Philipp Witkop

 

 

Über Lyrik und Lyriker

 

 

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Texte zur George-Rezeption

 

Epos. Drama. Lyrik.

Goethe und Schiller sahen in ihrem Briefwechsel den Unterschied zwischen Epos und Drama darin, "daß der Epiker die Begebenheit als vollkommen vergangen vorträgt und der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig darstellt." Wir tun gut, uns mit diesem äußeren Unterschiede zu begnügen, uns aber selbst dann noch an Schillers Hinweis zu erinnern, daß "die Tragödie in ihrem höchsten Begriffe immer zu dem epischen Charakter (des Vergangenen) hinauf, das epische Gedicht ebenso zu dem Drama (dem Gegenwärtigen) herunterstrebe": Epos und Drama sind im Grunde verwandte und zustrebende Dichtungsarten.

Wenn wir daher die Stellung der Lyrik klar sehen wollen, so wird es uns fördern, sie in ihrer scharfumschlossenen Eigenart den verwandten Arten des Epos und Dramas in ihrer Gemeinsamkeit gegenüberzustellen. Und gleich springt uns das eine in die Augen: Epos und Drama geben uns die Welt (in der sich allerdings in wechselnder Stärke der Dichter aussprechen kann), die Lyrik gibt uns einsam und unmittelbar den Dichter, das Individuum. Epos und Drama stehen und fallen mit der inneren Wahrheit, in der sie uns die Welt vorführen, sei es die äußere Welt ihres Gegenständlichen oder die innere ihrer Personen. Für ihre künstlerische Notwendigkeit ist es vollkommen gleichgültig, ob und wieweit sich der Dichter in dieser Welt offenbart. Ja, ein gar zu lebhaftes Sichvordrängen des Dichters kann ihre künstlerische Einheit und Wahrheit vernichten. In der [10] Lyrik aber stürzt die starre Herrschaft der Welt, die Despotie all ihrer Dinge und Personen. Ob sie falsch oder richtig erfahren und gedeutet, ob sie anerkannt oder geleugnet werden, ist wesentlich bedeutungslos. Sie haben den Rang, den das Individuum ihnen zuerteilt. Nur was das Individuum aus ihnen machen will oder zu machen weiß, das ist ihre Macht. So sie nicht im Individuum wurden, sind sie nicht geworden.

Die Lyrik ist die durchaus individuelle Dichtungsart.

 

 

Der objektive und subjektive Dichter.

 

Das Wesen aller Dichtung ist bedingt im Dichter. Der Wesensunterschied von Epos, Drama und Lyrik wird sich zunächst im Wesen ihrer Dichter wiederfinden. Unmöglich können sie sich in ihrer innersten Höhe und Reinheit in ein und demselben Dichter vollenden: Die Objektivität der episch-dramatischen, die Subjektivität der lyrischen Dichtung fordern den seiner Wesenheit nach objektiven oder subjektiven Dichter – Shakespeare und Goethe, das größte dramatische, das größte lyrische Genie der Weltliteratur geben uns ihre Typen.

A. W. Schlegel sagt in einem Athenäumsfragment: "Die Eigenschaft des dramatischen Dichters scheint es zu sein, sich selbst mit freigebiger Großmut an andere Personen zu verlieren, des lyrischen, mit liebevollem Egoismus alles zu sich herüberzuziehen." Man muß sich hüten, diesen Gegensatz gar zu einfach zu fassen. Neuere Forscher haben geglaubt, ihn klar und letztlich in ein "Hie Objekt! Hie Subjekt!" auseinanderlegen zu können: Der objektive Dichter gebe sein Ich preis, damit die Welt sei, der subjektive löse die Welt auf, um nur in sich zu sein. So hat man Shakespeare zu einem Genie der äußeren Beobachtung gemacht, dem im steten, fiebrischen, willkürlichen und unwillkürlichen Suchen nach [11] Erfahrungen, neuen Lebenskreisen, neuen bedeutsamen Menschen keine Zeit blieb, sich selber zu suchen, "kein Bedürfnis, in sich einen Zusammenhang von energischen Überzeugungen zu versammeln oder ein Selbst von imponierender Macht zu gestalten. Ihm war alles: jede menschliche Natur und Leidenschaft bis in ihre äußersten Konsequenzen und geheimsten Schlupfwinkel zu verfolgen. Hiermit ist seine Darstellungsweise einstimmig, welche die Menschen hinstellt, wie sie der Beobachter im Leben von außen gewahrt, in völliger Deutlichkeit der körperlichen Umrisse, in Willensbewegung, ihre letzten Beweggründe zuweilen undurchdringlich". Nur ein Gelehrter, dem seine Wissenschaft immer Stoff und Gegenstand bleibt, immer ein allgemeines körperliches oder geistiges Objekt, konnte sich von einem künstlerischen Genie diese seltsame Vorstellung machen. Als wenn man einen genialen Charakter gestalten könnte, ohne selber einer zu sein! Als wenn man irgend etwas gestalten könnte, ohne es selbst zu sein! Künstler dritten und vierten Ranges mögen wohl auch mit übernommenem Leben schalten. Aber die große Kunst, alles wahrhaft Schöpferische kann nicht durch äußere Beobachtung, kann nur im ureigenen, ursprünglichen Leben gebildet werden. So darf man die Art des objektiven Dichters nicht mißverstehen. "Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität." Dieses Wort Schillers gilt von allen Dichtern, von allen Künstlern. Das Individuelle ist das Wesen der Kunst im Gegensatz zur Wissenschaft, die das Allgemeine will. Nur die Art, in der uns der Dichter seine Individualität gibt, ist verschieden: der Dramatiker und Epiker gibt sie uns mittelbar, der Lyriker unmittelbar. In beiden ist es die Übergewalt des Lebensgefühls, das sie zum Ausdruck, zur Gestaltung drängt. Aber Art und Bewegung dieses Lebensgefühls ist beim Epiker und Dramatiker zentri[12]fugal, in gewaltigen Wellen und Wirbeln strömt es von seinem Innersten in die Objekte, beim Lyriker ist die Bewegung zentripetal, sie reißt die Welt der Objekte in immer engeren Wirbeln in das eigen innerste Ich.

So mag man auf den Dramatiker und Epiker das Wort des Novalis deuten, "daß er gleichsam in allen Gegenständen steckt, die er betrachtet, und die unendlichen, unbegreiflichen, gleichzeitigen Empfindungen eines zusammenstimmenden Pluralis fühlt." Den Lyriker aber trifft des Novalis eigenster Wahlspruch: "Nach innen geht der geheimnisvolle Weg!" und: "Mich führt alles in mich selbst zurück." Nein, dem Lyriker sind Dinge und Menschen da draußen nichts: "Selig, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt!" Sie sind ihm nichts, sofern sie nicht Brücken sind, die ihn zu sich selber führen. "Lieben heißt: im anderen sich selbst erobern," sagt Hebbel. Dies ist die Liebe des Lyrikers zur Welt. Wo er nicht sich selber zu finden hofft, dort sucht er nicht; wo er nicht um sich selber kämpft, ruhen seine Waffen. Seines Lebens Ziel und Inhalt ist das Suchen nach sich selbst: seine Entwicklung und Vollendung. Im persönlichsten Sinne gilt von ihm Goethes Wort aus den Sprüchen in Prosa: "Wir wissen von keiner Welt als in Bezug auf den Menschen; wir wollen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezuges ist."

 

 

Leben und Erlebnis.

 

Dem Lyriker sind Dinge und Menschen nichts, sofern sie nicht Brücken sind, die ihn zu sich selber führen. Sie sind ihm nicht Ziel, aber sie sind ihm Weg. Und zwar ein notwendiger Weg. Das Innere gestaltet sich nur in den Reflexen der Welt. Leben besteht überall in der Wechselwirkung eines beseelten Körpers mit einer Außenwelt, die ihm als Umwelt gegeben ist. "Aus [13] der Außenwelt stammt das Spiel der Reize, das sich im Seelenleben als Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung projiziert; die so entstehenden Veränderungen werden nach ihrem Werte für das Eigenleben im Mannigfachen der Gefühle erlebt und gemessen; dann von den Gefühlen aus Triebe, Begehrungen und Willensvorgänge in Bewegung gesetzt; entweder wird nun die Wirklichkeit dem Eigenleben angepaßt und so rückwärts vom Selbst aus die äußere Wirklichkeit beeinflußt, oder das Eigenleben fügt sich der harten und spröden Wirklichkeit. So besteht eine beständige Wechselwirkung zwischen dem Selbst und dem Milieu äußerer Wirklichkeit, in dem es sich findet, und in ihr ist unser Leben." (Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters.)

Diese beständige Wechselwirkung verdichtet sich in markanten Momenten unseres Lebens: im Erlebnis. Erst in ihm werden wir uns ihrer tief bewußt. In ihm geschieht es dem lyrischen Dichter, daß Subjekt und Objekt sich erfassen, dies in jenem zündet, jenes dies ergreift und sein Weltgefühl in einem Einzelgefühl ausspricht: "Die Lyrik ist ein punktuelles Zünden der Welt im Subjekt." (Vischer.)

Erlebnis und Erfahrung sind die Grundlage aller lyrischen Dichtung. "Die Welt ist so groß und reich und das Leben so mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten aus der Luft gegriffen halte ich nichts," sagt Goethe zu Eckermann. Und ähnlich sagt Uhland: "In gewissem Betracht sind die meisten lyri[14]schen Gedichte Gelegenheitsgedichte. Sie nehmen ihren Anlaß von bestimmten Erscheinungen und Ereignissen, welche die poetische Stimmung anregen."

Aber wohlgemerkt: Das äußere Erlebnis an sich gibt dem Lyriker nicht das Wesen, <es> gibt ihm nur den Anlaß seines Gedichtes. Das äußere Erlebnis muß erst ein inneres geworden sein, eine Stufe zu innerster Erkenntnis und Entwicklung. "Ein Faktum gilt nicht, sofern es wahr ist, sondern, sofern es etwas zu bedeuten hatte," sagt Goethe zu Eckermann. Und er mahnt die jungen Dichter: "Ihr habt jetzt eigentlich keine Norm, die müßt ihr euch selbst geben. Fragt euch nur bei jedem Gedicht, ob es ein Erlebtes enthalte und ob dies Erlebte euch gefördert habe. Ihr seid nicht gefördert, wenn ihr eine Geliebte, die ihr durch Entfernung, Untreue, Tod verloren habt, immerfort betrauert. Das ist gar nichts wert, und wenn ihr noch soviel Geschick und Talent dabei aufopfert. Man halte sich ans fortschreitende Leben und prüfe sich bei Gelegenheiten. Denn da beweist sich's im Augenblick, ob wir lebendig sind, und bei späterer Betrachtung, ob wir lebendig waren." (Noch ein Wort für junge Dichter.) Und mit entschiedener Betonung erklärt Hebbel: "Gefühl ist das unmittelbar von innen herauswirkende Leben, die Kraft es zu begrenzen und darzustellen macht den lyrischen Dichter. Man werfe nicht ein, daß es Gefühle genug gibt, die infolge äußerer Eindrücke entstehen, und daß auch diese oft genug vom Dichter ausgesprochen worden sind: ich bin sehr geneigt, zwischen den Resultaten dieser Eindrücke und den in geweihten Augenblicken aus der Tiefe der Seele heraussteigenden zu unterscheiden und jedenfalls sind nur diese Aufgaben des lyrischen Dichters, denn nur in ihnen lebt eigentlich der ganze Mensch, nur sie sind das Produkt seines ganzen Seins." (Tagebücher I.)

[15] Erst in den Tiefen liegen die Fundamente der Wahrheit, die ein Gedicht über den Tag hinauszutragen und zu halten vermögen. Das äußere Erlebnis ist immer ein zufälliges, das Gedicht selber braucht nichts von ihm zu wissen, ja, es kann uns ein anderes, mehr anschauliches und einheitliches vortäuschen. Ein vorgetäuschtes inneres Erlebnis – und mag es technisch noch so geschickt umkleidet sein – macht das Gedicht hohl und unwahr. Es wird den Stürmen der Jahre nicht standhalten. Im Sinne Hebbels wird das Jahrhundert den Richtspruch fällen: "Werke schreiben, die nicht aus dem Innern hervorgehen und sich doch für den Ausdruck eines solchen geben, das heißt, Empfindungen aussprechen, die man nicht hat, sondern die man nur einfängt wie Vögel, auf deren Gesang man andere horchen sah, und Dinge sagen, die man nicht fühlt – im gewöhnlichen Leben also Lügen, Handlungen verrichten, die einem nicht bloß gleichgültig, sondern von denen man das Gegenteil tun möchte: Beides kommt auf eins heraus." (Tagebücher II.)

 

 

Gestaltung und Form.

 

"Ein gemachtes Gedicht ist auch dasjenige, woran die Empfindung wahr ist aber nicht die Form." (Hebbel, Tagebücher II.) Der allgemeinen, menschlichen, persönlichen Wahrheit muß sich im Gedicht die künstlerische Wahrheit verbinden: Seine in bewußter Gestaltung errungene notwendige Form. Erst in der Einheit beider keimt die Lebenseinheit, Wahrheit und Notwendigkeit des Gedichts.

Die alte Poetik hat das Werden und Gestalten der Dichtung als ein Fremdes empfunden, das, dem Dichter selbst unbewußt, keime, wachse und sich vollende. Ihre bequeme Lehre von der "Inspiration" ist heute wider[16]legt. Sie konnte es vielleicht erst werden, nachdem sich der subjektive Dichter in seiner ganzen persönlichen Bewußtheit entwickelt hatte und in sich selber einen Vorgang wahrnahm, der die psychologische Grundfrage des lyrischen Schaffens bildet. Es ist die innere Zweiheit der dichterischen Tätigkeit, in der die Gestaltung vor sich geht, die Form sich vollendet: Sobald im Lyriker ein Gefühl oder ein inneres Erlebnis zur künstlerischen Gestaltung drängt, vollzieht sich die Entzweiung. Der Dichter tritt dem Menschen gegenüber. Der Lyriker ist zugleich Subjekt und Objekt.

Es ist eine geheimnisvolle und gefährliche Zweiheit. Sie hat uns eine seltsame Art des modernen Dichters gebracht, dessen Haltlosigkeit und Zerrissenheit dieser Gefahr nicht standhalten, sich aus dieser Zweiheit nicht wieder zurückzufinden wußte:

In unausgesetzter Nachstellung verfolgt er seine Stimmungen, Empfindungen, Zustände, sucht, seziert und registriert er die Vorgänge seines Innern. Nicht um gleich dem wahren subjektiven Dichter so sich selber zu sammeln und zu vollenden: In einem Zustand müder Depersonalisation ist er sich selber ein Fremdes geworden. "Es handelt sich da weniger um eine Erlösung – bekennt Thomas Mann im Tonio Kröger – als um ein Kaltstellen und Aufeislegen der Empfindung." Nicht sein Leben ist ihm wertvoll, sondern das Analysieren und Formulieren und Aussprechen seines Lebens.

Über die Zweiheit im Dichter hinaus haben die Romantiker schon dies Urproblem des lyrischen Dichters als Problem des Menschen gesetzt: "Denn niemand kennt sich, insofern er nur er selbst und nicht auch zugleich ein anderer ist." (Novalis, Fragmente.) Es war ihnen ein reizender Abgrund, in dessen Tiefen sie immer wieder hineinverlangte. Gerade ihren durchaus subjektiven, lyrischen und passiven Naturen mußte dies [17] nahe liegen. Ricarda Huch hat es ihnen als eigentlichstes Problem gegeben. Staunend spricht Tieck von der "wunderbaren Doppelheit der Seele und des Geistes, der im Denken zugleich diesem Denken zusieht und es prüfend erwägt, der sich selbst beobachtet und seine Art und Eigenschaft begreift, Schauspieler und Zuschauer zugleich ist, und nur in diesen Momenten sich recht wahrhaft seiner bewußt wird". (Aufruhr in den Cevennen.)

Vor diesem Prüfen und Erwägen, vor dieser gesteigerten höchsten Bewußtheit zerfällt das alte Märchen von der Inspiration, von des Dichters dunkler, ekstatischer Verrückung. Wir sehen den Wesensunterschied zwischen der dichterischen Produktion und Traum, Wahnsinn und Hypnose, die früher gern als wesensähnlich herangezogen wurden. In all diesen Zuständen ist der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens gemindert, in der dichterischen Produktion wird seine ganze Energie in der Richtung freien, bewußten Schaffens verwandt. Interessante Vergleiche geben hier Hölderlins Gedichte aus der Wahnsinnszeit.

Wie außerordentlich die Bewußtheit und Energie des Lyrikers sich in der Gestaltung zusammenrafft, davon machen wir uns gewöhnlich eine viel zu geringe Vorstellung: Die dunkle Totalidee seines Werkes steht vor ihm. Es gilt, sie sich im tiefsten Sinne zu eigen zu machen. Aus ihrer dunklen Allgemeinheit, aus ihren Zusammenhängen mit den Dingen und Menschen draußen muß er sie restlos zu sich herüberziehen, in all ihren Umrissen und Inhalten muß er sie zu seinem individuellsten Besitz machen. Aber noch in ihm selber bleibt das Gebot, sie immer tiefer zu erwerben, immer innerlicher zu gewinnen, sie loszulösen aus der Unruhe und Mannigfaltigkeit des ganzen Selbst, sie zu isolieren. Denn als identisch kann nur festgehalten werden, was für sich, losgelöst vorgestellt wird.

[18] Nun wollen Gefühl und Gedanke zur Einheit verschmolzen werden, jedes Gefühl, jeder Gedanke soll in die Einheit des Ganzen münden, jedes Bild soll der notwendige Ausdruck dieser Einheit werden, ja jede Zeile soll in ihrer rhythmischen Folge sich dem Stimmungston des Ganzen verbinden. Und doch soll diese Notwendigkeit sich als Freiheit äußern: "Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen, steht das Bild vor dem entzückten Blick!"

So durchdringen sich in jedem wahren Gedicht das Allgemeinste und Individuellste. Und nur dieses "Individualisieren führt zur ewigen, inneren Form, von der die äußere nur die Firnis ist, und nur aus der vollendeten Form geht das Befreiende hervor. Unter Befreiung verstehe ich den Akt, der das Gedicht, das immer in einem subjektiven Bedürfnis wurzelt und wurzeln muß, wenn es nicht kalt sein und lassen soll, gewissermaßen von dieser seiner Nabelschnur ablöst." (Hebbel, Tagebücher I.)

 

 

Befreiung, Beruhigung, Berichtigung.

 

Je mehr das Erlebnis und Gefühl des Dichters sich gestaltet, sich zum vollendeten Gedicht objektiviert, desto mehr hört es auf, Gefühl zu sein. Der Lyriker befreit sich von seiner Unruhe und Erregung in der dichterischen Gestaltung.

Das Lebensgefühl des Künstlers, des Dichters, vor allem aber des lyrischen Dichters, ist von einer Sensitivität, die über das Maß des Gewöhnlichen weit hinausgeht. Seine Freuden und Leiden sind von einem Reichtum und einer Tiefe, davon der Durchschnittsmensch wenig ahnen mag. Erscheinungen und Erlebnisse, die den Seelenspiegel der Meisten kaum zu kräuseln streben, türmen sich in seinem Innern zu [19] Stürmen und Wogen auf. Michelangelos Verse wissen davon:

Reiß aus der Glut mich, und von ihr getrennt,
Muß ich, wo alles sicher lebt, verderben;
Ich nähr' mich nur von dem, was glüht und brennt,
Und leb' von dem, woran die andern sterben.

Er müßte zugrunde gehen an diesem Übermaß der Empfindungen und Kämpfe, wenn ihm nicht mit dieser höheren Passivität eine ausgleichende Aktivität geworden wäre.

In seinen Vorlesungen über Ästhetik sagt Heinrich von Stein: "Beim Erwachen aus einem bangen Traum entledigen wir uns durch einen Schrei des Druckes, der auf uns lastet. Dies ist das Urphänomen des künstlerischen Schaffens. Der Künstler befreit sich von dem quälenden Übermaß der Eindrücke, indem er ausspricht, was in ihm vorgeht." Was uns hier in der Anschaung erklärt wird, gibt uns Hebbel, der Grübler, streng und gedanklich: "Die Darstellung tötet das Darzustellende, zunächst im Darsteller selbst, der das, was ihm bis dahin zu schaffen machte, durch sie unter die Füße bringt." (Tagebücher II.) Der ungeheuerliche Ausspruch, den er in seinen Tagebüchern über Shakespeare tut, kommt uns ins Gedächtnis:

"Daß Shakespeare Mörder schuf, war seine Rettung, daß er nicht selbst Mörder zu werden brauchte. Und wenn dies einer solchen Kraft gegenüber zu viel gesagt sein könnte, so ist doch sehr gut eine gebrochene Dichternatur denkbar, bei der das in anderen Menschen gebundene und von vornherein ins Gleichgewicht gebrachte, im Künstler aber entfesselte und auf ein zu erringendes Gleichgewicht angewiesene elementarische Leben unmittelbar in Taten hervordringt, weil die künstlerischen Produktionen in sich ersticken oder in der Geburt verunglücken."

[20] Wieder tritt Goethe vor uns hin mit seinem Bekenntnis aus Wahrheit und Dichtung: "Verlangte ich zu meinen Gedichten eine wahre Unterlage und Reflexion, so mußte ich in meinen Busen greifen. Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Lied, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, in mir sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extrem in das andere warf."

Wir sehen, wie notwendig dem Lyriker das Gedicht ist, um stark und aufrecht zu bleiben, dem Leben um sich und in sich standzuhalten, sich im Innern zu beruhigen. Wie aber vermag ein Gedicht über diesen heilsamen, diesen ausgleichenden Einfluß hinauszugehen, wie vermag es dem Lyriker "seine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen"?

Rilke sagt in seinem schönen Buch über Rodin vom bildenden Künstler: "Ein Bildnis schaffen hieß für ihn, in einem gegebenen Gesicht Ewigkeit suchen, jenes Stück Ewigkeit, mit dem es teilnahm am Gange ewiger Dinge. Er hat keinen gebildet, den er nicht ein wenig aus den Angeln gehoben hätte in die Zukunft hinein, wie man ein Ding vor den Himmel hält, um seine Formen reiner und einfacher zu verstehen. Das ist nicht, was man verschönern heißt, und auch charakteristisch machen ist kein passender Ausdruck dafür. Es ist mehr: es ist, das Dauernde vom Vergänglichen scheiden, Gericht halten, gerecht sein."

Dieses Wort gilt auch vom Dichter. Sobald er aus dem rein menschlichen in das künstlerische Leben hinüberschreitet, hebt er das Ding, die Person, hebt er [21] seinen eigenen Zustand ein wenig aus den Angeln, hält er sein Leben und Erlebnis vor den ewigfreien Himmel der Kunst, um es in seiner Bedingtheit reiner und einfacher zu verstehen, um das Dauernde seines Erlebnisses vom Vergänglichen zu scheiden, um "seine Begriffe von den Dingen zu berichtigen".

In diesem Sinne gilt Michelangelos schlichtes, schönes Wort, das uns Francesco d'Olanda berichtet: "Die echte Kunst ist edel und fromm durch den Geist, in dem sie arbeitet. Denn für die, welche es begreifen, macht nichts die Seele so fromm und rein, als die Mühe: etwas Vollendetes zu schaffen." In diesem Sinne gilt Hebbels "beste Definition": "Die lyrische Poesie soll das Menschenherz seiner schönsten, edelsten und erhabensten Gefühle teilhaftig machen" (Tagebücher I), sofern wir unter dem Menschenherzen zuerst das Herz des Dichters denken. Und in diesem Sinne erst verstehen wir Goethes Ausspruch in seiner ganzen Tiefe und Ausdehnung:

"Die Gedichte machen mich, nicht ich sie."

Indem aber der Dichter seinen Zustand, sein Erlebnis in ihrer Bedingtheit sieht und dichtet, geht sein Gedicht über das Zufällige des Zustandes, das Stückwerk des Einzelerlebnisses hinaus: es wird symbolisch. Es zeigt uns im Zeitlichen das Ewige, im Zufälligen das Notwendige, im Besonderen das Allgemeine. Nur insofern es dieses vermag, erhebt es das persönliche, vergängliche Leben und Erleben des Dichters in das allgemeine und ewige Leben der Kunst.

"Nur durch Beziehung aufs Unendliche entsteht Gehalt und Nutzen, was sich nicht darauf bezieht, ist schlechthin leer und unnütz." "Mit nichten haftet und klebt sein Interesse nur an den Personen, Begebenheiten und Variationen und den individuellen Neigungen: Für den wahren Dichter ist alles dieses, so innig es auch [22] seine Seele umschließen mag, nur Hindeutung auf das Höhere, Unendliche, Hieroglyphe der einen ewigen Liebe und der heiligen Lebensfülle der bildenden Natur." (Friedrich Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie.)

"Es ist der Vorzug höherer Naturen, daß sie die Welt mit allen ihren Einzelheiten immer symbolisch sehen." (Hebbel, Tagebücher I.)

"Der Künstler sieht nichts als das Ganze und in jedem Gliede sein Spiegelbild. Und dahin zu gelangen, sei das Ziel eines jeden, der vorzudringen wünscht zur Anschauung und Auffassung oder zu selbsteigener Tätigkeit im Gebiet wahrer Kunst; nur dann würdigt ihn die Natur, ihre innersten Geheimnisse auszusprechen, wenn er sich bestrebt, nicht bloß für ihre Donner, sondern auch für den leisesten Hauch ihrer immer lebendigen Schöpfungskraft empfänglich zu sein. Wenn du den sterbenden Laokoon siehst, sollst du nicht weniger, aber wenn die Blume vertrocknet, sollst du mehr empfinden." (Tagebücher I.)

 

 

Die Persönlichkeit.

 

Aber kein Dichter wird es dauernd vermögen, im Besonderen das Allgemeine, im Zufälligen das Notwendige, im Zeitlichen das Ewige zu zeigen, der nicht auch das Besondere seiner Persönlichkeit zum Allgemeinen gesteigert, das Zufällige in sich zum Notwendigen gereinigt und emporgehoben, das Zeitliche in sich im Allgemeingültigen und Ewigen bestimmt hat.

Es scheint so selbstverständlich zu sein in einer Kunst, die ganz und gar im Ausdruck der Persönlichkeit ihr Wesen findet, daß die Bedeutung der Persönlichkeit ihre Voraussetzung ist. Von der Lyrik gilt das Wort Goethes, des Lyrikers: "Poetischer Gehalt ist Ge[23]halt des eigentlichen Lebens." (Noch ein Wort für junge Dichter.) Und darum muß sie für eben sein Wort zum Gesetz werden: "Man muß etwas sein, um etwas zu machen!" (zu Eckermann).

Selbstverständlich scheint das alles. Aber der Einfluß des Volksliedes, seine Nachahmer, seine literaturhistorischen Freunde haben es gleichwohl verwischt und vergessen gemacht. Im Volkslied können wir keine Persönlichkeit suchen, es ist ja seinem Alter und seiner Entstehung gemäß nicht der Ausdruck des Persönlichen, sondern des Typischen. Hier gilt das einzelne Gedicht in seiner Immanenz. Es ist in sich geschlossen und vollendet, und nur kulturhistorische oder nationale Fäden führen aus ihm hinaus. Diese Immanenz hat man ohne Bedenken auch auf das Gedicht des individuellen modernen Lyrikers übertragen, ohne den Wesensunterschied beider Arten zu berücksichtigen. Sofern aber ein Gedicht Ausdruck einer Persönlichkeit ist, wird es niemals völlig in sich begründet sein. Es wird immer über seine Einzelstimmung, über seinen Einzelinhalt hinaus auf das Ganze der Persönlichkeit deuten. Nur insofern die ganze Persönlichkeit aus dem Gedicht heraus zu ahnen ist, ist das Gedicht ein wahrhaft individuelles und damit großes Kunstwerk. Die Größe der Persönlichkeit, die hinter dem Gedicht steht, wirkt bestimmend auf den Wert des Gedichtes.

Wie aber soll es möglich sein, aus einem kleinen lyrischen Gedicht, aus einem Lied, einem Stimmungsbild die Größe eines Dichters zu ahnen, wie kann das Ganze einer Persönlichkeit aus diesen kleinen, scheinbar zufälligen Bildungen herausleuchten? Klar und deutlich antwortet uns ein mathematisches Beispiel: Ein Kreisausschnitt wird uns aus der Weite seines Bogens immer die Größe seines Kreises ahnen lassen.

Man prüfe daraufhin einmal ein Gedicht wie Wan[24]derers Nachtlied: "Über allen Gipfeln ist Ruh". An und für sich wäre es nicht ausgeschlossen, daß ein üblicher Durchschnittslyriker in guter Stunde ein – von außen gesehen – ganz ähnliches Gedicht schriebe. Würden wir es dann zu den ewigen zählen, würde es uns so innerst fassen und erschüttern, wie es heute dieses Gedicht vermag? Nein, nur weil es uns eine gewaltige Persönlichkeit fühlen läßt, weil es uns fühlen läßt, daß hier ein Mensch die Ruhe des Abends erfährt, der einen Tag voll rastloser Tätigkeit, voll tiefster Kämpfe und Unruhen, einen Weg durch die Weiten der Menschheit hinter sich hat, nur darum wirkt diese schlichte Sehnsucht nach Ruhe so groß und ergreifend.

Oder das andere Nachtlied: "Der du von dem Himmel bist". Auch hier sehen wir nur eine Welle, aber an der Höhe der Welle sehen wir, welch ein Meer sie geboren haben muß. Und nur das gibt ihr diese Gewalt über uns.

Darum aber ist dieser Kern in Schillers Kritik von Bürgers Gedichten berechtigt: "Vom Ästhetischen gilt eben das, was vom Sittlichen; wie es hier der moralisch vortreffliche Charakter eines Menschen allein ist, der einer seiner Handlungen den Stempel moralischer Güte aufdrücken kann, so ist es dort nur der reife, vollkommene Geist, von dem das Reife, das Vollkommene ausfließt. Kein noch so großes Talent kann dem einzelnen Kunstwerk verleihen, was dem Schöpfer desselben gebricht, und Mängel, die aus dieser Quelle entspringen, kann selbst die Feile nicht wegnehmen."

Nur des Einen müssen wir uns bewußt bleiben, daß wir nicht im äußeren, sondern im inneren Leben des Lyrikers seine Persönlichkeit sehen, daß wir auch das Wollen der Persönlichkeit zu ihrem Wesen rechnen müssen, und daß es gebrochene Persönlichkeiten gibt, die ihr Seinwollendes nur für Momente ihres Lebens [25] zum Seienden zu erheben vermögen, die aber diese Momente künstlerisch zu gestalten und dadurch bedeutend zu machen wissen, daß sie uns hinter ihnen wenigstens ihre große Sehnsucht und ihr großes Wollen fühlen lassen ...

Die Entwicklung der Persönlichkeit im Lyriker bringt ein Problem, das der Neuzeit längst ein allgemeines bedeutet, das beim Lyriker nur um so unabweisbarer sich aufdrängt, als ihm außerordentlich Wesen und Aufgabe in der Vollendung seiner Persönlichkeit gesetzt sind. Es ist die Universalität der Persönlichkeit, die zum Problem geworden ist.

In den Briefen zur ästhetischen Erziehung klagt Schiller, "daß man von Individuum zu Individuum herumfragen muß, um die Totalität der Gattung zusammenzulesen. Bei uns möchte man versucht sein, zu behaupten, äußern sich die Gemütskräfte auch in der Erfahrung getrennt, wie der Psychologe sie in der Vorstellung scheidet, und wir sehen nicht bloß einzelne Subjekte, sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind." Und in der Rezension von Bürgers Gedichten erkennt er diese "Vereinzelung und getrennte Wirksamkeit unserer Geisteskräfte" als eine Erscheinung, "die der erweiterte Kreis des Wissens und die Absonderung der Berufsgeschäfte notwendig macht".

Windelband, dessen ganze Persönlichkeit der Überwindung dieses Problems zustrebt, hat als erster empfunden, wie sehr dieses gerade zum Problem des Lyrikers werden mußte. Er hat es Hölderlin als das eigentliche und innerste Problem gesetzt.

Die lyrischen Romantiker sind sich dieses Problems am sehnsüchtigsten bewußt geworden. Ihnen war [26] es außerordentlch Ziel und Notwendigkeit, ihr eigen Selbst zum Selbst der Menschheit zu erweitern: "Kein Mensch soll schlechthin Mensch, sondern kann und soll wirklich und in Wahrheit auch die ganze Menschheit sein." (Frd. Schlegel.) Sie sind der Überzeugung, daß der Geist aller Künste und Wissenschaften sich in einem Mittelpunkt begegnet", sie glauben und fordern "die symbolische Wissenschaft vom Ganzen". (Frd. Schlegel, Gespräch über Poesie.) "Alle Kunst soll Wissenschaft und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen geeinigt sein." (Frd. Schlegel.)

Die letzte Hälfte des 19. Jahrhunderts hat die Poesie aus diesem großen kulturellen Zusammenhang herausgerissen. Epigonentum und Naturalismus hatten die Kraft nicht mehr, die von den Vätern ererbte Universalität schöpferisch sich stets aus neue zu eigen zu machen. Goethe, Hölderlin, Novalis, Hebbel sind die einzigen Lyriker geblieben, in denen sich ein wahrhaft universales Leben manifestierte.

Erst die Gegenwart beginnt, sich zaghaft wieder auf ein umfassendes Bildungsideal zu besinnen. Sie hat des Novalis Wort zu deutlich erfahren: "Die Trennung von Poet und Denker ist nur scheinbar und zum Nachteil beider. Es ist ein Zeichen einer Krankheit und krankhaften Konstitution." (Fragmente.) Man kehrt den Blick zu Goethe, dem universalsten Lyriker und universalsten Menschen, zu ihm, der mit Recht von sich sagen konnte, daß er in Jahrtausenden lebe, der noch in seinen letzten Lebensjahren Eckermann zu dem staunenden Ausruf zwang: "Er will immer weiter, immer weiter, immer lernen, immer lernen!"

 

 

[27] Die Totalität der Lyrik.

 

Wie soll aber eine Kunst die Universalität einer Persönlichkeit, ja einer Kultur zum Ausdruck bringen, der doch gemeiniglich nur eine Sphäre unseres Geisteslebens zugewiesen wird?

Wieder sind es Lied und Volkslied, die bestimmend auf das Werden jener einseitigen Anschauung eingewirkt haben, als sei das Reich der Lyrik nur im Gebiete des reinen Gefühls zu suchen.

Es ist selbstverständlich, daß die Lyrik nur dann ihrem Wesen gerecht wird, ihren Zielen entspricht, wenn sie die Totalität der Persönlichkeit zum Ausdruck bringt in ihrer Dreieinheit des Denkens, Fühlens und Wollens. Es geht nicht an, eines der drei Gebiete zu sondern. So wie sie in dauernder Vereinigung und Ergänzung an der Entwicklung der Persönlichkeit arbeiten, so verlangen sie ihren Ausdruck in einer Kunst, der die dichterische Kristallisation der Persönlichkeit Bestimmung ist. Jede Beschränkung und Trennung ist hier unvernünftig.

Man weise nicht auf die Tendenzlyrik als eine Sonderlyrik des Wollens. In ihrer typischen Form gehört sie nicht in die Lyrik, sondern in die Politik, in die soziale Frage oder in irgendein Parteifach hinein. Für den Lyriker gibt es Tendenz nur, insofern er sie sich selber stellt als Stufe zu seiner Entwicklung.

Man berufe sich auch nicht auf die "Gedankenlyrik".

Alle Lyrik ist der elementarische Ausdruck persönlichen Lebens. Nicht insofern wir die Welt erkennen, sondern insofern wir sie erleben, wird sie Gegenstand der Lyrik. Nur insofern es dem Dichter gelingt, uns Welt und Weltanschauung als Erlebnis zu zeigen, führt er uns in das Innere der lyrischen Kunst.

Auch hier werden wir auf Goethe zurückgewiesen, [28] der seine Persönlichkeit so vollkommen in seine Lyrik zu drängen wußte, drängen mußte. Sein ganzes unerschöpfliches Leben finden wir in seiner Lyrik wieder, seine ganze universale Persönlichkeit. Auch seinen Ideen und Weltproblemen gab er hier Gestalt, ob wir nun an den Ganymed, den Prometheus, die Grenzen der Menschheit des jungen oder an die weltumfassenden Gedichte des alten Goethe denken. Wie gelang es ihm, Idee und Sinnlichkeit, das Allgemeine und das Besondere organisch-dichterisch zu einen und zu gestalten?

Er gibt uns in seinen "Maximen und Reflexionen" – nicht ohne Hinblick auf Schiller – selber die Antwort: "Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besonderen das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig auffaßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät." Von seinen Gedichten gilt das Wort, das er 1806 über die Kunst früherer Jahrhunderte zu Riemer sprach: "Man sollte sich nicht etwas bei dem Bilde denken, sondern man sollte das Bild denken und in demselben alles sehen."

Das ist die höchste lyrische Kunst, die das diskursive Denken und Erkennen so sehr in intuitives Erkennen oder vielmehr Schauen zu wandeln weiß. In ihr erfüllt sich Vischers Wort vom Dichter: "Er macht die Welt durchsichtig, man sieht durch alle Erscheinungen auf den Brennpunkt, dem alles Äußere nur Anreiz, Organ und Stoff seiner freien Bestimmung ist."

 

 

[29] Die Lyrik im Kulturganzen.

 

Die Totalität der Persönlichkeit und die Totalität der Lyrik bestimmen in ihrer Verbindung unmittelbar die Stellung des Lyrikers zum Kulturganzen: Er gibt uns in seiner Kunst die individuelle Kultureinheit.

Damit aber rückt die Lyrik aus der Stellung zweiten und dritten Grades, die man ihr gern zuerteilt. Gerade der Gegenwart wird sie vor allen Dichtungsarten bedeutend und wertvoll. Sie gibt uns gegenüber den Wogen und Wirbeln, in denen die unzählbaren Probleme des Tages um uns branden, einen festen Stand, eine Aussicht wie von einem sicheren Punkte auf das Meer.

Der Epiker und Dramatiker sind gebunden an die Welt der Objekte. Weniger denn je ist man heute geneigt, ihnen eine Sünde gegen die Wahrheit des Gegenständlichen zu verzeihen. Aber der Lyriker hebt sich über die Zersplitterung der Gegenstânde und Tatsachen zur inneren Einheit, zur persönlichen Ganzheit. Gorki, der Epiker, konnte in die Klage unserer Zeit ausbrechen: "Der Mensch ist jetzt doch nicht Herrscher auf Erden, er ist der Sklave des Lebens; er hat die stolze Stellung des Erstgeborenen verloren, als er sich vor den Tatsachen beugte. Aus den Tatsachen, die er geschaffen hat, zieht er Schlüsse und sagt sich: Das ist ein unabänderliches Gesetz! Und während er sich diesem Gesetz unterwirft, bemerkt er nicht, daß er seiner freien Schaffenskraft ein Hindernis stellt, daß er im Kampfe sein Recht der Vernichtung zwecks neuen Schaffens abschwächt. Er kämpft auch nicht mehr, er paßt sich nur mehr an!" (Der Leser)

Novalis, der Lyriker, aber zeichnet uns die Poesie in all ihrer Unabhängigkeit, Freiheit und Ganzheit; er, der erklärte, "das lyrische Gedicht ist für Heroen, es [30] macht Heroen", zeigt uns die eigentliche Stellung der Lyrik:

"Wie die Philosophie durch System und Staat die Kräfte des Individuums mit den Kräften der Menschheit und des Weltalls verstärkt, das Ganze zum Organ des Individuums und das Individuum zum Organ des Ganzen macht, so die Poesie in Ansehung des Lebens. Das Individuum lebt im Ganzen und das Ganze im Individuum. Durch Poesie entsteht die höchste Sympathie und Koaktivität, die innigste Gemeinschaft des Endlichen und Unendlichen."

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Philipp Witkop: Die neuere deutsche Lyrik.
Bd. 1: Von Friedrich von Spee bis Hölderlin.
Leipzig u. Berlin: Teubner 1910, S. 7-30. [PDF]

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001190905

 

 

 

Rezensionen zu Philipp Witkop: Die neuere deutsche Lyrik

 

 

 

Werkverzeichnis


Verzeichnisse

Gödden, Walter / Nölle-Hornkamp, Iris: Westfälisches Autorenlexikon 1850 bis 1900.
Paderborn: Schöningh 1997.
Art. Philipp Witkop (S. 874-877).

Aurnhammer, Achim: Art. Philipp Witkop.
In: Internationales Germanistenlexikon, 1800 – 1950.
Bd. 3. Berlin u.a.: de Gruyter 2003, S. 2047-2048.



Witkop, Philipp: Unsere Lyrik.
In: Literarische Warte. Monatsschrift für schöne Literatur.
Jg. 1, 1900, Heft 1, Januar, Sp. 9-11. [PDF]

Witkop, Philipp: Braunfels.
In: Literarische Warte. Monatsschrift für schöne Literatur.
Jg. 2, 1900/01, Heft 1, Oktober 1900, S. 27-28. [PDF]

Witkop, Philipp: Karl Busse.
In: Literarische Warte. Monatsschrift für schöne Literatur.
Jg. 3, 1901/02, Heft 9, 1. Juni 1902, S. 539-545. [PDF]

Witkop, Philipp: Ein Vortrag über die Entwickelung der modernen Lyrik.
In: Gelsenkirchener Zeitung.
1903:
Nr. 244, 23. Oktober, Drittes Blatt, S. *1
Nr. 245, 24. Oktober, Viertes Blatt, S. *1
Nr. 247, 27. Oktober, Zweites Blatt, S. *2
Nr. 248, 28. Oktober, Zweites Blatt, S. *2
URL: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper/3138432-8

Witkop, Philipp: Gedanken über das Wesen der Poesie.
In: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst.
Jg. 1, 1903/04, Heft 4, Januar 1904, S. 457-461.
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Hochland_(Monatsschrift)
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008919913

Witkop, Philipp: Detlev von Liliencron
(Zu seinem sechzigsten Geburtstage am 3. Juni 1904).
In: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst.
Jg. 1, 1903/04, Heft 9, Juni 1904, S. 340-347.
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Hochland_(Monatsschrift)
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008919913

Witkop, Philipp: Das Wesen der Lyrik.
Leipzig: Teubner 1907.
Diss. Heidelberg; bei Wilhelm Windelband. [PDF]
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/007896950

Witkop, Philipp: Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik.
Leipzig: Teubner 1908.
Zugleich: Heidelberg, Univ., Habil.-Schr. .

Witkop, Philipp: Die neuere deutsche Lyrik.
Bd. 1: Von Friedrich von Spee bis Hölderlin.
Leipzig u. Berlin: Teubner 1910.
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001190905

Witkop, Philipp: Gottfried Keller als Lyriker.
Freiburg i. Br.: Troemer 1911. [PDF]
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/006096452

Witkop, Philipp: Die neuere deutsche Lyrik.
Bd. 2: Novalis bis Liliencron.
Leipzig u. Berlin: Teubner 1913.
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001190905

Witkop, Philipp (Hrsg.): Kriegsbriefe deutscher Studenten.
Gotha: Perthes 1916.
URL: https://archive.org/details/kriegsbriefedeut00phil
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000486967

Witkop, Philipp: Die deutschen Lyriker von Luther bis Nietzsche.
Bd. 2: Novalis bis Nietzsche.
Zweite veränderte Auflage. Leipzig u. Berlin: Teubner 1921.
URL: https://archive.org/details/diedeutschelyrik02witkuoft
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001778520

Witkop, Philipp: Deutsche Dichtung der Gegenwart.
Leipzig: Haessel 1924.
S. 163-208: Die Lyrik.
URL: https://archive.org/details/deutschedichtung0000witk

 

 

 

Literatur

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Dehmel, Richard: Brief an Philipp Witkop (3.11.1913). In: Richard Dehmel: Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1902 bis 1920. Berlin: Fischer 1923, S. 323. [PDF]

Dilthey, Wilhelm: Ueber die Einbildungskraft der Dichter. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Bd. 10, 1878, Heft 1, S. 42-104.
URL: http://www.digi-hub.de/viewer/image/DE-11-001661098/1/
URL: https://archive.org/details/ZeitschriftFurVolkerpsychologie10

Dilthey, Wilhelm: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing · Goethe · Novalis · Hölderlin. Vier Aufsätze.
3. erw. Aufl. Leipzig: Teubner 1910.
S. 175-267 u. S. 468-469: Goethe und die dichterische Phantasie. [PDF]

Knorr, Herbert: Zwischen Poesie und Leben. Geschichte der Gelsenkirchener Literatur und ihrer Autoren von den Anfängen bis 1945. Essen 1996 (= Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte; Beiträge, 6).
Kap. 4: Der Lyriker Philipp Witkop (S. 79-99).

Nebrig, Alexander: Disziplinäre Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Berlin u.a. 2013.
S. 219-224: Witkop.

Redl, Philipp: Philipp Witkops Streifzug Heidelberg und die deutsche Dichtung (1916). In: Die Wittelsbacher und die Kurpfalz in der Neuzeit. Zwischen Reformation und Revolution. Hrsg. von Wilhelm Kreutz u.a.. Regensburg 2013, S. 851–863.

Redl, Philipp: Dichtergermanisten der Moderne. Ernst Stadler, Friedrich Gundolf und Philipp Witkop zwischen Poesie und Wissenschaft. Köln u.a. 2016.

Reents, Friederike: Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert. Göttingen 2015.

Wittkowski, Joachim: Heimat Ruhrgebiet. Lyrische Bilder vom Wandel In: Leben in der Arbeitslandschaft. Hrsg. von Arnold Maxwill. Paderborn 2021, S. 119-140.

Zymner, Rüdiger: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23-36.

 

 

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Lyriktheorie » R. Brandmeyer