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[230] 'Die künstlerische Tätigkeit, mag sie dichtend, mag sie gestaltend die Welt zu zeigen unternehmen,' lese ich irgendwo in einer ernsthaften Untersuchung. Ein solcher Satz erweckt leicht den irrigen Anschein, als ob das Dichten etwas anderes sei als Gestalten, und leistet der landläufigen Meinung Vorschub, wonach die künstlerische Tätigkeit des Dichtens ungleich leichter und bequemer erscheint als das Schaffen in den anderen Künsten, der Architektur, der Plastik, der Malerei und Musik. Weil die Sprache ein allgemeines Verständigungs- und Ausdrucksmittel ist, glaubt man, sie müsse auch ein bequemeres künstlerisches Gestaltungsmittel sein; im gleichen könnte man das allgemeine Gebärdenspiel oder den allgemeinen Trieb zum Singen und Pfeifen als nächstes und bequemstes künstlerisches Ausdrucksmittel ansprechen; und sie sind es in der Tat genau so, wie der Sprachtrieb, und in Wirklichkeit ist die künstlerische Tätigkeit, zumal in einer bestimmten Zeit, einerlei welcher Kunstart, in der einen genau so leicht und so schwer wie in der andern; Shakespeares Gestaltung des Hamlet genau so leicht und so schwer wie etwa Rembrandts Selbstbildnis. Man weist wohl auf die größere Sprödigkeit des Materials und die erheblichere Schwierigkeit des Handwerkes in den bildenden Künsten hin, weil ja anders im Stoff, nämlich dem Gehalt des Lebens, den alle Künste zur Bearbeitung haben, ein Unterschied nicht zu finden wäre. Bedeutende Dichter sind der Überzeugung gewesen, daß das Material der Sprache, und gerade weil es ein so allgemeines und dadurch, was aber ein Irrtum, für den Kunstzweck vielfach verdorbenes sei, weit schwerer bearbeitbar als das Material jeder anderen Kunstart und ebenso die handwerkliche Fähigkeit kaum leichter erlernbar und die Disziplin überall gleich schwer erringbar, und daß abgesehen davon die in der Dichtung zum Austrag kommenden Probleme viel reichhaltiger und innerlich komplizierter seien. Doch ist diese Überzeugung ebensowenig berechtigt wie die von der größeren Material- und Handwerksschwierigkeit in den bildenden Künsten; es findet zwischen ihnen vielmehr ein genaues Verhältnis und ein genauer Ausgleich statt: innerhalb einer bestimmten Zeit oder Kulturlage muß ein Gemälde, um als echtes Kunstwerk angesprochen zu werden, auf seine besondere Art genau so intensiv die Probleme eben dieser seiner Zeit bewältigen, wie ein Gedicht, eine Plastik, ein Gebäude, ein Musikstück; nur dann gilt es einmal als notwendiges Produkt und damit als Höherführung seiner Zeit; eine zeitlosgelöste echte Kunst gibt es nicht. Und da ersieht man denn leicht, daß die Schwierigkeit des Materials und der Bearbeitung auf die künstlerische Form hin in eben der gleichen Zeit auch immer gleich ist, daß der Ausdruck des Lebensgehaltes in einer bestimmten Zeit immer in gleichem Verhältnis in bezug auf Wert und Arbeit steht, also gleich leicht oder schwer ist, ob in Stein, Holz, Marmor, Farbe, Ton oder Sprache; dem Ausdrucksvermögen der alten Ägypter in den Pyramiden entspricht das ihrer Sprache, dem der griechischen Plastik das der griechischen Dichtung, dem Rembrandts das Shakespeares, der Feinheit, Zersetztheit und Mannigfaltigkeit der heutigen malerischen genau das der dichterischen Bestrebungen an Arbeit und Wert; ein Gedicht Liliencrons ist genau so leicht und schwer wie ein Bild von Uhde oder Leibl, eins von Dehmel wie etwa eine malerische Komposition von Hodler; wenigstens stehen alle diese kunstartlich und nach dem Charakter des Künstlers verschiedenen Bestrebungen in einem genauen zeitlichen Verhältnis und Ausgleich von Energie und Leistung.
[231] Die innere Bildung und auch des räumlich kleinsten Kunstwerks ist zumeist
durchaus nicht so kurzweilig und unkompliziert, wie die Ausführung glauben
machen könnte. Im Augenblicke der Konzeption, die so gut eine rasch
aufblitzende wie allmählich aufhellende Intuition sein kann, schießen
oft Hunderte von Vorstellungen und Empfindungen durcheinander. Die Entstehung
des einheitlichen Kunstwerkes aus diesem Stoffe vollzieht sich nicht ohne die
ordnende und gestaltende Hand des Künstlers; das vollendete Werk ist immer
der innere und genau entsprechende äußere Ausgleich eines vielfältigen
seelischen Prozesses. Dadurch, daß er poetischer Vorstellungen und
Empfindungen, sogenannter Stimmungen, geistiger gemütlicher Erlebnisse fähig
ist, wird noch niemand zum Dichter, sondern dadurch, daß sie in ihm
unter Ausscheidung aller unorganischen Bestandteile in ihrem vollen Zusammenhange
und in voller Schärfe bewußt werden, wie leibhaft vor seinen Augen stehen,
und er das ebenbürtige Talent hat, sie in gleicher Stärke mit den Mitteln
der Sprache aus sich herauszustellen, also erst dadurch, daß er den Drang und
Willen hat, sie restlos auszuschöpfen, und die Kraft, sie in eben dieser Exaktheit
zu gestalten. Dazu gehört neben der Gabe des Talents ebensosehr Schulung und
Selbstzucht. Ein echter Künstler ist ohne diese Tugenden nicht denkbar und auch nicht
auffindbar. Dagegen finden sich unter den mittleren Talenten bis zum reinen
selbstgenügsamen, gleichwohl anspruchsvollsten Dilettantismus alle Stufen halber
und flapper Energie sowohl im Erleben wie im künstlerischen Ausbau. Und man vergesse nicht,
daß Selbstzucht, Rechenschaft über Einnahme und Ausgabe in künstlerischen
Dingen, und darunter fallen alle Angelegenheiten unseres Daseins, mit der auch
in anderen Dingen parallel geht, weshalb denn auch in der Menschheit das Lob
des echten Künstlers und sein sittlicher Wert nicht hoch genug angeschlagen
werden kann, gegenüber den vernachlässigten, verkümmerten, ja toten Energien der
Auchkünstler, Dilettanten und der indifferenten Masse, unter welch letzterer man
ja nicht das 'Volk' verstehen soll, das stündlich, täglich die reichsten,
künstlerischen, ethischen und religiösen Energien treibt und betätigt.
Es verlohnt sich, von diesem Gesichtspunkte aus einmal verschiedene Dichtungen und Versuche zu betrachten, also Energien zu prüfen. Dieser Maßstab sollte überhaupt einzig gelten.
Daß die Sprache übrigens kein so überaus bequemes Material ist, daß
es vielmehr durchaus nicht so leicht ist, Eindrücke und Erlebnisse in der Sprache
genau zu gestalten, kann man ja im Alltagsleben an den meisten Menschen
gewahren; verhältnismäßig wenige sind da fähig, andern oder sich über
ihre Erlebnisse Rechenschaft zu geben. Zwar die meisten halten sich ohne
weiteres dazu fähig, aber es versuche nur einmal jeder an sich, etwa den
Eindruck einer Landschaft oder den inneren Zusammenhang einer Gemütsbewegung,
ihre Ursache und ihren Verlauf genau zu bestimmen, und er wird merken, daß
er, wie die meisten Menschen selbstbesinnungslos in den Tag hineinlebt. Dichten
heißt Richten hat Ibsen gemeint; es ist in der Tat nichts anderes, wie
sich Rechenschaft geben über sich selbst, über die Welt. Der Gründe, weshalb
die meisten Menschen nicht fähig sind, uns über ihre Erlebnisse Aufschluß
zu geben, sind mannigfaltige. Selten ist es ein Mangel an sprachlicher Begabung,
sondern meist ein Mangel an Beobachtung seiner selbst und der Mitwelt; denn
der Fall, daß einem für eine Beobachtung oder Erfahrung Worte zum Ausdruck
fehlen, tritt sehr selten ein, eher freilich schon, daß einem das richtige,
das bezeichnendste Wort wenigstens im Augenblick fehlt. Schon da bedarf es im
gewöhnlichen Leben der Übung und Selbstzucht, den entsprechenden Ausdruck zu finden,
anstatt sich gehen zu lassen. Sehr häufig allerdings ist der Fall, daß
jemand im Geiste genau einen Gedankengang oder eine Vorstellung zu haben glaubt, sobald
[232] er ihr aber Ausdruck geben soll, versagt. Da kann einfach Unbeholfenheit
oder Schüchternheit der Grund sein; es hat bedeutende Menschen gegeben, die
öffentlich im Ausdruck stets stolperten und stockten, dagegen für sich allein
schriftlich den Ausdruck meisterhaft beherrschten. Häufiger aber wird die Ursache
die sein, daß der Betreffende nur glaubt, das, was er ausdrücken will,
im Geiste klar vor sich zu haben, in Wirklichkeit aber nur eine ganz nebelhafte
Vorstellung hat, die beim Versuch, sie festzuhalten, natürlich sofort zerrinnt
in das, was sie ist, ins Nichts; besonders ist das der Fall bei den sogenannten
'Stimmungen' oder 'genialen Ideen', die meistens von der Art der Nachtphantasien
sind, die am klaren Morgen als ärgste Banalitäten und Nichtigkeiten sich erweisen.
So glaubte der 'Dichter' des nachfolgenden Frühlingsliedes gewiß eine
eigene Vorstellung, ein eigenes inneres Erlebnis zu haben:
Der Lenz ist da, sein Sonnenschein
grüßt lächelnd in die Welt hinein
vom blauen Himmel nieder;
im grünen Wald,
auf grüner Hald'
erwachen Blumen und Lieder.
Der Lenz ist da, gar wonnesam
ein Träumen still mich überkam
von Lieb' und Maienblüte;
und rauschend geht
und duftend weht
ein Dichten durch mein Gemüte.
Er glaubte es wohl sicher, aber er hatte keine, oder er hatte vielleicht
sogar eine eigene, eine echte lebendige Vorstellung, vermochte aber nicht, sie
zu bestimmen oder war zu bequem dazu und erging sich statt dessen in ärgsten
Dilettantismen, daß es kaum glaubhaft scheint, wie ein ernsthafter Mensch
so wenig Selbstkritik haben kann, dergleichen drucken und als Dichtung ausgehen
zu lassen. Es wäre genau soviel geleistet gewesen, wenn der Verfasser auf eine
schöne weiße Blattseite bloß das Wort 'Frühling' hätte drucken lassen,
ja die meisten Menschen hätten zu diesem bloßen Wort soviel eigene
Anschauung und Liebe hinzuzufügen vermocht in ihrem Geiste, wie der Dichter
sie nicht gab. In dem obigen 'Gedichte' ist nichts gedichtet. In diesem?
Auf stillen Bergen noch ein Brand
von letzten Sonnenresten,
und eine dunkle Wolkenwand
im allerfernsten Westen.
So blicken Stunden glückumsonnt
in uns vergangener Zeiten,
ob sich auch längst am Horizont
des Todes Schatten breiten.
Hier ist schon Dichtung. Nur ist der Stoff noch nicht rein künstlerisch geformt.
Die erste Strophe gibt eine bestimmte, keine vage, leere Stimmung. Selbst der
etwas abstrakte Ausdruck 'Sonnenreste' ist immerhin noch geeignet, als
künstlerisches Mittel das zu wirken, was er wirken soll: die bildeinheitliche
Vorstellung von Bergen in der flächlich unterbrochenen Beleuchtung der
untergehenden Sonne. Die
[233] zweite Strophe ist ein Vergleich, ein Auflösen der landschaftlichen
Stimmung in eine Reflexion. Künstlerisch rein sollte der Naturvorgang,
entsprechend gestaltet, allein schon genügen, seinen eigenen, in ihm,
wie in jedem Naturvorgang, vielfältig und doch jeweils bestimmt enthaltenen
Symbolwert selbst ausdrücken.
In dem ersten Gedicht hat Anton Müller (Aus goldenen Tagen. Münster
i. W. Alphonsusbuchhdlg.) sich keine Mühe gegeben, seiner besonderen
Frühlingsstimmung sich bewußt zu werden und sie entsprechend zu
gestalten, sondern in den abgedroschensten Ausdrücken sich gehen lassen,
in dem zweiten hat er wenigstens in der ersten Strophe ein leidlich anschauliches
Bild entworfen und in der zweiten Strophe eine verwandte seelische Beziehung
dazu aufgefunden. Er ist damit den Weg vom Dilettanten zum Dichter gegangen, den
jeder, auch der größte, einmal zu gehen hat. Die früheren Bücher
Müllers enthalten in der Tat kaum echte lyrische Werte, dagegen eine Unmenge
konventionellster Reimereien. Ich darf das ruhig geradeaus sagen, denn ich
bin der Überzeugung, daß in ihm gleichwohl von Anfang an echte lyrische
Kraft stak. Nur schöpfte er in seinen ersten Büchern seine Stimmungen, seine
Vorstellungen, Gefühle und geistigen Erfahrungen nicht aus, und da er sie nicht
schöpfte, konnte er sie nicht schaffen, sondern er ließ sich von der bloßen
dichterischen Wallung, von der bloßen musikalischen Stimmung tragen in ein oft
nichtssagendes Wortgetön, anstatt sich und uns die Stimmung genau zu verdeutlichen,
sie zu gestalten. Das hätte ihn natürlich nicht der Mühe überhoben, sich selbst
seine poetischen Empfindungen zuvor ganz voll und genau zu vergegenwärtigen zu prüfen,
ihrer Einheit und ihrer wesentlichen Einzelbestandteile sich bewußt zu werden,
ja wenn nötig, sie zu analysieren, da Gefühlskomplexe oft sehr verzwickt sind
und in ihrem ursächlichen Zusammenhang keineswegs immer so auf den ersten Anhieb hin
faßbar, und dann die entsprechenden künstlerischen Mittel zur Bewältigung des voll
erfaßten dichterischen Vorwurfs zu suchen und zu finden, was alles durchaus
nicht immer so leicht ist, – mit einem einzigen lyrischen Stoff haben große
Dichter sich oft Jahre geschleppt, bis sie ihn klar hatten und darstellen konnten
– und was vor allem gar nicht so bequem und angenehm ist. Vielmehr scheint es
für die meisten Menschen viel bequemer und angenehmer, bloß den
Stimmungsrausch, die Erregung zu genießen, im unbestimmten Gefühl hinzuduseln,
sich schaukeln und einlullen zu lassen, anstatt von ihren Gefühlen, Gedanken und
Erlebnissen sich genaue Rechenschaft zu geben und erst dadurch sie für sich und
andere zu nützen, wirkend zu machen. Denn das erfordert, wie jede Gewissenserforschung
– und eine stete Gewissenserforschung ist auch die Kunst, Selbst- und
Welterkenntnis zum Zwecke immer höherer Bildung – Selbstüberwindung und
Selbstzucht. Freilich ist das, auch beim besten Willen, nicht eines jeden Menschen
Fähigkeit, zum Teil aus Mangel an Begabung, zum Teil aber auch aus Mangel bloß
an entsprechender Schulung. Des Künstlers größere Fähigkeit und Aufgabe
aber ist es ja gerade, sich hier der Mitmenschheit hilfreich zu zeigen, die
Mitmenschen von ihren dumpfen, ungeklärten Gefühlen und Erkenntnissen
zu erlösen, sie zu sich selbst,
zur Anschauung und Erkenntnis ihrer selbst, der Natur und Übernatur zu führen.
Müller hat erst in seinen jüngsten Büchern diese Fähigkeit und Aufgabe des echten
Lyrikers mehr und mehr entdeckt. Wo früher in seinen dichterischen Versuchen
ein rein rhetorisches, oft echtes, oft aber auch leeres Bemühen um die Darstellung des
Motivs herumging, es beredete, statt zu dichten, statt seine innere gesetzmäßige
Form aus dem Material herauszuhauen, findet sich jetzt häufiger der Eigenausdruck,
die im Erlebnis erfahrene 'Form'. Impulsives Gemüt und leidenschaftliches
Phantasiebedürfnis hatten Müller bisher mehr nach außen als nach innen
geführt. In der strengen Selbsterforschung seiner seelischen Erlebnisse und ihrer
objektiv exakten Ausschöpfung hätte sein stürmisches Temperament die natürliche
Ab[234]leitung und sein entsprechend begnadetes Talent die Aufgabe längst finden
sollen. Er hat einen andern Ausweg, vielleicht nur Umweg, gesucht, er hat sich an
bereits objektivierte Gestalten der Sage, der Geschichte, des Alltagslebens
hingegeben. Die Gedichte dieser Art von ihm sind mit Recht geschätzt. Aber auch
da läßt sich der Mangel der strengen Selbstschulung des Lyrikers, ohne die auch
der Epiker und Dramatiker nicht besteht, nicht verkennen. Seine Gestalten sind
meist mehr mit einer äußeren, allerdings starken und reichen Phantasie
aufgebaut und umkleidet als von innen heraus belebt; an dem Übermaß an
äußerer Farbigkeit merkt man förmlich, daß hier ein starkes
Temperament sich verbrandet, das gewiß einen harmonischen Ausgleich finden
würde, wenn es den 'geheimnisvollen Weg' des Novalis, der nach innen führt,
mehr als bisher beträte, was seine jüngsten Bücher in steigendem Maße zu
verraten scheinen. Dadurch wird auch seine Epik an innerem Leben gewinnen, was sie
an äußerer Glut, die die Kritik hätte weniger lobpreisen dürfen, verlöre.
Denn Müller ist eine dichterische Kraft, und deshalb sollte er eine
ebenso starke künstlerische sein.
Ein poetisches Motiv, ausgeschöpft und recht geschaffen, ist für den
Dichter und seine weitere Entwicklung mehr wert als ein ganzer Band
unausgeschöpfter oder nachlässig und unselbständig geschaffener, wie im Leben eine
durchgeführte Handlung mehr wert ist als hundert gewollte oder halbe.
'Schläft ein Lied in allen Dingen',
aber es hebt nicht an zu klingen, wenn man sie bedichtet,
sondern nur wenn man sie dichtet, d. h. ihr
Wesen, ihr Eigentümlichstes aus ihnen herausholt und darstellt. Erst muß man also
das Ding gründlch kennen. Das braucht nicht zu geschehen und geschieht beim
echten Dichter wohl auch zumeist nicht auf langem Wege, sondern auf dem der Intuition;
aber Intuition ist nicht ein Einfaches, sondern ein konzentriert Vielfaches, in
dem oft Hunderte von Momenten sich sammeln und scheiden. Die Darstellung selbst
aber ist Fleiß, Arbeit, Übung, kein Sichgehenlassen, kein Schlendrian.
Freilich ist es dadurch allein ja nicht getan, schließlich kommt es für
die Beurteilung und den Wirkungswert der Persönlichkeit des Dichters darauf an,
wie viel an Welt und Leben er in sich aufzunehmen, in welcher Tiefe und Fülle
des Gehaltes er es aus sich herauszustellen vermag, aber schon an sich ist Formwille,
auch im einzelnen und kleinsten, immer wertvoller als Formlosigkeit
und -nachlässigkeit, wobei allerdings Form nicht als äußerlich akademische
Formfertigkeit, sondern als das Zutagetreten des Gehaltes, der inneren Form,
zu begreifen ist.
Ganz kleine Bildchen zeichnet z. B. Kurt von Stutterheim in seinen 'Gedichten' (Leipzig Insel), Augenblicke, die die meisten Menschen kaum des Achtens Wert halten. Sie zeichnen sich durch keine äußere Form aus, auch nicht durch einen bedeutenden Gehalt, vielmehr es sind lauter alltägliche Dinge, und doch offenbaren sie in der Art, wie bestimmte kleine Züge des Lebens besonders erfaßt und gegeben werden, eine dahinterstehende Persönlichkeit von einer vornehm verhaltenen, innerlich stark ergriffenen und ergreifenden Veranlagung, und auch im einzelnen Gedicht ist immer ein intimer Seelenzustand- oder -vorgang wenn nicht ausgestaltet, so doch bestimmt angedeutet, der den Leser oder Lauscher in die gleiche Richtung zwingt und zugleich doch ein allgemeines Lebensgefühl auslöst:
Morgen ist es,
Gärtnerburschen
gießen hier und dort ein Beet,
sehen lässig
durch das Gitter,
wer des Wegs vorüber geht.
[235] Und die Blumen,
rote, gelbe,
leuchten von dem frischen Guß;
mancher bleibt
am Zaune stehen,
eh er fort zur Arbeit muß.
Energischen Willen und Selbstzwang, das Motiv voll zu erfassen und zu
gestalten, bezeugen überall auch die Gedichte von Ilse Franke
(Von beiden Ufern. Darmstadt, Dreililienverlag). Sie ist nicht unbeeinflußt
von der modernen literarischen Konvention, aber sie strebt stets entschieden
und steigt häufig darüber hinaus zu ganz selbständigen eigenen Erlebnissen,
in diesem Buche weit mehr noch als in ihrem früheren. Es ist eine Freude,
dieser wachsenden Energie und Sicherheit in der Beherrschung des Materials,
der Sprache zu folgen. In manchen Strophen spürt man den Ernst und Fleiß,
mit der die Worte zur Form geschmiedet wurden, noch deutlich durch. Das ist
das stärkste Zeichen einer sich nicht leicht und lässig genugtuenden, sondern
künstlerisch vorwärtstreibenden und getriebenen Kraft. Den lyrischen Urton allerdings
erreicht sie kaum einmal, der weiblichen Begabungen überhaupt nur selten gelingt.
Sie bleibt sehr oft bloß im Anschaulichen, dem Bedeutung erst von Außen
verliehen wird, stecken; ihre Farben sind immerhin künstlerisch angewandte, nie
nur aufgetragene, haben aber einzeln für sich oft zuviel Selbständigkeit und
nicht jenes völlige, restlose Aufgehen in der originalen Melodie, das dem
einzelnen Ton, dem einzelnen Wort jeden anderen als den die künstlerische
Einheit wirkenden Wert nimmt.
Das gelingt in vielem Ernst Lissauer in seinen Gedichten 'Der Strom' (Jena,
Diederichs); aber auch sie sind im Anschaulichen begrenzt, und zudem von einer
zu bewußten, mehr von vornherein angenommenen als in jedem Ding eigens
erfahrenen Lebensanschauung bestimmt, so zwar, daß jenes unbestimmbares Etwas, das
immer den Reiz und Wert höchster Lyrik bilden wird, nur schwer aufkommt. Es
steckt mehr bewußter Wille zu bestimmter Weltschau, Ethos, darin, als
unbeeinflußte Erfahrung, Pathos im ursprünglichen Sinne des Wortes, mehr
Charakterwille als Charakter, der nie bloß vornehmbar ist, sondern wird,
wächst. Die Grundlage dieser Gedichte ist eher künstlich als künstlerisch.
Wer den Unterschied sehen will, vergleiche sie mit der unter Schmerzen und Lust geborenen
Kunst Dehmels, von dem Lissauer wohl am meisten beeinflußt ist. Sie sind
um so vieles leichter, klarer, verständlicher, jener geheimnisvollen Untertöne bar,
wie eine angenommene Lebensanschauung leichter ist als eine in allem Wandel,
durch alle Wege erstrittene, mit all den unendlichen Nuancen des jeweiligen
Erlebens gesättigte. Das muß betont werden, bevor man den Ernst und die
Selbstzucht in der künstlerischen Bemühung Lissauers anerkennt. Sein Wille, die von
ihm akzeptierte Lebensanschauung ist die unbedingter freudigster Lebensbejahung, was
ihm als Erben eines Jahrhunderts von Goethe bis Nietzsche und vor allem Dehmel und Verhaeren
nicht schwer sein brauchte – wenn es ihm schwerer geworden wäre, würde man ihn als
verheißungsvoll für eine nächste Zukunft eher begrüßen können, denn es
ist wirklich schwer, einer solchen optimistischen Lebensanschauung
bedingungslos zuzustimmen! – Aber eine solche akzeptierte Lebensanschauung,
eine jugendlich begeisterte, keine auf eigenem Acker langsam selbstgereifte,
einmal gelten gelassen, kann man sich wirklich der Selbstzucht, einer sowohl rein
menschlichen wie entsprechend künstlerischen, freuen, die der junge Dichter auf
die Beherrschung der Welt der Erscheinungen durch das Wort verwendet. Innerhalb des
angedeuteten Rahmens gelingt ihm da Außerordentliches, es gelingt ihm,
uns mit den heterogensten Dingen des engen Umkreises des Hauses und des breiteren
Lebens im Sinne seines vorgefaßten Ausschaupunktes sympathisch zu machen,
z. B.:
[236]Balkons in der Vorstadt
Stube an Stube langhin aneinandergestaut,
Stockwerk auf Stockwerk getürmt, Wolken und Sterne verbaut,
Weithin Stein und Asphalt –
Wächst irgendwo Weizen und Wald?
Dunst, Rauch, Staub –
Rauscht irgenwo Welle und Laub?
Nie von starkem Leuchten besonnt
wie gemauerter Nebel starrt die unendliche Front.
Doch an jedem Haus, jedem Geschoß, immer zu zweit,
Balkone, schwebende Zimmer, hangen
in langen
Fluchten zur Rechten und Linken die Straße hinuntergereiht;
Aus Wein und aus Efeu geflochten Wände aus Grün,
irdene Töpfe, drin rote Geranien und Fuchsien blühn,
Stücke Wiese und Wuchs, verwehte, verstreute –
Land der landlosen Leute.
Trotz alledem, trotz dieser prächtigen Energie in der Ausbeutung der Mittel zur Gestaltung, weht ein Gefühl der Kühle, ein mehr mit dem Verstand Begriffen- und Beherrschtsein der gestalteten Dinge an sich und in der Berechnung der technischen Mittel mindert offenbar die Wirkung dieser Rhythmen, die noch keine Persönlichkeit mit reichem eigenem, individuellem Erleben, sondern erst eine bewußte Einstellung einer erst wenig durch tiefere Erlebnisse verinnerlichten Phantasie auf eine bestimmte Lebensansicht verraten. Sie werden denn auch nicht, wie eine überbegeisterte Kritik prophezeien zu müssen glaubt, die alte Lyrik totschlagen, deren wesentlichste Bedingungen in einem individuell, nicht von einem vorgefaßten allgemeinen Standpunkte aus, von nuanciertem Erlebnis zu nuanciertem Erlebnis getragenen erlebnisdürftigen Charakter, Lissauer noch nicht aufgegangen sind.
Von Konrad Ferdinand Meyer, den man für Lissauer beschworen hat,
sind die Gedichte außer anderem
gerade durch dieses fehlende lyrische Etwas, das im Tiefstpersönlichen wurzelt,
himmelweit unterschieden. Ich möchte bei dieser Gelegenheit auf einen Landsmann
Konrad Ferdinand Meyers und Gottfried Kellers hinweisen, der gerade das, was immer
eigentlichste Lyrik belebt und auch fernerhin beleben wird, in feinem Maße besitzt,
und ebenso Meyers und Kellers künstlerische Formenergie, von der die Gedichte, die
im vorigen Hefte zum Abdruck kamen, zeugen mögen. Wer die früheren Gedichte
Fridolin Hofers kennt, wird sich dieser wachsenden Gestaltungskraft
genießend freuen und an ihr sehen können, was künstlerische Selbstzucht
ist und was sie vermag.
Erstdruck und Druckvorlage
Hochland.
Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst.
Jg. 10, 1912/13, Heft 2, November 1912, S. 230-236.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Hochland online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Hochland_(Monatsschrift)
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008919913
Hochland Inhaltsverzeichnisse
URN: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:824-31-ba-2940-4
Zeitschriften-Repertorien
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer