnt' nicht daran vorübergehn.
In seinem Schatten stand ich lange,
Hielt seinen schlanken Stamm umfaßt
Und legte leise meine Wange
An seinen kühlen Silberbast.
Ein Wind floh her, ganz sacht, und wühlte
Im zarten Laub wie Schmeichelhand.
Ein Zittern lief herab, als fühlte
Das Bäumchen, daß es Liebe fand.
Und war vorher die Sehnsucht rege,
Hier war sie still, in sich verhüllt;
Es war, als hätte hier am Wege
Sich eine Seele mir enthüllt.
So strömt das Lebensgefühl des Dichters auch auf die leblose Pflanzenwelt über, und er spürt ein Verwandtes selbst im Bäumchen, das sich im Winde wiegt. 2
[19] Ja, dem Dichter gibt ein Gott die Kraft, "die Natur zu fühlen, zu genießen",
vergönnt ihm "in ihre tiefe Brust, wie in den Busen eines Freundes zu schauen", und lehrt
ihn, seine "Brüder im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen". In diesem
Gefühle selig ist Faust, aus ihm spricht Goethe, nicht minder aus den Briefen
Werthers (vor allem aus dem des 10. Mai).
Es ist wundersam, wie ein und dasselbe Gedicht in der einen Stunde uns kaum etwas sagt und wie wir in einer anderen nicht wieder loskommen können, wie zwischen den Zeilen so viel Erinnern und selige Gegenwart und frohes Hoffen ineinanderklingt, daß wir entzückt und berückt sind. Es ist eben ein Gedicht der Gedanken- und Gefühls-, der Erlebnisniederschlag einer schöpferischen Stunde, und wer nicht in ähnlicher Stimmungslage seine Seele schwebend hält, der bleibt unberührt und ungerührt.
Man muß das bei der Darbietung eines Gedichtes wohl bedenken und auch der Jugend nicht verhehlen.
Ich fand immer, daß es die Schüler besonders fesselte, wenn ich erzählte, wie mir selbst Gedichte zum Erlebnis wurden, wie erst eigene Erfahrung und die entsprechende Umgebung, also die unmittelbare Anschauung und die durch sie erregte Stimmung den Schlüssel zum tieferen Verständnis mir boten, so daß eigenes Empfinden mit dem Phantasiespiel der tiefsinnigen Seelengeständnisse des Dichters zusammenfloß. Schauen und Seele leihen dem Unbeseelten, Sinnbilder des Ewigen in der Flucht der Erscheinungen finden: das sind die Grundbedingungen für die künstlerische Erfassung der Welt, das spürt, wer inmitten der Herrlichkeit der Natur die Poesie als ihre Spiegelung betrachtet und bewundernd genießt.
[20] Wie ich dies tat, wie ich den Gesang des Meeres genoß und Meereslieder der Dichter innerlich "erlebte", davon möchte ich nunmehr berichten.
Es war um Pfingsten d. J. herum, da weilte ich wieder, wie schon so oft, an der holländischen Küste, in dem idyllischen Noordwijk aan Zee, und das Meer sang mir sein uraltes, ewig junges Lied in den mannigfachsten Variationen, und ich ward nicht müde zu lauschen. Es liegt ein eigener Zauber gerade über diesem Fleckchen Erde und Meer. Wer im Hochsommer aus den lärmenden Badeplätzen wie Ostende, Blankenberghe, Scheveningen dorthin kommt, den umweht ein Hauch echter Natureinsamkeit und friedevoller Stille, und wenn der Westwind sein Weltmeerkonzert aufführt, dann mischt sich nicht darein der Mißton lauter, oft so plebejischer Kultur. Jahrhundertelang war Nordwijk ein schlichtes Fischerdorf, eingebettet in seine grünen, malerischen Dünen, die an Ausdehnung, Höhe und Linien kaum ihresgleichen an der ganzen Nordseeküste finden. Normannen auf ihren Raubzügen waren einstmals in diesem verträumten Erdenwinkel die einzigen ungebetenen Gäste. Erst vor zwei Jahrzehnten wurde der Strand mit seinen romantischen Dünenhängen am grauen Meer für das moderne Badeleben entdeckt.
Hoch ragt auf der Düne das Huis ter Duin, vielgegliedert, unsymmetrisch, auf, aber es hat seinen traulich familienhaften, vornehmen Charakter bewahrt, obwohl eine Reihe stattlicher Villen am Boulevard sich ihm angeschlossen hat; der Komfort elektrischer Beleuchtung in der weiten Halle eines runden Vorbaus umfängt am Abend die Familiengruppen an den blumengeschmückten Tischen, und draußen blinkt der Nachthimmel mit seinen Sternen, und das Murmeln und Tosen der Wellen tönt herauf. So fließen die Gegensätze, Kultur und Natur, ungehindert ineinander, ja, selbst wenn im Musikzimmer unter kundiger Hand der Flügel erklingt, schmiegt sich der Wohllaut des Künstlers den sanften Tönen der Winde und der Wellen an, und es entsteht eine Harmonie, die das Herz ruhig macht und empfänglich stimmt für Hohes und Großes in der Welt des Geistes und in der Natur, die hier doch immer die vorherrschende Note abgibt. Rings ist historischer Boden.
Nachdenkliche Leute, besonders Philosophen, zogen der Gesang des Meeres und die Düneneinsamkeit an: der große Flüchtling aus Amsterdam, Spinoza, der so tief ins Innere der gottbeseelten Natur schaute, fand in dem nahen Rijnsburg ein Asyl, Brillen und Begriffe schleifend, und nicht ferne davon ergrübelte Descartes sein Cogito ergo sum. Rijnsburg selbst aber erinnert in seinem Namen an den Wandel der Dinge, an die Vergänglichkeit auch der gewaltigsten Ströme, denn vor anderthalb Jahrtausenden wälzte hier der Rhein seine stolzen Fluten ins Meer, während er jetzt nur noch eine schmale Rinne – einen Kilometer südlich – bei Kattwijk bildet und [21] im übrigen in Sumpf und Sand und spärlichen Wasserarmen verblutet. Doch auch heute noch können Philosophen- und Poetenaugen mit Behagen und mit weihevoller Stimmung auf dieser Landschaft ruhen, während der Gesang des Friedens vom Meere her durch die Lüfte getragen wird.
Inmitten der welligen Dünenhänge, die mit Gräsern und kürzerem Buschwerk bewachsen sind, erhebt sich unfern vom Noordwijk-binnen ein Aussichtsturm mit weithin sichtbarer Spitze und dem anmutenden Namen das Koepeltje!
Wer dort an stillen Juniabenden im Mondenschein gestanden, während in das ferne sanfte Meeresrauschen Lerchentriller und Nachtigallenschlag sich mischten, der erlebt des Dichters Wort, das die Tiefeinsamkeit der Heide ihm auf die Lippen legte, in des Nachtwinds Wehen und des Mondes Licht:
Was du nie vernahmst durch Menschenmund,
Uraltes Geheimnis, es wird dir kund.
Es durchschauert dich tief in der Seele Grund.
Wie eine kuppenreiche Gebirgskette breitet sich in magischer Mondbeleuchtung die Dünenlandschaft aus, von ferne blitzen die Leuchtturmlichter von Sandvoort und Scheveningen über das in dunklem Schatten liegende Land herüber; näher glänzen die Lichter von Leyden, und wie ein Bild des Friedens dehnt sich zu unseren Füßen das von Tulpen- und Hyazinthengärten und Buschwerk umrahmte Dorf; gespenstisch ragen auf dem Dünenrande die Hotels und Villen, und zwischen ihnen schimmert hindurch das dämmrige Meer. Und dieses ist es doch vor allem, das unsere Seele in seinen Zauberbann zieht.
See und Seele sind auch lautlich auf einen Ton gestimmt; in beiden steckt eine
Wurzel, die das Bewegliche, Wandelbare bezeichnet. "Des Menschen Seele gleichet dem
Wasser", läßt Goethe die Geister singen. Das Wort "Meer" hängt mit einem Stamm
mar (vgl. mort) zusammen und bezeichnet den Gegensatz zum Leben der Vegetation (im
Indischen ist marus "Wüste").
See und Seele haben ihr Auf und Ab, ihre Ebbe und ihre Flut, ihr Erzittern und Erbeben, ihr Klingen und Singen.
Wer möchte den Zusammenklang, der das Menschenherz und das stolze Element in eins faßt, nicht spüren, wenn sein Blick darüber schweift über die im Sonnenglanze daherziehenden schaumgekrönten Wellen, wem nicht trunken Auge und Sinn ins Unendliche schweifen und das Innere sich füllen mit Jubel und Andacht zugleich, so daß er sich Flügel wünschte, um sich mit den Wogen und Wolken im blauen Raume zu verlieren?
[22] Und wovon raunt und singt das Meer? Es liegt in unserem Menschensein tief begründet, daß wir beseelten, in Bewegung uns betätigenden Wesen auch die Bewegung in der Natur da draußen als Ausstrahlung eines Lebens deuten.
Wie ein Ein- und Ausatmen, wie ein Pochen des Pulses will uns dies Empor und Hernieder der Wogen in seiner Regelmäßigkeit erscheinen, und von Sehnen und Verlangen ins Weite und Ferne oder von trotziger Kraft und freudigem Mute oder von neckischem Spiel und sich überstürzender Laune scheinen die Wasser zu singen und zu sagen, die unablässig vom dämmrigen Horizonte her in der breiten gewaltigen Fläche sich dahinwälzen und sich am Strande mit Gischt und Strudel brechen und in langhin zerfließendem Geriesel zerrinnen. Wir werden nicht müde, diesem Raunen und Rauschen Ohr und Herz zu leihen und den Tönen Sinn zu geben und die Melodien zu deuten.
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
Und nun gar, wenn dies "Ding" das schwankende, schwebende, rollende, wogende und unablässig tosende Element ist. Bald ist sein Lied eine sanfte, stille, traurige Elegie – grau in grau hangen die Wolkennebel hernieder, und trübe und schaurig rieselt der Regen; und dann wieder ist es eine gewaltige Ode, die es anstimmt, wenn der Donner hallend über die weite See rollt, der Sturm grollend daherbraust, die Wogen wie wilde Rosse sich bäumen und Wassergüsse vom Himmel hernieder prasseln; da walten Leidenschaft und Zorn und Zerstörungsdrang in den entfesselten Elementen, die ihre ganze Größe und Wildheit offenbaren. Und welch erhabenes Schauspiel bietet sich noch in der Nacht, wenn überall der Graus in der Tiefe, der silberne Vollmond aus den Wolkenvorhängen sein gespenstisches Licht wirft! – Wie eine Beethovensche Symphonie ist der Gesang des Meeres in solchen Sturm- und Gewittertagen, wo die Wucht der Flutmassen sich unablässig steigert, an der Düne schäumt und empor sich reckt, in grollender Wut über die Fessel. Und endlich lassen die unheimlichen Mächte in dem tosenden Kessel nach, die Wasser sinken langsam zurück, der Titane streckt sich wie zur Ruhe aus; wie der Tag sich neigt, wie der Wind sich legt, – es ist als ob der in den sanften Säuseln sich offenbarende Geist Gottes über den Wassern schwebe – breitet sich Friede über die Stätte, wo vordem der Graus, das wilde Chaos, die Zerstörung gewaltet hat.
Moritz von Strachwitz hat solchem Erlebnis den dichterischen Ausdruck geliehen in "Meeresabend":
[23] Sie hat den ganzen Tag getobt,
Als wie in Zorn und Pein,
Nun bettet sich und glättet sich
Die See und schlummert ein.
Und drüber zittert der Abendwind
Ein mildes heiliges Wehn,
Das ist der Atem Gottes,
Der schwebet ob den Seen.
Es küßt der Herr aufs Lockenhaupt
Die schlummernde See gelind
Und spricht mit säuselndem Segen:
Schlaf ruhig, wildes Kind!
Und am andern Tage strahlt wieder blau der Himmel und blau das Meer, und mit blendend weißen Schaumkronen kommen die Wellen heran wie stolze Schwäne. Es ist ein Hymnus, den die Natur anstimmt; Feiertagsstimmung leuchtet von der Höhe und aus der Tiefe, die Ewigkeit tut ihre Pforten auf; das Rauschen und Branden klingt wie ein Choral, wie ein Loblied auf den, der dem Meere seine Grenzen gezogen, der da ist und der da war und der da sein wird, und die Wölkchen schweben im Licht wie Friedensengel, die segnend sich neigen über Land und Meer und dich kündend:
Der du über den Zeiten thronst in Unendlichkeit;
Über die Meere gleiten Schatten von deinem Kleid:
Tage und Nächte schleichen unten an seinem Saum 1,
Erblühen und Verbleichen gabts du uns als Traum.
In solchen Feiertagsstunden schweigen alle Stimmen der Alltagssorgen und Alltagsbegriffe (wie Leben und Sterben, Blühen und Welken) in unserer Seele; es wird hell und licht in uns, und die Seele singt mit, fröhlich einstimmend in den Sphärenklang. Und es geschah, daß die oft so rauhe und graue und wilde Nordsee wie umgewandelt war, gebändigt durch den Zauber des Friedens. Und es gab Tage, wo man hinaus rudern konnte. Da umtönte mich ein wundersames Lied, mit dem Cäsar Flaischlen, der liebenswürdige Schwabe und schwärmerische Verehrer der lieblichen Ostsee, dem Stimmungsklang der Stunde Worte leiht ("Im Kahn"). Träumend läßt sich der Sänger im Nachen von den Wellen schaukeln und wiegen und forttragen in die Ferne, den stillen, weißen Wolken zu, die den Horizont umschweben; immer mehr versinkt die Küste, alles wird zu blauem Glanz:
[24] Selig lieg' ich auf dem Rücken, horche auf die
Ammenlieder, die mir Wind und Wellen singen,
Falte langsam meine Hände, schließe lächelnd
Meine Augen und verträume in den Himmel
Wie ein Kind in stiller Wiege . .
Meine Mutter ist die Sonne . .
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Meine Mutter ist die Sonne,
Und ich weiß, sie hat mich lieb! – – –
Und nun wird es Abend. Über einer Wolkenbank schwebt die Sonne, auf dem feuchten Strande spiegelt sich blendend ihr Bild, während sich eine goldenen Brücke vom Strand zum Horizont spannt.
Dann verschwindet die Königin des Tages, die Mutter alles Lebens, – da plötzlch hebt sich die Wolkendecke, und die rote Feuerkugel erstrahlt aufs neue dicht über dem Horizont, alles in Glut tauchend, und sinkt in majestätischer Ruhe hinab in die Fluten; doch noch lange hängen zartrote Wolken wie Rosen inmitten des grauen und blauen Dunstes, der den abendlichen Himmel umspannt, und es singen und raunen die Wellen und wecken in der Seele Widerhall, und diese umklingen die Zeilen Meister Gottfried Kellers:
Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr umdunkelt sein. . . .
Doch noch wandl' ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt,
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldenen Überfluss der Welt!
Und dem Dichter wandelt sich die Welt selbst in ein Gedicht, das durchhaucht ist von der Einheit einer lebendigen Seele und durchklungen von ewigen Melodien.
Und diese klingen in seinem Herzen wider. Es ist dichterisches Schauen, das die Natur beseelt, ihren Farben und Formen und Tönen Seele Tätigkeit, Freiheit leiht. Was er in sich selber an Sehnen, an Leid und Lust und Leidenschaft spürt, er legt es hinein in die Natur, und was sie selbst bietet an Eindrücken, das rinnt unlöslich mit dem eigenen Erleben zusammen. So wird das Meer zum Sinnbild des Lebensganzen mit Frieden und Ruhe und Seligkeit, in die wir hinüberträumen, wenn die Wellen der Zeitlichkeit uns in den Hafen der Ewigkeit tragen, mit Mahnungen zu Kraft und Mut, zum Ausharren in Kampf und Not, in Glauben, in Hoffen, in Liebe. So wird das Elementare zum Träger von Ideen. Und was ist [25] Kunst anderes als das Vermögen, Stoffliches in geistige Formen umzuprägen? – Und noch heute schafft der Dichter mit derselben Kraft seiner Seele mythische Gebilde wie einst die Vorzeit. Denn im Grunde genommen sind myhthische und dichterische Beseelung eins. Ob die Griechen von Poseidon und Amphitrite, von Thetis und den Nymphen sangen: Wer hatte es ihnen zugeraunt? Der Gesang des Meeres und das Singen und Klingen ihrer eigenen Seele. Ob Hölderlin "An den Äther", ob Lenau die "Sturmesmythe", ob Shelley die "Ode an den Westwind" oder "Die Wolke" dichtet, die Natur wird Seele, die Seele Natur, und aus diesem Zusammenklang ertönt eine neue Melodie, die uns ans Herz greift.
Nirgendwo ist die Poesie der Wolken 1 anschaulicher und lebendiger als an der Küste und über dem Meer. Steigen Dünste und Nebel von diesem auf, sammeln und ballen sie sich, so bilden sich Wölkchen, so zart und rosig im Morgenschein wie Engelköpfchen die auslugen, wie es wohl in der weiten Welt beschaffen sein mag. Bald zerfließen sie wieder, bald gesellen sich andere herzu, sie wallen und schweben dahin oder bilden eine breite, graue, bleierne Wand über dem Meer, bis der Wind sie auseinanderfegt, diese "Töchter von Wasser und Erde, gesäugt vom himmlischen Licht", wie Shelley sie nennt – und der Gewässer Segen gießen sie im Regen auf den dürstenden Blütenbaum, ihr Fall und Vergehen wird zum Leben der Gräser und Bäume, ja der Bäche und Flüsse und Ströme.
Wandere ich in solchen Gedanken an der Küste des Meeres und sehe ich dem Wellenspiel zu und lausche ihrem Singen, sehe die Wolken in ihren wundersamen Gestaltungen dahinziehen, die in der Phantasie immer neue Deutungen anregen, dann erlebe ich tiefinnerst mit nachfühlender Seele das Gedicht C. F. Meyers:
Der Gesang des Meeres.
Wolken, meine Kinder, wandern gehen
Wollt ihr? Fahret wohl! Auf Wiedersehen!
Eure wandellustigen Gestalten
Kann ich nicht in Mutterbanden halten.
Ihr langweilet euch auf meinen Wogen,
Dort die Erde hat euch angezogen:
Küsten, Klippen und des Leuchtturms Feuer,
Ziehet, Kinder! Geht auf Abenteuer!
[26] Segelt, kühne Schiffer, in den Lüften!
Sucht die Gipfel! Ruhet über Klüften!
Brauet Stürme! Blitzet! Liefert Schlachten!
Traget glüh'nden Kampfes Purpurtrachten!
Rauscht im Regen! Murmelt in den Quellen,
Füllt die Brunnen! Rieselt in die Wellen!
Braust in Strömen durch die Lande nieder!
Kommet, meine Kinder, kommet wieder!
Ein solches Gedicht wird auf den verschiedenen Klassenstufen natürlich in recht verschiedener Art behandelt werden. Gerade in den unteren Klassen sind die Schüler für märchenhafte Beseelung der Naturerscheinungen sehr empfänglich, so daß sie sich nicht verwundern über das redende Meer und die zu Kampf und Taten fortstrebenden Wolken. Ich erzähle also, daß ich schon oft am Meer war. Ich frage: Wer von euch war auch schon dort? Was sieht man dort? – Wer hat schon die Wolken näher betrachtet? Wie sie Tieren gleichen, die zum Sprunge bereit sind? Oder Schiffen? Oder unheimlichen Riesenleibern? Das Meer liebt die Wolken. Warum wohl? Woraus sind diese gebildet? Aus Wasserdunst! Woher stammen sie also? Vom Meer! Das Meer ist ihre Mutter. Aber die Kinder bleiben nicht immer bei der Mutter. Warum nicht? Auf Erden ist es mit den Menschenkindern so, daß sie in die Ferne schweifen, aber auch wieder zu den Eltern zurückkehren, daß sie am Ende ihrer Tage in heimatlichem Boden ausruhen wollen vom Leben. Was wird aus den Wolken? Regen, Donner und Blitz stammen von ihnen. Wo bleibt der Regen? Wo die Flüsse? Sie enden wieder im Meer!
In den oberen Klassen wird die Einstimmung durch das persönliche Erlebnis – wie ich es von Noordwijk schilderte – gegeben und sodann das Symbolische, d. i. das für das Menschenleben Sinnbildliche herausgefunden und empfunden, also "erlebt": Den Kindern des Meeres ist es zu einförmig, bei der Mutter zu weilen; sie wollen den Banden sich entwinden, etwas von der Welt sehen, etwas erleben; der Tatendrang der Jugend ergreift sie (vgl. Reinick, "Der Strom" 1); die Mutter muß sie ziehen lassen; sie weiß, wie es kommen wird: sie werden ihr Ehre machen in schwerem Strauß, im Purpurglanz glühend, aber sie sind auch dem Untergang geweiht, dem Wechsel und Wandel der Dinge; nur sie, die Mutter ist ewig und hehr und groß, [27] wie der Kreislauf selbst, der den Meereshauch zu Wolken, die Wolken wieder zu rieselndem Regen werden und diesen am Ende in Bach und Strom und wieder ins Meer münden läßt.
So ist das geistige Band, das alles Einzelne bindet: die innere Verwandtschaft zwischen Natur und Menschenleben in Werden, Vergehen, Sichwandeln nach ewiger Gesetzmäßigkeit.
Vom Himmel kommt es –
Und wieder zum Himmel steigt es.
Und was zeigt uns der Rhythmus des Gedichtes? Es tönt in den Reihen mit den fünf Hebungen, in den klingenden Reimen, bei allem Wechsel der Gliederung im einzelnen eine Stetigkeit und Gemessenheit wieder, die der Urmelodie des rauschenden, wogenden Meeres entspringt.
Jedes tiefere und reifere Gedicht ist eine ganze Welt für sich. In dieser walten
Kräfte, die Ausschnitte aus dem Gesamtbereiche, den wir "Leben" nennen, zu einer neuen
Einheit und Ganzheit zusammenschließen. Im tieferen Gefühl des Angeschauten, im
Drange des Erlebnisses wird dem Dichter die Zunge gelöst, er läßt uns in seine
Innenwelt hineinblicken, indem er uns ein Bild der Außenwelt zeichnet; so rinnen
Inneres und Äußeres zusammen, und das Augenblickliche wird zum Ausdruck des
Gesamtdaseins, ein Gedicht wie der "Gesang des Meeres" wird zum Spiegelbild einer
ganzen Welt- und Lebensanschauung; was sonst in Einzelheiten zerflattert, wird hier
verdichtet, was sonst schweigt, gelangt hier zum Klingen; was an Gefühlswerten solch
Wandeln am Meeresstrande dem empfänglichen Geiste bietet, wird in Anschauung und
Stimmung zu rhythmisch bewegtem Wort, zu Poesie.
[Die Anmerkungen stehen als Fußnoten auf den in eckigen Klammern bezeichneten Seiten]
[3] 1)
Das Wesen und die Bedeutung Herders ist nirgend tiefer und schöner erfaßt worden als von
Kühnemann, ("Herder", 2. ganz umgestaltete Auflage, München, Beck 1912), dem ich hier folge.
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[6] 1)
Ich wiederhole hier einige Sätze aus dem Buche "Lyrische Dichtung und neuere deutsche
Lyriker" (1896), das vielen eine Richtschnur gegeben hat und jetzt vergriffen ist; in dem
jetzt veralteten Schlußkapitel findet es in meiner Literaturgesch. Band III Ersatz.
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[8] 1)
Ich selbst ward durch die Entwicklung des Naturgefühls auf die Wichtigkeit der
Naturbeseelung geführt – vgl. "Die poetische Naturbeseelung in antiker und
moderner Poesie" (Ztschr. für vergleichende Literaturgeschichte Bd. I);
"Die Naturbeseelung bei den Griechen (Ztschr. für Völkerpsychologie Bd. 20 usw.)
– und gründete in meiner "Philosophie des Metaphorischen" (Leipzig, Leop. Voß,
1893) auf Versinnlichung des Geistigen und Vergeistigung des Sinnlichen die Betrachtung
von Mythos, Religion, Sprache, Kunst, Philosophie.
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[9] 1)
Mitgeteilt von Julius Bab (Westerm. Monatsh. 1906, S. 833f.). Vgl. den Brief,
den Storm 1852 an Carl Goedeke geschrieben, und die Besprechung seiner Gedichte im
"Hamburger Correspond." v. 7. Januar 1853; beides habe ich mitgeteilt in der
Programmabhandlung Ostern 1909 (Neuwied): "Zur Behandlung Th. Storms in der Prima".
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[10] 1)
Schon 1882 hatte ich in der "Entwicklung des Naturgefühls bei den Griechen" geschrieben:
"Die Metapher ist kein poetischer Tropus, sondern eine ursprüngliche, notwendige
Anschauungsform unseres Denkens" und dies in der Ztschr. für vgl. Literaturgesch.
Bd. I und bes. II, S. 317 bis 339 näher begründet in dem Aufsatz "Das Metaphorische
in der dichterischen Phantasie" (mit Anmerkungen erweitert, in Berlin erschienen,
A. Haack, 1889); die Metapher ist im kleinen, was die Dichtung im großen
ist: die Verschmelzung des Inneren und Äußeren, des Geistigen und des
Sinnlichen. – So sagt auch Dilthey S. 412: "Da in der Poesie überall Erlebnis,
überall ein Innen, das in einem Äußeren sich darstellt, oder ein äußeres
Bildliches, das durch die Innerlichkeit beseelt ist, Stoff und Ziel der Darstellung
bildet, so ist alle Dichtung symbolisch." Vgl. meine "Philosophie des Metaphorischen".
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[14] 1)
Jedes Gedicht muß individuell, d. h. als ein Lebensbild für sich und
zugleich als ein Kunstwerk in seiner einheitlichen Geschlossenheit behandelt werden.
Also darf es nicht, wie so oft geschieht, strophenweise zerstückelt, auch nicht vor
oder nach der Darbietung in Prosa aufgelöst, nicht als Mittel zum Zwecke mannigfacher
Belehrung mißbraucht werden. Wer – wie z. B. Linke ("Poesiestunden")
– die Einzelerklärung Strophe für Strophe vorwegnimmt, rupft gleichsam einen
Blumenstrauß blütenweise auseinander und zerstört somit den Duft des Ganzen.
Treffliche Anleitungen – wenn auch meist zu breit und wortreich – bieten
manche Bücher der jüngsten Zeit. Hervorzuheben sind die "Erläuterungen" von Ernst
Linde (Gude VI, 1 und 2), sowie "Einführung in die Ästhetik der deutschen
Dichtung", – "Kunsterziehung und Gedichtbehandlung im Unterricht"
(2 Bde.) von A. M.Schmidt (Klinkhardt in Leipzig) und ausgezeichnet durch
Knappheit der Form und durch tiefes Eindringen in das dichterisch Wesentliche ist der
"Kunstschatz des Lesebuchs: die lyrische Dichtung von Wilhelm Peper, die epische
Dichtung von Ernst Weber (Leipzig, Teubner). Vgl. auch das sehr wertvolle Buch
von Deckelmann "Die Literatur des 19. Jahrhunderts im Unterricht" (Berlin,
Weidmann 1912). Das A und O für Erfassung und Deutung im Unterricht bleibt: Da das
Lyrische in Wortkunst umgesetzte Stimmung ist, so sei selbst in der Stimmung des
Dichters und übermittle sie dem Schüler, indem du jene behutsam vorbereitest und
vor ihren Ohren und vor ihren Seelen nachschaffst durch tiefinnerliches Miterleben!
Sei kein Schauspieler mit Aufbietung aller Stimmregister und mit pathetischem
Gesten- und Mienenspiel, sondern ein schlichter, echter Dolmetsch des Dichters!
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[18] 1)
Vgl. im 'Tasso' die Worte der Leonore v. Sanvitale über den Dichter: "Sein Auge
weilt auf dieser Erde kaum" usw., Schiller, 'Die Ideale': "Da lebte mir der
Baum" usw.
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[18] 2)
Die beste Deutung dieses Gedichtes als eines Erlebnisses gibt uns jetzt Falke selbst
in der "Geschichte seines Lebens" ("Die Stadt mit den goldenen Türmen", Berlin,
Grote 1912); da berichtet er, wie er aus der Enge einer kleinen thüringischen Stadt
sich hinausgesehnt habe in die Weite, in die Heide seiner nordischen Heimat, und hinausgewandert
sei, über Berg und Tal auf eine lichte Waldhöhe: "Ich breitete die Arme aus, und mir war,
als müßte ich fliegen können, als wüchsen mir Flügel. Wie ich mich an jenem (früher
geschilderten) Abend körperlich eins mit dem silbernen Licht des Mondes gefühlt
hatte, so war mir jetzt, als müsse ich mit dem leisen Wind, der [19] durch das Tal wehte,
dahinschweben können, losgelöst von aller irdischen Schwere. Ein Birkenbäumchen, das
neben mir sein weißes Stämmchen erhob, schwankte mit seiner zierlichen Krone
leis im Winde; es neigte sich zu mir, ein Flüstern schien durch sein helles Laub zu
gehen, und es war mir, als spräche es zu mir. Ich schlang meinen Arm um das
Bäumchen und legte meine Wange an seine kühle Rinde. ""Die große Sehnsucht, die
in allem lebt", sagte ich halblaut, "sie lebt auch in dir. Hier stehst du, über dir den
Himmel und die Winde, unter dir das Tal und vor dir die silbrige Ferne. Da wächst du,
wächst immer höher vor lauter Sehnsucht. Aber die Sterne stehen so hoch, daß niemand
sie erreicht, und der größte Baum hat immer noch seine Sehnsucht hinauf, hinauf, über sich
hinaus.""
Es war mir so natürlich, daß ich mich mit dem Bäumchen unterhielt.
Was war denn dieses Gefühl anderes, das mich jetzt in das Gras niederzwang, das mich die
zarten Halme durch meine Finger gleiten und das Ohr fest an die grüne Erde drücken ließ,
als könnte ich auch von dort Stimmen vernehmen, zarte, geheimnisvolle und doch so vertraute
Stimmen – was war es anderes als das lebendige Gefühl des Einsseins mit aller Kreatur?"
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[23] 1)
Wer denkt hier nicht an die Worte des Erdgeistes im "Faust", der die ewig
schaffende und wieder zerstörende Macht in Natur ("Lebensfluten") und
Geschichte ("Tatensturm") verkörpert und im Dienste Gottes steht.
So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
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[25] 1)
Ein interessantes Thema wäre es, die Wolken in der Poesie zu verfolgen von
Homer und Aristophanes bis Goethe und Shelley, die immer aus der Anschauung
und dem Gefühl heraus dichten; wie dunkel und reflektiert in den neueren
Dichtungen ist z. B. Gustav Schwabs "Die Wolke am Sternenhimmel" oder
Alice v. Gaudy's "Die Wolke". Weit mehr Erlebnis und Bekenntnis ist Seidels
Gedicht "Die Wolken" ("Ich habe euch immer geliebt, ihr Wolken des Himmels!").
zurück
[26] 1)
Man wird an "Mahomets Gesang" anknüpfen und an den "gefesselten Strom" von
Hölderlin: hier sendet der Vater Ozean seinem Titanensohn, dem von Eis
gefesselten Strom, die lebenatmenden Lüfte, und diese wecken ein Singen und
Klingen in seiner Brust; die Kraft reckt sich in ihm auf, der Zauderer eilt,
spottet der Fesseln, bricht sie, von Freude hallen die Berge wider, "er wandelt hin zu
Unsterblichen, bis ihn in die Arme der Vater aufnimmt". – Der unglückliche
Genius Hölderlins fand hier sein Gegenbild.
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Erstdruck und Druckvorlage
Alfred Biese: Zur Erfassung und Deutung lyrischer Gedichte.
Neuwied 1913
(Königliches Gymnasium Neuwied. Wissenschaftliche Beilage zum XXXVI. Jahresberichte, Ostern 1913).
[PDF]
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/102368117
Werkverzeichnis
Verzeichnis
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Biographisches-bibliographisches Handbuch.
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Bd. 1. Berlin u.a.: de Gruyter 2003, S. 181-182.
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In: Zeitschrift für Vergleichende Litteraturgeschichte.
Bd. 1, 1887: S. 125-145, 197-213, 407-456.
URL: https://archive.org/advancedsearch.php
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Zeitschrift_für_vergleichende_Litteraturgeschichte
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000638851
Biese, Alfred: Theodor Storm und der moderne Realismus.
Berlin: Eckstein 1888.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb00074476
PURL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6:1-245329
Biese, Alfred: Das Metaphorische in der dichterischen Phantasie.
Ein Beitrag zur vergleichenden Poetik.
Berlin: Haack 1889.
URL: https://archive.org/details/dasmetaphorisch00biesgoog
PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015070578151
Biese, Alfred: Ein "realistischer" Lyriker
(Detlev Freiherr v. Liliencron. Gedichte. Leipzig, Wilh. Friedrich. 1889).
In: Neue Freie Presse. Morgenblatt.
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Biese, Alfred: Theodor Storm zum Gedächtniß.
In: Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
1891, Beilage-Nummer 281, 1. Dezember, S. 1-5.
URL: https://digipress2.digitale-sammlungen.de/
Biese, Alfred: Die Philosophie des Metaphorischen.
In Grundlinien dargestellt.
Hamburg u. Leipzig: Voss 1893.
URL: https://archive.org/details/diephilosophied02biesgoog
PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.32044084582329
Biese, Alfred: Lyrische Dichtung und neuere deutsche Lyriker.
Berlin: Hertz 1896.
URL: https://archive.org/details/lyrischedichtung00biesuoft
PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015030163128
Biese, Alfred: Anthologien deutscher Lyrik.
In: Zeitschrift für das Gymnasialwesen.
Jg. 56, 1902, Heft 2/3, [Februar/März], S. 81-91.
URL: https://archive.org/details/sokrateszeitsch44berlgoog
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008920129
Biese, Alfred: Pädagogik und Poesie.
Vermischte Aufsätze. Neue Folge.
Berlin: Weidmann 1905.
URL: https://archive.org/details/pdagogikundpoes00biesgoog
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Neuwied 1912.
(Königliches Gymnasium Neuwied.
Wissenschaftliche Beilage zum XXXV. Jahresberichte, Ostern 1912).
URL: https://archive.org/details/dielebensbejahun00bies
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In: Ders., Pädagogik und Poesie.
Vermischte Aufsätze. Bd. 3.
Berlin: Weidmann 1913, S. 264-304.
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100351398
Biese, Alfred: Zur Erfassung und Deutung lyrischer Gedichte.
Neuwied 1913
(Königliches Gymnasium Neuwied. Wissenschaftliche Beilage zum XXXVI. Jahresberichte, Ostern 1913).
[PDF]
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/102368117
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In: Konservative Monatsschrift für Politik, Literatur und Kunst.
Jg. 71, 1913/14, Heft 3, Dezember 1913, S. 246-252.
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/010317150
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Biese, Alfred: Die Literatur.
In: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II.
Schriftleitung: Philipp Zorn u. Herbert v. Berger.
Bd. 3. Berlin: Hobbing 1914, S. 1535-1554.
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URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000136169
Biese, Alfred: Moderne deutsche Lyrik und die höhere Schule
(Vortrag, gehalten in der Pädagogischen Sektion der 52. Versammlung
deutscher Philologen und Schulmänner zu Marburg i.H., 2. Oktober 1913).
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Jg. 28, 1914, Heft 1, [Januar], S. 33-47.
[PDF]
URL: http://digital.slub-dresden.de/id411909762
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008926115
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In: Konservative Monatsschrift für Politik, Literatur und Kunst.
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer