Christoph Flaskamp

 

 

Zur Entwicklung der modernen Lyrik.

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Flaskamp
Literatur: Hochland

»   »   »
Texte zur Verlaine-Rezeption
Texte zur Theorie und Rezeption des Symbolismus
Texte zur George-Rezeption
Neuromantik: Rezeption
Diskussion: Moderne

 

In den achtziger Jahren warb und gewann der Materialismus in der Kunst, der sogenannte Naturalismus, bereits seine Jünger und Anhänger in Deutschland. Ihre Zahl und Bedeutung wuchs bis in die neunziger Jahre hinein immer mehr an, schrumpfte dann aber im raschen Umschwung der Stimmung ebenso anhaltend wieder zusammen. Mochte es diesen Vertretern immerhin bitterernst sein mit dem 'konsequenten' Naturalismus, in Wahrheit gab es nie einen solchen. Uns Rückschauenden und Überschauenden erscheint die ganze Bewegung nicht mehr als Selbstzweck, sondern höheren geistigen Zwecken dienstbar; sie war ein erster Protest des Geistes gegen seine Vergewaltigung durch die Natur, der erste Versuch zur Überwindung des Materialismus in Wissenschaft und Leben und zwar, hierin vollkommen konsequent: – durch einen künstlerischen Materialismus, also durch eine entsprechende Kunstbetätigung, deren der Geist gegenüber dem ungeheueren Stoffandrange, der ihn in Bann nahm und zu sich herunterzog, bedurfte, um nur erst einmal in rascher Sichtung und rohkünstlerischer Bearbeitung und Anordnung die Materie zu bewältigen und seine alte Herrschaft über sie wiederzugewinnen.

Nur so läßt es sich erklären, daß die neue Kunstbestrebung, die scheinbar auf einen vollkommenen Sieg des Objekts über das Subjekt hinauslief, sich, nachdem sie sich im Roman und im Drama gründlich und echt naturalistisch als 'Milieu'-Kunst ausgetobt hatte, der subjektivsten Kunst, der Lyrik, zuwandte.

In dem stetig fortschreitenden Kampfe mit der Natur hatte der Geist neue Geheimnisse ihr abgelauscht, tiefere Einlicke in ihre Gesetzmäßigkeit getan, schlummernde Kräfte geweckt und neue Zusammenhänge entdeckt, Zusammenhänge auch mit seiner eigenen natürlichen Existenz, die ihm einen unerhörten Reichtum an neuen Mitteln und Wegen zur Vervollkommnung dieser seiner Existenz boten. Daraus erwuchs dem Geist eine tiefe Liebe, ein neues innigeres Verhältnis zur Natur. Er fühlte sich versucht, dieser Natur, die [69] ihn in mütterlicher Sorgfalt mit all ihren Wundern beschenkte, sich ganz anheimzugeben, sie als gütige Spenderin allen Lebens zu lieben, sie als seinen Gott zu verehren. Aber bald erfuhr er, daß es keine solche blinde Liebe sein dürfe, die er ihr entgegenbrächte. Denn sobald er wiillenlos sich ihr hingab, unterjochte sie ihn; sobald nicht sein Geist die Herrschaft über sich selbst bewahrte und rohen Macht- und Genußgelüßten frönte, schlug ihre segnende Kraft in fesselnde und entfesselnde Gewalt um. So erkannte der Mensch aufs neue die Souveränität seines Geistes, zugleich auch sein Gebundensein an besondere geistig-sittliche Gesetze. Denn die Macht über die Natur bot sich nicht als Selbstzweck dar, sondern nur als ein Mittel zu höheren Zwecken eigener geistiger Vollkommenheit, der ein innewohnendes ethisches Pflichtbewußtsein entsprach: es gestaltete sich ein neues, vertieftes Verhältnis zum Mitmenschen.

Er hätte nun weiter noch sich selbst erkennen können als lebendiges Abbild des unendlichen Geistes, der in der geistlosen Natur wirksam, in ihm selbst aber lebendig ist, also daß er im Bewußtsein seinerselbst auch das Bewußtsein des unendlichen Geistes hat. So hätte er eine volle, reife Weltanschauung und zugleich eine wahre Gottanschauung gewonnen. Diese letzte Reife, die in der Welt seit je war und in einzelnen Persönlichkeiten und ganzen Gemeinschaften durch alle Menschengeschlechter hin rein bestanden hat und besteht, hat der allgemeine Menschengeist auch diesmal noch nicht erreicht, wenn auch manches einen gewaltigen Fortschritt zu diesem allgemeinen Ziele hin bedeutet; das wenigstens hat der Geist auf dieser neuesten Stufe seiner allgemeinen (nicht-individuellen) Entwicklung erreicht: ein innigeres Verhältnis zur Natur und einen vertieften und geläuterten Befund seinerselbst. Diesen tieferen Befund der eigenen Seele, zugleich – unter dem begünstigenden Einfluß eines das Verhältnis von Mensch zu Mensch neu belebenden und ausgestaltenden gesellschaftlichen Verkehrs – den tieferen Befund der Mit-, der Menschheitsseele und das durch die wissenschaftliche Forschung vertiefte, wenn auch durch sittliche Erfahrung noch wenig erst geklärte, Verhältnis zur Natur auszudrücken, sah und sieht sich der Geist fortan gedrängt.

Er konnte es vorerst nur in der Lyrik. Hier in der individualistischen Kunstbetätigung mußte er sich das neue Formmaterial für eine spätere allgemeine, das ganze Für und Wider seiner errungenen Weltanschauung und Lebensaufassung umschließende Darstellung schaffen, nachdem er im 'konsequenten' Naturalismus die alte, abfällige Form zersetzt und die Aufnahme neuer Gehalt- und Formwerte vorbereitet hatte.

Parallel zu dieser immer deutlicher hervortretenden Tendenz in der Lyrik – Weltanschauungslyrik und Landschaftsdichtung – verlief die Entwicklung im Roman, vor allem in den zahlreich auftauchenden Entwicklungsromanen, dann auch im Drama, hier allerdings bei der Unzulänglichkeit und lyrischen Unbestimmtheit weniger durchgreifend; denn das Drama verlangt eine geschlossene Weltanschauung und läßt sich nicht auf subjektiv lyrischer Einzelstimmung aufbauen, sondern nur auf allgemeiner Grundstimmung, dem Re[70]sultat aus den lyrischen Einzelstimmen, dem verbleibenden Kern positiven Weltgeistes, der sich dann in einem oder auch in mehreren Repräsentanten des Menschengeistes konzentriert uns aus der Konzentration heraus zur Entfaltung gelangt. Auch der wirklich 'gedichtete' große, umfassende Zeitroman erfordert diese Entwicklung. Bis dahin müssen der subjektivistische Entwicklungsroman und das lyrische Stimmungsdrama Ersatz bieten.

Soweit war man freilich damals noch nicht in der Erkenntnis dieser Tendenz, als Wilhelm Arent die 'Modernen Dichtercharaktere' (1884) herausgab, zu denen außer dem 'Credo' von Hermann Conradi zum Überfluß auch noch Karl Henckell eine Einleitung 'Die neue Lyrik' geschrieben hatte. Diese Sammlung sollte die deutsche Lyrik regenerieren, sie sollte. Daß sie dieser Aufgabe weniger durch die Tat, als durch Versprechungen gerecht wurde, ist bekannt. Gleichwohl hat sie das Verdienst, für die Entwicklung der neuen Lyrik bedeutend gewirkt zu haben. Denn sie entsprach der Stimmung der Zeit, sie folgte dem Zuge des Geistes, den ich schon andeutete, und sie enthielt wenigstens die Ansätze einer Weiterbildung. Ihr Hauptverdienst ist allerdings nicht die Hege und Pflege der neuen Keime und Kräfte, sondern die Auflösung der alten Schablone. Aber auch die gelang diesen Stürmern nicht so sehr aus dem neuen Geiste heraus und in seinem Sinne, sondern fast nur in Äußerlichkeiten; über den wahren Charakter dieses Neuen waren sie überhaupt zumeist noch im Unklaren.

Der Naturalismus spukte auch hier in der Form des Sozialismus, in Armeleut- und Dirnenpoesien. Zu einer künstlerischen Gestaltung aus neuen Problemen heraus reichte es indes nicht, am meisten noch, wenn auch mit durchweg konventionellen Mitteln bei Arno Holz. Bei anderen mußte der derbe Stoff die mangelnde künstlerische Gestaltungskraft verdecken; oder man versuchte den Anschein des unerhört Neuen dadurch zu erwecken, daß man der alten Form hier ein Stück abbröckelte, dort wieder anflickte ohne inneren Zwang, mit merklicher Mache. Die konventionellen Bildungsdichter, das lyrische Epigonentum, die Gartenlauben- und Butzenscheibenpoesie bekämpfte man, aber mit Worten, nicht mit Taten. Fast alle diese 'modernen Dichtercharaktere' bewegten sich in eben den ausgetretenen Gleisen weiter. Über den guten Willen zur Neuerung kamen sie kaum hinaus. Daß der alte 'Singsang sich ausgetutet' (Holz) hatte, fühlte man zwar lebhaft genug; wie an seine Stelle jedoch das Neue treten könne und solle, darüber hegte man nur erst dunkle Ahnungen. Deshalb gehört eine Untersuchung über das spezifisch Moderne in der neueren Lyrik auch noch nicht hierher. – Nur in der impulsiveren Rhythmik Hermann Conradis trat ein wesentliches Element der lyrischen Formwandlung zutage; doch besaß Conradi zu wenig reifen Charakter, es ruhig sich ausgestalten zu lassen, wie er ja selbst später erkannte und bekannte mit Bezug auf die 'Kommenden', als deren Vorläufer er immerhin allzeit genannt zu werden verdient:

'Was ich geträumt: sie geben ihm Gestalt –
Ich aber werde bald vergessen . . .'

[71] Gegenüber anderen Beurteilern halte ich daran fest, daß ein wesentlich Neues, soweit es sich um das Formale, nicht um den stofflichen Gehalt handelt, gerade in Conradis Gedichten vorgeahnt liegt, und nicht etwa in Arno Holz' gleichzeitigen Dichtungen, die zwar künstlerisch geschlossener und gehaltlich reifer sind, aber doch noch im Banne konventioneller, wenn auch frisch angepackter Kunstmittel stehen. Erst später, als lyrischer Formzersetzer, gewann Holz Bedeutung für den neuen lyrischen Stil. –

Ebensowenig wirkte Karl Henckell erneuernd, wie er sich auch in neuen Wortbildern und Verskunststückchen versuchte. Auch seine sozialistischen Gedichte verraten keine künstlerische Eigenart, höchstens läßt sich ihnen eine gute Portion Begeisterungsfähigkeit und Gesinnungstüchtigkeit nachrühmen, der sozialistischen Lyrik, wie dann außer Henckell auch Makay, M. R. von Stern und andere sie kultivierten, überhaupt. Henckell gelang es später, seine besondere Eigenart klarer herauszubilden, die nicht in sozialistischer Wortmacherei bestand, sondern im einfach liedmäßen Ausspruch rein menschlicher Gefühle. Ich sage 'Ausspruch', denn zum echtlyrischen 'Ausdruck', zur Gestaltung bringt Henckell es selten. Seine Art ist ein Plaudern, Mitteilen, Erzählen; alles ist mehr nur so gesagt, als 'gedichtet'. Es herrscht nicht die künstlerische Konzentration, sondern die Diffusion in zu viel 'Worte' vor. Ihm fehlt der eigentlich 'schöpferische' Zug, wie sein Freund Conradi richtig bemerkte. Bezeichnenderweise findet sich bei ihm bis in seine jüngsten, reifsten Poesien hinein neben sogenannten 'Kühnheiten' eine erschreckliche Menge eben jener verpönten Konventionalismen. Seine Gedichte wirken daher selten echtlyrisch suggestiv. Zum Beweise für das nur so Hingesagte diene eine beliebige Strophe aus der neuesten 'Auswahl': Mein Lied.

Stand heut am Wasserfalle
Auf einem Steglein schmal,
Lauschte dem frischen Schwalle,
Sah herzerfrischt zu Tal,
Wo schäumend niederschwellte
Des Wiesbachs muntre Flut,
Indes ein Schimmern schwellte
Des Herbstwalds üppig-bunte Farbenglut.

Das ist gewiß, trotz der verlängerten Schlußzeile, keine neue Lyrik. Doch kommt Henckell hie und da auch einmal echtlyrischen Wirkungen nah, allerdings nicht oft so nah, wie in den folgenden beiden Strophen, denen leider, für Henckells künstlerisches Empfinden bezeichnend, noch zwei überflüssige Strophen folgen:

Immer, wenn die Tage kommen,
Wo die Rosen sind erglommen,
Wo die roten Rosen blühn ...

Weht ein Hauch von Glücksbegehren
Mit den schweren, düfteschweren
Lüften aus dem Gartengrün.

[72] Überhaupt, Gesinnungstüchtigkeit war das Rühmenswerteste an diesen Jüngstdeutschen.

Zu den Weckern begeisterten Strebens, das ja nicht nur der künstlerischen Formsache, sondern der allgemeinen kulturellen Erneuerung galt, gehörten vor allen die Brüder Hart, auf deren Anregungen vieles in dieser Bewegung zurückzuführen ist, wenngleich auch ihnen im Kampfe um die neue Kunst nicht vergönnt war, in ihren eigenen Dichtungen in formeller Hinsicht besonders neue Errungenschaften zu machen.

Die ganze vormalige 'lyrische Freischar', wie Adalbert von Hanstein diese Sucher nach lyrischem Neuland taufte, schwenkte dann in vieltönigen Begeisterungsrufen zu einem neuen literarischen Messias, zu Detlev von Liliencron, über. Dieses auf den Schild Heben Liliencrons, ist durchaus verständlich, war aber grundgedanklich nur wenig folgerichtig. Denn der Erfüller dessen, was all diese 'Neutöner' letzten Zieles erstrebten, war auch er nicht. Wir wenigstens müssen das heute konstatieren. Doch konnte er der damaligen Begeisterung wohl als solcher erscheinen. In Wirklichkeit bewegt sich sein Schaffen durchgängig noch auf der Linie der befehdeten Bildungspoeten. Er gehört nicht in die Reihe der echten und großen deutschen Lyriker des vergangenen Jahrhunderts, zu denen ich neben Goethe und Mörike besonders Martin Greif rechne; in gewissem Sinne rechne ich auch Hebbels beste Lyrik hierhin. Liliencrons dichterische Art zeigt vielmehr deutliche Beziehungen zur schwäbischen Schule – Uhland ausgenommen, der zu den eben genannten Lyrikern zu stellen ist –, dann vor allem zu Lenau, mit dem er besonders die Schärfe der Anschauung in den Naturbildern gemein hat, ebenso zur Geibel-Schule, zu Lingg, Grosse und anderen. Was ihn von letzteren unterscheidet, ist dasselbe, was Theodor Storm, Konrad Ferdinand Meyer, Keller, die Droste als Lyriker von diesen Wortdichtern unterscheidet: die größere natürliche und künstlerische Ursprünglichkeit und Frische, trotzdem auch sie mit dem allgemein konventionellen Formmaterial schaffen. Sie wußten eben der herrschenden Schablone noch individuell bewegteres Leben einzuhauchen. Das macht die Konvention bei ihnen vergessen. Doch möchte ich nicht in einem höheren Maße, als es von Storm und Meyer gilt, von Liliencron gelten lassen, daß er 'die Schranken der Konvention überall siegreich durchbrach' (Bartels, Die Alten und die Jungen). Er stand dem schließlich bis zu orgeldreherischer Monotonie erstarrten rhythmischen Schema überlegen gegenüber und handhabte es mit Freiheit, ja mit Willkür, die letzten Endes oft soviel wie völlige Auflösung bedeutete. Und in dieser Tendenz traf er mit den Jüngstdeutschen zusammen, von denen einer, Arno Holz, dieses Geschäft dann später noch radikaler betreiben sollte, eben weil er sich am meisten im alten Schema befangen fühlte.

Ich will gleich hier eine vorläufige Zwischenbemerkung machen, nämlich, daß ich Hans Benzmann (Moderne deutsche Lyrik, Einleitung) nicht zustimmen kann in der Unterscheidung einer 'typischen deutschen' und 'individuellen deutschen' Kunst, speziell Lyrik, wonach die Art der eben genannten [73] Lyriker der 'typischen deutschen' Lyrik zuzuzählen wäre, eine Unterscheidung, die sich gar nicht durchführen läßt, und die den wirklich bestehenden Unterschied nur verwischt. Eher wäre eine Scheidung in elementare und Bildungs-Lyriker angängig; nur daß auch da im Einzelfalle eine genaue Grenze nicht leicht zu ziehen ist, da die genannten Elemente fast stets gemischt erscheinen, doch nie so völlig, daß sich nicht der hervorstechendere Grundzug aufdecken ließe.

Die deutsche Lyrik (das deutsche Volkslied, Goethe, Uhland, Mörike, Hebbel, Greif) ist durchaus individuell, nicht typisierend, sondern individualisierend, im besonderen das Allgemeine darstellend. ich will hier eine aus der eigenen Schwäche der Bildungspoeten psychologisch leicht erklärbare Tatsache nur andeuten und werde – worauf man bisher kaum Gewicht gelegt hat – weiter unten betonen, daß die Bildungsdichter, vor allem die Geibel- und die allerdings nicht so scharf markierte Rückertschule wesentlich von romanischen Dichtungselementen bewußt oder unbewußt beeinflußt sind, aber auch die in Abhängigkeit von diesen, fast die ganze Hälfte des vorigen Jahrhunderts an der Oberfläche herrschenden Richtungen, Dichter wie Storm, von dem R. M. Meyer richtig bemerkt: 'und selbst den Pflegern der reinen Form steht er nicht fern' (wohl auch unter dem später freilich sorfältig verwischten Einfluß Heines) und als weiteres Beispiel Konrad Ferdinand Meyer (unter direktem Einfluß romanischen Lebens und besonders der Kunst). Es galt also in dem mit den achtziger Jahren beginnenden und noch währenden Entwicklungsprozeß der Lyrik zuerst eben diese Einflüsse zu überwinden durch Ausscheidung des Unverträglichen und gründlichere Absorbation des Assimilationsfähigen. Zu diesem Zwecke mußte man an die Bestrebungen des Sturmes und Dranges (in der Lyrik seit Günther) und der Romantik, sowohl der älteren mit Tieck und Novalis, als auch der jüngeren unter der Führung Brentanos, an das deutsche Volkslied und die darin wurzelnden deutschelementaren Lyriker wiederanknüpfen, um den echtdeutschen lyrischen Grundton wiederzugewinnen, der durchaus Ton, charakterisierender Rhythmus ist und die vollste Mannigfaltigkeit und individuelle Schmiegsamkeit besitzt und so vor aller Erstarrung geschützt ist, außer da, wo er, wie durch Heine, verundeutscht wird und schließlich der Monotonie verfällt. Die romanische Poesie ist vielmehr Gebärde typisierende Plastik, der ja auch die kunstvollen, architektonischen Strophenformen entsprechen, die aber bei einem nicht so sehr für die 'gefrorene', sondern mehr für die innere lebendige Musik empfänglichen Volke die starre metrische Schablone und die lyrische Pose herbeiführen mußten, wie sie in der Bildungsdichtung bis zur letztlichen Unleidlichkeit sich breit machten.

Bezeichnend ist dann auch, daß schon damals im ersten Liliencron-Jubel Stimmen laut wurden, die nicht auf ihn als den Erfüller einer neuen deutschen Lyrik schwuren, sondern den alten deutschsinnigen, gar nicht spreizgebärdigen Ton wieder erlauschten, z. B. in den Gedichten Martin Greifs, bei dem man wesentliche Elemente des erstrebten neuen lyrischen Stils antizipiert fand. Geibel hatte Greif, als dieser ihn 1865 um ein Urteil über [74] seine noch ungedruckten Gedichte anging, auf den Ofen verwiesen. Er ahnte gewiß nicht, daß dieser Lyriker allmählich den Ruhm all seiner lyrischen Zeitgenossen überflügeln würde.

Einstweilen gehörte natürlich Liliencron noch der Tag und des Tages Krone. Aber auch Storm, Keller, Meyer, Annette von Droste, die ja alle auch auf Liliencron selbst gewirkt hatten, gewannen Einfluß, auch Eichendorff und andere. Von Storm, Meyer und Eichendorff zeigen sich deutliche Spuren in den Gedichten Gustav Falkes. Falke war anfangs noch stark von Liliencron abhängig, zeigte sich aber bald als ganz eigene, selbstständige Poetennatur. Er ist innerlich vielleicht feiner, aber auch leichter und nicht so temperamentvoll resonanzkräftig wie Liliencron. Auch er schafft in Abhängigkeit von den Bildungsdichtern. Er hat nicht den echtlyrischen, organischen Blutstrom. Seine Melodik ist oft nicht von innen heraus mit der Anschauung in eins geboren, sondern aufgetragen als Noten zum Text oder umgekehrt, beruht weniger auf der inneren Harmonie der Töne, als auf dem äußeren Zusammenklang der Worte. Seine Klangmalerei hat aber nur selten etwas Störendes. Überhaupt besitzt er ein feines künstlerisches Empfinden, das ihn vor verfehlten Wirkungen bewahrt. Falke scheint ursprünglich mehr Musiker zu sein; er war ja auch eine Zeitlang Musiklehrer. Das scheint mir seine dichterische Sprachbehandlung zu beeinflussen. Ich wenigstens spüre dieses Nichtineinsgeborensein bei Falke häufig; es ist vielleicht kein Ineinanderaufgehen, sondern mehr ein Aufeinanderpassen wie Körper und Kleid. Ich muß dies Geschneiderte hier umso stärker betonen, als es mir darauf ankommt, die Grundeigentümlichkeit der deutschen Lyrik nachzuweisen.

Aller wortreiche Überwurf hat nichts Deutsches, es ist uns immer aus der Fremde überkommen und hat stets die volkstümliche Wirkung, die in der seelischen Spannkraft des deutschen Künstlergemüts wurzelt, beeinträchtigt. Man braucht nur an den Marinismus und Gongorismus erinnern. Ich finde, daß die fremden, zumeist romanischen Einflüsse, die die Bildungsdichter in ihrem löblichen, aber oft blinden Übersetzungseifer – bei der Geibel- und Rückertschule unleugbar – uns vermittelten, auf die meisten schaffenden Talente der nachromantischen Zeit bis in unsere Tage hinein ähnlich verwelschend gewirkt und überhaupt das Wesen der deutschen Kunst verdunkelt haben.

Die deutsche Lyrik, die deutsche Kunst überhaupt, löst die phantasievolle Anschauung in seelische Ergriffenheit, den Eindruck in persönlichen Seelenausdruck auf, ist Persönlichkeitskunst; daher die individuelle Mannigfaltigkeit; daher auch die intensivste Konzentration, die Schlichtheit, die möglichste Kürze. Der Romane gibt viel mehr den sinnlichen Eindruck, er ist viel mehr reiner Phantasiekünstler, Formseher, Plastiker. Und gibt er uns sein eigenes Verhältnis zum Gegenstande, so tut er das wiederum nicht unmittelbar, wie der Deutsche, der schlechtweg den Rhythmus der Empfindung zu geben trachtet, sondern unmittelbar durch Gebärdensprache; er prägt sein seelisches Ergriffensein körperlich-plastisch aus, zeichnet sich gleichsam selbst als lebhaft bewegten Zu[75]schauer, gibt mehr sein Gefühl, seine Gedanken darüber, als sein Aufgehen darin. Der deutsche Künstler vermeidet alles Pathetische, Deklamatorische nach Möglichkeit, es würde ihm die innige Vereinigung von Seele und Sache stören, statt des gemütvollen Ineinander ein wenn auch scheinbar geistvolleres Gegenüber erzeugen. Dieser Unterschied zwischen romanischer und germanischer Art zeigt sich ja auch in der menschlichen Wirklichkeit. Der Romane gestikuliert heftig, legt seinen ganzen Geist in die Gebärden des Hauptes und der Hände, er zeichnet alles in sinnlich lebhaftem Eifer in Gesten oder Gebärdeausdrücken nach, löst sein Schauen in die einzelnen Momente auf, deren wesentlichste ihm dann die typische Gestalt ergeben. Der Germane faßt die Erscheinung mit äußerer Ruhe, kaum daß sein Auge den seelischen Rhythmus verrät; er verhält seine Bewegung, die ganz mit dem Bilde seiner Einbildungskraft verschmilzt, ganz individuelles Erlebnis wird, ganz die innere Spannung auf den äußeren Reiz überträgt. Dort schält ein mehr intellektueller Akt das Wesentliche heraus, hier konzentriert die innere Gemütskraft, die das Wesentliche im Erregungsrhythmus bindet. Den üppigen imposanten Faltenwurf, der dort wesentlich ist und die Plastik nur noch erhöht, verträgt die deutsche Kunst nicht, die deutsche Lyrik erst recht nicht.

Bei Konrad F. Meyer spielt wohl ein inneres Verwandtschaftsverhältnis zum Romanischen mit; seine Sprache und seine Rhythmik hat dessen merkliche Eigenheiten. Je mehr aber z. B. Falke von den Bildungsdichtern und ihrem Wortgepräng sich freimacht und etwa Eichendorff sich nähert, um so deutlicher treten die Merkmale deutscher Kunst auch bei ihm hervor, um so wirkungsvoller empfinde ich seine von Haus aus grunddeutsche und gesunde Poesie, eine Poesie voll der Heimeligkeit und seelischen Vertieftheit des deutschen Familienlebens, ohne jede behäbige Philisterhaftigkeit, reich jedoch an liebenswürdigem, köstlichem Humor. In Falkes neuem Buche: 'Frohe Fracht', das mehr Balladisches als eigentlich Lyrisches enthält, hat mich das folgene 'Gebet', in dem die tiefe Kindesseele des Deutschen liegt, wie sie aus Falkes Blauaugen leuchtet, eigen tief ergriffen:

Sieh, ich hab mich tief erniedrigt,
Willst du mich nicht wieder heben,
Mir noch einmal wieder Flügel
Nach der hellen Heimat geben?

Wenn ich meines Kindes Scheitel
Je in Schmach versunken wüßte,
Griff ich weinend seine Locken,
Daß ich sie verzeihend küßte.

Willst du nicht ein gleiches tun
Und mich als dein Kind erkennen?
Willst du?
Ach, schon fühl' durch meine Scham ich
Deine Liebe brennen.

[76] Ich empfinde nur das 'Willst du?' in der letzten Strophe als störend und überflüssig. Unter den Balladen des Buches sind die schwankartigen die besten.

Otto Julius Bierbaum ist ebenfalls Liliencronschüler. Später hat er dann noch die verschiedenartigsten Einflüsse erlebt und verarbeitet. Das ist sein Charakteristikum: er ist mehr Anempfinder, als selbstschöpferischer Poet. Er ist nicht ohne eigene Gemütstiefen, aber ihre Wasser fließen meist nur über, wenn sie von fremden, häufig musikalischen Einflüssen genährt und gehoben werden; sonst verflacht er leicht in eine allerdings nicht unverträgliche Philisterhaftigkeit. So hat er zur eigenen Stärkung an den gemütvollen Claudius, auch an das Volkslied und den jungen Goethe wiederangeknüpft und überhaupt manche Formelemente wiederfinden helfen, die den neuen lyrischen Stil mitbestimmen. Sein jüngstes Gedichtbuch: 'Maultrommel und Flöte' verrät, daß der Born eigenen dichterischen Empfindens in ihm allmählich versiegt. Ähnliches läßt sich von Otto Erich Hartleben, von Richard Schaukal und von manchem der Jüngeren sagen, bei denen die konventionelle Form teils schon ganz aufgelöst erscheint oder sich bis in die letzten Möglichkeiten und Formraffinessen zuspitzt. Sie zeigen sich vielfach beeinflußt von den französischen Symbolisten, die sich von der deutschen Lyrik manches Wesentliche zu eigen gemacht hatten und so, besonders Paul Verlaine, auf die Formentwicklung der neuen deutschen Lyrik fördernd zurückwirkten.

Von Liliencron zweigt sich auch eine schwächlichere Dichtergruppe ab, die der 'reinen Stimmungs'-Poeten. Man nennt sie vorzüglich auch die Anempfinder, Eklektiker. Jacobowski, Karl Busse, Anna Ritter, Paul Remer, Bulcke and andere gehören hierher. Sie haben von Liliencron gelernt, ihre 'Stimmungen' realistischer zu verbrämen. Sie dichten weniger aus dem Leben, als aus der Literatur, aus dem vorhandenen Schatz der Poesie heraus. Es ist eine bläßliche Nachblüte, die sich da zeigt. Wer die Romantiker liebt und das tiefere Wesen ihrer Kunst und Kunstbemühung erfaßt hat, kann sich eines Lächelns nicht erwehren, wenn er sieht, wie man gerade diese Richtung der 'Sehnsüchtler' neuerdings vielfach als 'Neuromantik' ausruft. Es ist immer nur der Widerschein von untergegangenen Sonnen. Ich muß da immer an die einsame Wolke in Martin Greifs wundervollem Gedicht denken:

Sonne warf den letzten Schein
Müd im Niedersinken,
Eine Wolke nur allein
Schien ihr nachzuwinken.

Lange wie sie sehnend hing
Ferne den Genossen,
Als die Sonne unterging,
War auch sie zerflossen.

Wie diese Wolke zur Sonne, so verhalten sie sich zu dem Urlicht oder zu den einzelnen großen und kleinen Sonnen der deutschen Lyrik. Sie alle [77] haben einige sogenannte 'schöne' Gedichte, die roten Abendwölkchen wohl vergleichbar sind. Aber es ist in der Hauptsache doch nur der Sonnenabglanz, der diese Gedichte schön macht. Ihr Eigenes ist doch nur das grau-eintönige Gewand und die eintönige resignierende Sehnsucht, die vollends unleidlich wird, wenn sie in eine räsonierende umschlägt. Es ist etwas allzu Jünglinghaftes darin. Es ist mehr ein unbestimmtes Schwärmen, als ein eigen starkes männliches Welterfassen. Das ästhetische Moment gewinnt allzusehr vor dem ethischen die Oberhand (Vergl. Goethe: 'Ein Wort für junge Dichter'). Die Gefahr des Dilettantismus liegt denn auch überall nahe. Dieser Dilettantismus tritt sofort ans Licht, wenn der fremde Abglanz als eigene Größe ausgemünzt werden soll. Wo sie eine Welt zu gestalten vermeinen, geben sie meist leere Worte, Reflexionen übelster Art. Von der Stärke der Intuition, von der Kraft genialen Schauens und großgestaltenden Erfassens, die etwas von dem um aller Dinge Wesenheit wissenden Blicke des Weltenschöpfers selbst hat, sind sie ziemlich unberührt.

Eigenartiger als diese Dichter ist eine Reihe jüngerer Poeten: Benzmann, Morgenstern, Scholz, Busse Palma und andere. Alle diese aber stehen nicht mehr so stark unter Liliencrons Einfluß, sondern haben inzwischen die verschiedensten Einwirkungen erfahren, die sie zum großen Teil in Richard Dehmel konzentiert fanden. Mit ihnen nähern wir uns dem neuen lyrischen Stil, an ihnen können wir die allmähliche Ausbildung verfolgen.

'Neuer lyrischer Stil' – zu zeigen, worin nun dieser neue Stil besteht, ist eine äußerst komplizierte Arbeit. Der Versuch sei dennoch gewagt. Es darf uns schon befriedigen, wenn wir einige wesentliche Merkmale dieses 'Neuen' auffinden.

Zu unserer eigenen Beruhigung setzen wir an die Spitze der Untersuchung den überall, wo man es mit 'Neuem' zu tun hat, probaten Satz: 'Das Wahre war schon längst gefunden' –, und haben damit bereits ein gut Stück unserer Arbeit verrichtet.

Freilich, Arno Holz glaubte auch diesmal etwas absolut Neues entdeckt zu haben, wie er Jahre zuvor mit Johannes Schlaf den konsequenten Naturalismus entdeckt hatte, als er (1898) den 'lyrischen Depeschenstil' verkündete und mit zwei Heften seiner 'Phantasus'-Gedichte seine neue Meisterschaft darin erwies. Was wollte Holz eigentlich? Er bekennt: 'Eine Lyrik, die auf jede Musik durch Worte als Selbstzweck verzichtet, und die, rein formal, lediglich durch einen Rhythmus getragen wird, der nur noch durch das lebt, was durch ihn zum Ausdruck ringt'. Was Holz hier meint, ist offenbar das, was man anders den 'immanenten Rhythmus' nennt. Und die 'Musik der Worte als Selbstzweck' ist wohl das, was ich bei Falke als den äußeren Klang der Worte kennzeichnete. Gegen diese 'Musik der Worte', gegen die konventionelle Reim- und Strophenbehandlung, gegen das metrische Schema lehnte sich sein künstlerisches Empfinden auf: 'Durch jede Strophe, auch die schönste, klingt, sobald sie wiederholt wird, ein geheimer Leierkasten. Und dieser Leierkasten ist es, [78] der endlich aus unserer Lyrik heraus muß'. Diese Leierkastenmelodie, die die jeweils besondere ursprüngliche Melodie erstickte, wollte er also beseitigen und jene ursprüngliche Melodie freimachen, den Rhythmus geben, 'der nur noch durch das lebt, was durch ihn zum Ausdruck ringt'. Dieses Streben ist nur zu natürlich und eben darum gar nicht neu. Hätte Holz es konsequent in die Tat umgesetzt, so hätte er nur getan, was alle echten deutschen Dichter seit je getan haben, nämlich: nach dem Gesetz des immanenten Rhythmus stilisiert, ob mit oder ohne Reim und feste Strophenform, wäre ganz gleichgültig gewesen. Das aber tat Holz seltsamerweise nicht, er gab nicht den immanenten Rhythmus von Anfang bis zu Ende, er gab durchweg nur willkürliche Stücke daraus, er gab ihn nicht lückenlos, sondern zerstückt und somit nicht die ganze, volle runde Stimmung, sondern lauter einzelne Stimmungsmomente. So entstanden natürlich keine Gedichte, sondern nur einzelne Impressionen, die erst in ihrer Geschlossheit und durch das Ineinanderverbundensein zu einem seelischen Gesamtausdruck mittels des ursprünglichen Empfindungsrhythmus zum organischen Kunstwerk geworden wären. Wo dies geschah, war denn auch erreicht, was Holz erreichen wollte, z. B. in dem folgenden Gedichte, das den Rhythmus der seelischen Empfindung ungebrochen wiedergiebt:

Ueber die Welt hin ziehen die Wolken.
Grün durch die Wälder
fließt ihr Licht.
Herz, vergiss!
In stiller Sonne
webt linderndster Zauber,
unter wehenden Blumen blüht tausend Trost.
Vergiss! Vergiss!
Aus fernem Grund pfeift, horch, ein Vogel ...
Er singt sein Lied.
Das Lied vom Glück!

Das ist Poesie, echte Poesie, und jeder wird fühlen, daß der bindende Zauber in dem individuell bestimmten Rhythmus liegt, der sich zur melodischen Einheit zusammenschließt. Ein neues Stilgesetz war das jedoch im Grunde nicht, sondern ein ewig altes, das auch in der lebenden Natur wirksam ist; neu aber war es gegenüber dem erstarrten Rhythmenschema, das damals herrschenden Zwang ausübte. Damals ja schon nicht mehr so ganz allgemein, denn auf vielerlei verschiedenen Wegen hatten selbständigere Lyriker bewußt oder unbewußt im Schaffensdrange dieses rhythmische Gesetz wiederentdeckt. Unter anderen scheint mir Ferdinand Avenarius in seinen Dichtungen ursprünglich diesen Weg verfolgt zu haben. Auch in Liliencron, Falke und all den anderen, die noch teilweise im Bann der traditionellen Form standen, war im Grunde ein wesentlich gleiches Streben lebendig, und man spürt diesen Drang nach individuell charakterisierendem Rhythmus deutlich durch.

[79] Damit aber der Leierton vollkommen verschwände, mußte wohl erst die vollständige Zersetzung eintreten, aus der dann ein neuer Zusammenschluß gewonnen werden konnte. Bei dieser Auflösung traten all jene Unnatürlichkeiten der akademischen Formsprache, wie falsche Wortstellung, Flickworte und dergleichen 'poetische Lizenzen' ans Licht; der Anschluß an die gesunde Prosa stäubte viele Motten gründlich aus. Die Anregung, die die Grashalme Walt Whitmans und etwa auch Dichtungen wie die 'Serres chaudes' Maeterlincks auf diese Zellenzersetzung ausgeübt haben, sei hier angemerkt. Die 'Serres chaudes' betonen aber bereits das musikalische Element, das die einzelnen Impressionen und Visionen verknüpft, und stehen in naher Beziehung zu den französischen Symbolisten, deren Bedeutung für die neuere deutsche Lyrik ich hier noch kurz näher charakterisieren will. Bei diesen Symbolisten sind deutsche Einflüsse unverkennbar.

De la musique avant toute chose.

Car nous voulons la nuance encor,
Pas la couleur, rien que la nuance!
Oh! la nuance seule fiance
Le rêve au rêve et la flûte au cor! . .

Et tout le reste est littérature
.

Diese Verse Verlaines aus seiner 'Art poétique' dürfen wohl als Beweis dafür gelten. Seine eigene Lyrik zeigt die Verwandtschaft mit der deutschen Lyrik noch deutlicher. Seine Nachfolger übertrieben natürlich das Prinzip zum Teil bis ins äußerste; es war ihnen eben etwas Fremdes, nicht eingeboren, wie bei Verlaine, dem deutsches Blut beigemischt war. Sie suchten das Heil schließlich nur noch in der musikalischen Unbestimmtheit, in der willkürlichen Komposition von Worttönen, in der sinnlosen Gruppierung der Worte zu Klangwerten, ohne den anschaulichen Gehalt der Worte zu berücksichtigen. Ihnen brachten denn auch nur vereinzelte junge deutsche oder undeutsche Schwärmer Sympathie entgegen. Verlaine aber lehrte manchen deutschen Poeten sich auf die deutsche Unart, wie ich sie bei der Würdigung Falkes verständlich zu machen suchte, rückbesinnen und die Schwächen der deutschen Bildungsdichter erkennen.

Daß bei dem lyrischen Kristallisationsprozeß, in dem der Rhythmus der seelischen Empfindung mit der Anschauung zu einer organischen Einheit von Seele und Leib verschmilzt, die Stellung, vielmehr das äußere und zugleich innere Verhältnis der Worte zu einander wirklich das Lebensproblem des Gedichtes ist, wird wohl jedem Einsichtigeren klar werden, wenn er sich daraufhin enmal das vorhin zitierte Gedicht Martin Greifs näher ansehen will. Daß da alle schmückenden Beiworte, alle Gebärdensprache ein störendes Zuviel wäre, läßt den ganzen Unterschied zwischen elementarer und Bildungsdichtung mit eins erkennen. Hier bei der lyrischen Art Martin Greifs hätten die deutschen Lyriker wieder einsetzen müssen. Doch kann man im allgemeinen [80] nicht sagen, daß die Anregungen der französischen und belgischen Symbolisten, da ein spezifisch Deutsches ihre Kunst mitbestimmte, nachteilig gewirkt hätten. Nur liegt in ihrer Übertreibung, die Anschauung als rein musikalisches Element zu werten, natürlich wieder eine Gefahr, die einem sehr lebhaft zur Empfindung kommt, wenn man mit der durch und durch gesunden Wirkung des Greifschen Gedichtes etwa die des folgenden von W. von Scholz vergleicht:

          Der Wanderer.

Schmermütig wächst mein Frieden
in Herbst und Einsamkeit.
Mein Weg zur Dämmerzeit
vergraut wie abgeschieden.

Ich fühle mich Gestalt
und Wesen tief vertauschen;
wildfremde Schritte rauschen
durchs Blattgewirr im Wald.

Still geh ich, schattenlos
im Grau, als wandle sich
der lange Weg in mich,
auf dem ich wurde groß.

Daß ich der Wandrer bin,
der diesen Weg gegangen,
sind Worte, die verklangen,
und haben keinen Sinn.

Der sonderbar schwermütige, mehr auf musikalischer als anschaulicher Wirkung beruhende Reiz des Gedichtes darf uns nicht abhalten, das zugrundeliegende Prinzip in mehr als ausnahmsweiser Geltung für die deutsche Lyrik abzulehnen. Erfreulicherweise sind es meist Ausnahmen. Nur Richard Dehmel stützt sich etwas häufig darauf, wenn sein konvulsives Empfinden die Anschauung nicht zu versinnbildlichen vermag. Bei Scholz finden sich daneben so Seele und Leib vergegenwärtigende Gedichte wie dieses, das an Goethe und Greif gemahnt:

            Rückschau.

Immer neue Landschaft will
um den raschen Schritt sich runden.
Tal um Tal ist schnell entschwunden,
blaue Berge ziehen still.

In des Wanderns Wälderflut
tauch ich von den Höhen nieder;
doch aus Waldestiefen wieder
lockt ein Gipfel Sonnenglut.

Stand ich dort auf fernem Stein?
Trümmer der verlassenen Runde,
Trümmer der vergangenen Stunde
ragen jenseits noch herein.

Der merklich beabsichtigte symbolische Abschluß hätte sich vielleicht noch ungezwungen natürlicher gestalten lassen. Auch da läßt sich von Greif z. B. viel lernen.

Die Übertreibung der französischen Symbolisten ist auch das Mittel der Kunst Alfred Momberts, Max Dauthendeys und anderer Ihresgleichen; doch ist in ihnen allerlei volkstümliches Empfinden rege, am meisten bei Dauthendey, der allerdings in lyrischem Unsinn – wie Mombert in 'kosmischem Empfinden' – nebenher Beträchtliches leistet.

Die Amseln haben Sonne getrunken,
Aus allen Gärten strahlen die Lieder,
In allen Herzen nisten die Amseln,
Und alle Herzen werden zu Gärten
Und blühen wieder.

[81] Nun wachsen der Erde die großen Flügel,
Und allen Träumen neues Gefieder,
Alle Menschen werden wie Vögel
Und bauen Nester im Blauen.

Nun sprechen Bäume in grünem Gedränge,
Und rauschen Gesänge zur hohen Sonne . . .
                                                            Dauthendey.

Die zeitweilige Überschätzung solcher Talente hat vielleicht auch ihr Gutes. Es stecken rein technisch bewertet und auch sonst viel Feinheiten in ihren Gebilden. Sie helfen durch ihre emsige Arbeit die neuen Anschauungswerte verarbeiten und die alten konservieren. Das, besonders dieser letztgenannte Konservatismus, der sich ja auch in äußerster Exklusivität ausprägt, ist meines Erachtens auch der hauptsächliche, gar nicht zu unterschätzende Wert der modernen Artisten, deren Häupter Stefan George und Hugo von Hofmannsthal sind. In Stefan Georges Lyrik lebt übrigens ein ursprünglich auf das Konzentrische gerichtetes Empfinden. Doch hat das Malerische und Figürliche, die undeutsche Gebärdensprache allmählich die Oberhand gewonnen. Hofmannsthal vor allem geht oft ganz darin auf.

Alle diese 'Manieren' haben einen gewissen Zusammenschluß in Richard Dehmel gefunden, den man darum wohl auch als Repräsentanten der lyrischen Bestrebungen der beiden letzten Jahrzehnte gelten lassen darf, womit nur diese Tatsache, nicht eine absolute Wertschätzung und unbedingte Anerkennung Dehmels ausgesprochen werden soll, sondern nur seine zeitgeschichtliche Bedeutung. Dehmel hat auch das Gesetz des immanenten Rhythmus – er nennt es den 'Rhythmus der gemeisterten Ergriffenheit' – am konsequentesten befolgt und es durch seinen Einfluß bei den meisten neueren Lyrikern wieder wirksam gemacht. Dies gilt mir als seine vorzüglichste Tat, die ja freilich nicht nur sein Werk ist, sondern die Mitwirkung des Zeitgeistes und der mitschaffenden Künstler voraussetzt und durch sie wohltuend ergänzt wird. Dehmel ist übrigens an sich nur selten Erfüllung, Form und Gehalt gebärden sich durchweg noch zwiespältig. Er weist mit seinem Schaffen in eine bedeutendere Zukunft, besonders in seinem Streben nach Überwindung des schrankenlosen Individualismus, unter dessen Zeichen er in die dichterische Arena eintrat. Es war die Zeit, als Nietzsches Philosophie – auch seine Lyrik hat stark eingewirkt – in die größere Allgemeinheit einzudringen begann. Les extrêmes se touchent. Der starre Dogmatismus des Materialismus mußte notwendigerweise in das Gegenteil umschlagen und in der Kunst einen Subjektivismus erzeugen, der das Persönlichkeitsprinzip, die freie Selbstbestimmung, ebenso einseitig übertrieb und das persönliche Erlebnis in der Dichtung schließlich in den rein musikalischen Fluß der Empfindung aufzulösen drohte.

Die neuen Ergebnisse, die dieser neue Geist zu verarbeiten hatte, habe ich gleich anfangs hervorgehoben als ein innigeres Verhältnis zur Natur und als tieferen Befund der eigenen und der Mitseele. Wie die Anschaungs[82]weise durch die klärende naturwissenschaftliche und philosophische Forschung, durch Technik und Verkehrswesen verändert wurde, darüber ließe sich ein ganzes Buch schreiben. Wie sich die Naturanschauung eigener, lebendiger gestaltete, läßt sich schon in Kleinigkeiten verfolgen. Besonders trat eine ungeheure Differenzierung der Anschauung ein. Wo früher ein: 'Der Abend kommt –, seine Wirkung getan hatte, wurden jetzt die einzelnen sukzessiven Eindrücke gegeben oder doch in der Komplexvorstellung, im Gesamteindruck die 'Stimmung' erregenden Momente deutlicher hervorgehoben. 'Der Wald rauscht' sagte den meisten nichts mehr, aber:

Über den Wipfeln Hin- und Wiederschweben
Wie's Atem holt und voller wogt und braust
Und weiterzieht –
                        und stille wird –
                                              und saust.
Über der Wipfel Hin- und Wiederschweben
Hoch droben steht ein ernster Ton,
Dem lauschten tausend Jahre schon
Und werden tausend Jahre lauschen . . .
Und immer dieses starke, donnerdunkle Rauschen.
                              Peter Hille, Vom fünfzigjährigen Baum.

Das könnte scheinen, als ob die deutsche Lyrik nur geschwätziger geworden sei!

Alles Allegorische, Vergleichmäße wurde verpönt. Eine Rose bedeutet nicht etwa dies oder das, nein, sie ist; es kommt darauf an, ihre Eigenseele zu fassen, ihr nichts anzudichten, sondern sie zu dichten. Dann ist sie ein lebendiges Symbol: Goethe! Ja, beim Altmeister ging man in die Schule. Aber man fühlte sich ihm doch um etliches überlegen: man wollte der Naturseele doch näher gekommen sein. Es war ja die Allseele (Pantheismus, Monismus). Dehmel ist auch da das Orakel:

So, Kind, erlebt dein Herz im dürrsten Baum,
was ihm wohl oder wehe tut;
nur leiser, ferner, nicht so nah dem Blut.

Ein andermal mahnt aber auch er hochweise vor allzu großer Gemeinschaft mit diesen Seelen:

Aber weißt du: steig lieber nicht weiter hinunter
in diese Welt der einfachen Seelen –
sonst möchte dir Eins an ihrem Gottglück fehlen:
sie gehn nicht auf darin, sie gehn drin unter –
unwissend! – Ja: Gottlob: nicht Einen Tag
wärst du im Stande, zwischen diesen Viehern
dich auszuleben – oder sag:
möchtest du Tiere zu Erziehern?

O, tiefe Weisheit! 'Zwei Menschen lachen', sagt Dehmel vorsichtig schnell hinterher. Aber wir erinnern uns: das Wahre war schon längst gefunden.

[83] Dieser etwas negativ ausgefallene Beweis für die Güte der neuen Naturanschauungsweise will darüber ganz gewiß nicht die wirklichen neuen Werte – das 'neu' natürlich relativ – verachten und geringschätzen lehren. Diese hier im einzelnen zu untersuchen, kann aber meine Aufgabe nicht sein. Es kam mir bei diesem Versuch eines kurzen Überblicks über den Gang und gegenwärtigen Stand der modernen lyrischen Kunst nicht auf eine möglichst erschöpfende Übersicht in Namen und Daten, auf Wiederholung allgemein bekannter Details, vielmehr auf Aufdeckung des treibenden Prinzips und der wirkenden Faktoren, auf Klarstellung des Zusammenhangs im Allgemeinen an.

Die sprachschöpferische Kraft der modernen Dichtung ist hoch zu werten, doch darf man den Wert und die Zahl wirklich organischer Neubildungen nicht überschätzen. Wertvoll vor allem sind die Bereicherungen aus den einzelnen Mundarten. Die Zeit aber, wo jeder sich für einen Geisteskrösus hielt, der ein neues Adjektiv zum Wort gefunden oder gar ein Neuwort verbrochen hatte, ist vorüber.

Im Ernst: die Menschen von heute haben ein inniges Verhältnis zur Natur gewonnen. Es ist nicht mehr die obligate Schönfärberei, es ist ein frisches Genießen der Natur.

Die übertriebene Geistreichigkeit in Ansehung der Natur, das Hineingeheimnissen von Wissenselementen, der symbolistische Überschwang, der anfangs den reichen Fluß der Empfindung noch trübte, ist bald abgesunken. Der sentimentalische Beigeschmack rührte hauptsächlich davon her. Man ersah sehr bald den ganzen Unterschied zwischen einer solchen Allbeseelung und der naiven Naturbeseelung des Kindes und jugendlicher Völker im Märchen. Man beschränkte sich mit Goethe darauf, die Gesetzmäßigkeit der Natur in ihrer anschaulichen Wirkung als sinnfällige Schönheit zu empfinden, die dadurch nichts von ihrem symbolischen Wert verlor, sondern an Reinheit und Tiefe gewann, nicht nur für die Kunst, sondern, was mehr oder gleich gilt, für's Leben gewann.

Reicher und vielseitiger noch hat sich das menschliche Verhältnis gestaltet. Zunächst das zur eigenen Persönlichkeit. Selten noch hat sich solch ehrliches Ringen um eine gesunde Lebensauffassung in der Fülle gezeigt, wie in der neuen Weltanschauungslyrik und ein so sehnliches Trachten nach religiöser Grundlage. Der Most mußte sich so wild gebärden, um klarer Wein zu werden. Schon jetzt kann man aus der individuellen Vielstimmigkeit die einheitliche Symphonie heraushören. Statt da zu schmähen und nichts als Irrwahn zu sehen, greife lieber jeder selbsttätig nach Vermögen ins Werk, um zu fördern, was es Fördernswertes enthält. In wie vielen tritt da eine Läuterung und Vertiefung der Persönlichkeit zutage, die natürlich, naturnotwendig sofort auf die Mitseele als Liebe einwirkt. Wie nahe steht Dehmels Wort von 'dem Allumschlingenden grundloser Güte' – abgesehen von der monistischen Färbung seiner Weltanschauung – der christlichen Grundidee. Es zieht sich ein starker Strom christlichen, sozialen Mitgefühls, das die [84] Brutalität einer mißverstandenen Herrenmoral rasch überwand, durch die gegenwärtige Dichtung. In der Frage nach der Stellung zum Weibe hat sich allerdings zuviel des Häßlichen ans Licht gewagt. Es hätte sicher mit viel mehr Wahrheit und Offenheit geschehen können und ohne alle Hinterhältigkeiten und Brutalitäten. Aber eine Klärung hat die Frage entschieden erfahren. Dazu hat das selbständige Eindringen weiblicher Talente in die Probleme vielleicht das meiste beigetragen.

All das also spiegelt sich in der modernen Lyrik wieder, ist der innere Gehalt dieser Lyrik. Das künstlerisch Wertvolle, Bleibende daraus wird man einstweilen nicht sehr hoch anschlagen. Denn man kann sich der Ansicht nicht verschließen, daß vieles doch erst gärende Unreife ist. Ins Volk, ich meine die gesunde Allgemeinheit unseres Volkes, wird es schon seiner allzu großen Subjektivität wegen nicht eindringen können, denn die Allgemeinheit lehnt alle aufdringliche Weisheit, alles zu Bewußte mit gesundem Instinkt ab. Das Volk spürt die Einseitigkeit, die Unfertigkeit dieser Darbietungen. Es trägt, wenn auch ungeklärt, ein bereits viel abgeschlosseneres, vollkommeneres Abbild im Schoße seiner Seele und nur die, die ihm einst in idealer Größe dies sein Abbild zeigen und es so zur klaren Erkenntnis seiner selbst und der Welt führen, wird es krönen. Alles unzeitig titaneske Gebaren gibt es der Lächerlichkeit preis. So ist das Volk in seiner Allgemeinheit der Guten und Besten der kompetenteste Kunstrichter. Deshalb wird es einstweilen auch noch lieber am bewährten Alten festhalten, an den Dichtern, die diesen Neueren vorgearbeitet und besonders an anschaulichen Werten ihnen ein selten reichhaltiges Material geliefert haben. Das Verdienst dieser Neueren aber wird die Überwindung der Schablone, die Neubegründung des individualistischen Schaffensprinzips, die Kunst als Ausdruck des inneren Erlebens nach dem Gesetze des immanenten Rhythmus bleiben, des Prinzips der deutschen Kunst seit je, das nur zeitweise verdunkelt ward. In diese geschmeidige Form, die, wie wir sahen, bis hart an die Grenze musikalischer Unbestimmtheit zu gehen wagen kann, wird sich der ganze Gehalt, das reiche seelische Erleben der Zeit verdichten; darin wird sich auch das brauchbare Fremde, dessen schädlichen Einfluß ich vielleicht etwas übertreiben mußte, um die Grundforderung des Deutschen herauszuarbeiten, zu organischer Einheit mit dem Deutscheigentümlichen verbinden lassen. Die reinen Lyriker werden es zwar nicht sein, die diese Aufgabe großen Stils bewältigen werden. Dafür ist die reine Lyrik ein zu enges Gefäß. Noch weniger aber werden es so konvulsiv gärende problematische Naturen vom Schlage Dehmels sein.

R. M. Meyer gibt dem Schlußkapitel seiner Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhundert die Etikette: Konzentration. Er hat recht: eine Konzentration bahnt sich allmählich an. Aus einer solchen Konzentration, die heute erst schwer zu erringen ist, heraus werden die großen dichterischen Kunstwerke entstehen, wie ich eingangs bereits bemerkte. Die Zeit ruft bereits danach. Und bald hier bald da taucht ein neuer Messias auf. Es können [85] aber wohl nicht Jahrzehnte vergehen bis zu seiner Ankunft. Er wird seine Jugend haben, aber kaum ein eigentlicher Stürmer und Dränger sein wie auch Goethe keiner war. Die große Kunst erfordert eine nicht wie Rohr im Winde wankende Überlegenheit und eine geschlossene, in sich ruhende und aus sich heraus zum Ganzen sich entwickelnde Persönlichkeit, die etwas Selbstverständliches tut, indem sie schafft, der aber alles bewußte Getue fern ist. Sie wird die vielerlei Manieren, die Reichhaltigkeit der Ausdrucksmittel zu einem einheitlichen Stil, dessen Wesenheit der Dichter selbst ist, ich sich vereinigen. Ein solcher Dichter wird z. B. ähnlich charakterisieren, wenn der Moment es fordert, wie R. M. Rilke, der bei einem Gespräche in der Dämmerung etwa sagt: es entsteht eine große Stille um ein kleines Ja. Aber er wird nicht gewollt stilisieren und sich in solchen Einzelheiten bis zur Manier übertreiben, er wird sein natürlich künstlerisches Empfinden ohne Affektation walten lassen.

Und welche Form er wählen wird? Den Roman? In ihm wird er sein Höchstes schwerlich geben. Im Epos? Er wird Versuche wie Spittelers 'Olympischer Frühling' und Dehmels 'Zwei Menschen', die ein interessantes Vergleichsobjekt wären, nicht unbeachtet lassen. Eine Gesamtdarstellung der Zeit in ihrem faustischen Drange wird sich jedoch wohl nur im Drama voll verwirklichen lassen. Und dabei wird er sich die ganze anschauliche Kraft und besonders die rhythmische Geschmeidigkeit und dynamische Wucht, wie die neuere Lyrik im Wiederanschluß an die deutsche Tradition sie entwickelt hat, gewiß zu eigen machen, also nach dem Gesetz, das wir für die deutsche Lyrik, für die deutsche Kunst überhaupt angezeigt haben, gestalten. Denn das Lyrische in diesem Sinne, im festen Verhältnis zum Innersachlichen natürlich, ist das Fundamentale auch im Drama und bestimmt von innen heraus dessen architektonischen Aufbau, wie ich auch der Ansicht bin, daß dadurch die Ballade wieder über den pomphaften Eklektizismus eines Börries v. Münchhausen hinaus zu einer Neubelebung von innen heraus gelangen wird, wofür mir weniger die subjektivistischen Versuche eines Dehmel und anderer, als die das lyrische Einzelerlebnis und dessen Erlebniswiedergabe, unter Berücksichtigung der dichtenden Volksseele, zum menschlichen Gesamterlebnis erhebende dichterisch starke Intuition einer Handel-Mazzetti ein Beweis ist, deren 'Deutsches Recht' mir das Köstlichste ist, das ich seit langem an Dichtung miterlebt habe.

In der Epoche der seelischen Befreiung und Stärkung des Weibes könnte, wer weiß, vielleicht ein weiblicher Dichter die Erfüllung der Zeit sein?

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Hochland.
Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst.
Jg. 6, 1908/09, Heft 7, April 1909, S. 68-85.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Hochland   online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Hochland_(Monatsschrift)
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008919913
URL: https://archive.org/advancedsearch.php

Hochland   Inhaltsverzeichnisse
URN: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:824-31-ba-2940-4

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

 

 

Literatur: Flaskamp

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Durkin, Rachael (Hrsg.): The Routledge Companion to Music and Modern Literature. London u. New York 2022.

Flaskamp, Christoph (Hrsg.): Seele, die du unergründlich. Kleinodien der deutschen Lyrik. Kempten 1910.
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100646843

Emrich, Berthold: Art. Butzenscheibenlyrik. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Berlin 1958, S. 203-204.

Hahl, Werner: Art. Erlebnis. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus Weimar. Bd. I. Berlin u.a. 1997, S. 496-498.

Jauß, Hans R.: Ursprünge der Naturfeindschaft in der Ästhetik der Moderne. In: Romantik: Aufbruch zur Moderne. Hrsg. von Karl Maurer u.a. München 1991 (= Romanistisches Kolloquium, 5), S. 357-382.

Reents, Friederike: Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert. Göttingen 2015.

Zymner, Rüdiger: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23-36.

 

 

Literatur: Hochland

Colonge, Paul: Limage de la France dans Hochland avant 1914. In: Le discours européen dans les revues allemandes (1871 - 1914) / Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1871 - 1914). Hrsg. von Michel Grunewald. Bern u.a. 1996, S. 191-204.

Dirsch, Felix: Das „Hochland" - Eine katholisch-konservative Zeitschrift zwischen Literatur und Politik 1903-1941. In: Konservative Zeitschriften zwischen Kaiserreich und Diktatur. Fünf Fallstudien. Hrsg. von Hans-Christof Kraus. Berlin 2003, S. 45-96.

Giacomin, Maria C.: Zwischen katholischem Milieu und Nation. Literatur und Literaturkritik im Hochland (1903 - 1918). Paderborn 2009.

Merlio, Gilbert: Carl Muth et la revue Hochland. Entre catholicisme culturel et catholicisme politique. In: Le milieu intellectuel catholique en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1871 - 1963) / Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871 - 1963). Hrg. von Michel Grunewald u. Uwe Puschner. Berlin u.a. 2006, S. 191-208.

Pittrof, Thomas (Hrsg.): Carl Muth und das Hochland (1903-1941). Freiburg i.Br. 2018.

Rowland, Tracey: Beyond Kant and Nietzsche. The Munich Defence of Christian Humanism. London 2021.

Stead, Évanghélia / Védrine, Hélène (Hrsg.): L'Europe des revues II (1860-1930). Réseaux et circulations des modèles. Paris 2018.

Vollhardt, Friedrich: Hochland-Konstellationen. Programme, Konturen und Aporien des literarischen Katholizismus am Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Beiträge des Heidelberger Colloquiums vom 12. bis 16. September 2006. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann u. Roman Luckscheiter. Freiburg i.Br. u.a. 2008, S. 67-100.

Weiß, Otto: Kulturkatholizismus. Katholiken auf dem Weg in die deutsche Kultur 1900 - 1933. Regensburg 2014.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer