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Editionsbericht
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Wenn man Rimbaud in Deutschland kennt, so kommt es daher, daß man für
Verlaines verlorenes Leben seit dem Bekanntwerden dieses lyrischen Genies starkes
Interesse zeigt und daß der junge Zigeuner aus Charleville im Leben Paul
Verlaines eine verhängnisvolle Rolle spielte. Aus dem richtigen Gefühl heraus, wie
interessant an und für sich dieser lyrische Vorläufer Verlaines war, als Mensch wie als
Dichter, gibt K. L. Ammer in einem Buche
*),
das Stefan Zweig geist- und gefühlsprühend eingeleitet hat, einen für
Deutschland sehr wichtigen Beitrag zur modernen französischen Literatur- und
Menschengeschichte: dieser Beitrag besteht aus einer tüchtigen Uebersetzung der
Biographie Paterne Berrichons, des Mannes einer Schwester Rimbauds,
und aus einer Auswahl aus Rimbauds Vers- und Prosalyrik.
Es ist ein Leben, wie es sich selten abspielt, das hier vor uns tritt. Vier Jahre
Dichter und Bohémien, dann Schluß mit Kunst und Künstlerdasein. Danach
fast zwanzig Jahre das Dasein eines großzügigen Kolonialkaufmanns, der in seinen
Nebenstunden Erforscher bis dahin unbekannter Erdstriche wird. Von Ulrik Brendel
sagt Johannes Rosmer in "Rosmersholm": "Auf alle Fälle hat er den Mut gehabt,
das Leben nach seinem eigenen Kopf zu leben. Mich dünkt, das
ist doch auch nichts Geringes." Hier ist einer, dem niemals das Brendelschicksal drohte
und der keine Stunde seines Lebens den geringsten Zwang duldete, der als Knabe von 17 Jahren
die kühnsten lyrischen Gänge ritt und bis zwanzig die Skala der dichterischen
Schaffensmöglichkeiten und der europäischen Genußmöglichkeiten durchrast hat.
Dann durchquerte er Europa mit wenig Geld und viel Energie, als anständiger
Vagabund, ging in die heißen Zonen und starb nach langem, furchtbarem Siechtum in Marseille.
Rastlos und nirgends zu Hause war er niemandes Sklave und herrschte über alle, die
irgendwie schwach waren, über Verlaine, über seine Mutter und seine Schwestern, über
seinen Schwager und Biographen Paterne Berrichon, der auch sein Bild meißelte, das als
Denkmal auf der Place de la Gare seines Geburtsortes Charleville
steht, auf dem Platz, wo seine Sinnlichkeit unter den vulgären Klängen der
Militärmusik so ausgiebig die kleinen Mädchen verfolgte.
Ein Phänomen war dieser Mensch: zweimal ward sein Leben gebrochen: einmal sein dichterisches Leben durch ihn selbst, dann sein Wanderleben durch den Tod. Das erste, so ganz verschieden von dem zweiten, trank er aus, bis der Bodensatz schal schmeckte, das zweite, intensiver aber weniger kostbar als das erste, sieht aus wie jene schlanken, rauh abgebrochenen Granitsäulen, die man auf die Gräber setzt.
Was er denen gewesen, über die er herrschte, hat der größte von allen, die unter ihm
litten, hat Verlaine bei Rimbauds Tode bezeugt:
Man sagt dich tot!
Zum Teufel solche Mär',
Samt dem, der sie erfunden
Und bis zu meiner Türe trug!
Ichglaub' esnicht. Du tot,
Ein Gott du unter halben Göttern,
Und die es sagen, sind verrückt.
Tot meine große, strahlende Sünde,
Dies ganze Gestern, das heute noch
In meinen Adern, in meinem Hirne brennt
Und strahlt und aufzuckt
Und immer neue Inbrunst zeugt.
Tot dieser ungeheure Sieg,
Der ungehemmt und ohne End'
Nach meines Herzens Takt, das göttlich war,
In allen Tönen widerhallt.
Tot dies Gedicht so wunderbar:
Des Lebens Weisheit ganz,
Mein Vaterland, die Luft meiner Bohème,
Tot? Nimmermehr, mein Leben lebtest du!
Anderer Dichter "Perioden" umfassen Jahre und Jahrzehnte; Rimbauds "Perioden" umfassen
nur Monate. In dem Neujahrsgeschenk der Waisen, dem zeitlich ersten
Gedichte des sechzehnjährigen Pennälers, ist er noch nicht Rimbaud, der geniale,
tollkühne Revolutionär, laboriert er noch an der schülerhaften romantischen
Sentimentalität, über die er so schnell hinwegkam, geht sein ganzes Streben noch
darauf hinaus, einen recht richtigen Vers zu schreiben. Es kommt einem vor, als
hielte ihn die Furcht vor einem etwaigen verbessernden Gymnasiallehrer in Schranken,
als erzittere seine Muse in Pietät vor seinem Literaturprofessor <Izambard>,
übrigens dem einzigen seiner Lehrer, der seine Genialität erkannte und sie ihm
– verzieh. Zu zwölf Jahren schrieb er Aufsätze, die kühner waren als
dieses Gedicht. Nur braust es in diesem doch schon ab und zu auf und dann findet er Bilder wie:
Langsam, ein Erinnern, lachend und schön,
Wie Rosenkranzperlen durch die Finger gehn.
Allmählich dringt die Löwenklaue durch und in dem "Schmied" – das Gedicht fehlt
in der Ammerschen Sammlung – wird der französischen Dichtung von einem Schulbuben
die soziale Lyrik beschert. Der Rhythmus schwingt freier; die formale Entwicklung
geht Hand in Hand mit der geistigen. Ein starker energischer Effekt geht von diesem
Schmiedegedichte aus. In "Sonne" und "Fleisch" brennt es von flandrischer
Exuberanz und jünglinghaftem Lichtdurst, zeigt sich – besonders in dem wunderschönen Anfang –
eine Vermengung von stärkstem Exotismus und unüberwindlichem Drang nach Betätigung der unterbundenen
Lebensenergie. Es ist berauschend, wie er Aphrodite jubelnd seinen Sang zuwirft, und echt
knabenhaft, echt jung, wie er seine kyprischen Träume stammelt: der Ephebe, der an seinen
eigenen Gliedern die Schönheit abliest und von ihnen den Drang nach Schönheit hernimmt.
Noch ist der Vers so gut besorgt, wie man es von einem Pennäler erwarten kann, und in
"Ophelia" tritt auch noch die Naseweisheit hervor, die solch jungen Leuten eigen ist; der erste
Teil dieses Gedichtes ist dabei von einer etwas konventionellen, aber einschmeichelnden
Naturlyrik. Im "Ball" der "Gehängten" und in "Venus Anadyomene" –
die ebenfalls bei Ammer fehlen – dringt schon der karikaturistische Realist durch;
er wird auch dementsprechend freier in den Mitteln und zeigt eine Neigung zum Grotesken, die
ihn nie verläßt; in letzterem Gedicht stehen so prächtg barocke Verse wie
"Les rondeurs des seins semblent prendre l'essor". Die erste, von 1869 bis 1870 gehende
Periode schließt daneben mit zwei anderen charakteristischen Gedichten, dem idyllischen,
von Ammer kongenial verdeutschten "Faunskopf" und dem, eine verteufelt frühreife
Menschenverachtung zeigenden "Châtiment de Tartufe"; dessen Fehlen in der Sammlung
man Ammer vorwerfen darf.
Die zweite Periode Rimbauds geht von 1870 bis 1871. Sie ist bei Ammer nicht gewählt
genug vertreten und doch ist sie schließlich viel interessanter als die erste.
"Warum Nina nicht kommen kann" hätte trotz der frischen, reifen, gar nicht mehr
jünglinghaften Sinnlichkeit schließlich wegbleiben können. "A la Musique"
jedoch, in dem das Lolchkorn der Perversität zuerst in dem reinen Weizen ungebrochener
Leidenschaften auftaucht, und auch der einfach schöne Zyklus "Roman" durften hier
nicht fehlen. In dieser Periode vollzieht Rimbaud seine Ausbildung zum Augentier und entwickelt
sich immer mehr zum Realisten, Satiriker, Sittengeißler und Philisterverächter.
Daß er alle die Liebschaften, von denen er singt, schon erlebt, am eigenen
Leibe erlebt hat, ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Das sagt übrigens nicht viel, denn
innerlich erlebt hat er sie sicher mit der untrüglichen Ahnungsgabe des auch
körperlich Frühreifen. Im "Roman" lügt er z. B. ganz ruhig, ganz naiv zwei
Jahre zu seinem wirklichen Alter hinzu; aber wie nebensächlich wirkt das, wenn man bedenkt; wie
richtig
er eben hier seinen eigenen Seelenzustand, jedenfalls den Seelenzustand seines Alters, durchschaut
hat. Jugendlich, recht jugendlich sind daneben die Verse der "Effarés" (denen
Ammer den unbedeutenden Titel "Die Bettelkinder" gegeben hat), und ebenso frühalt sind
"Wintertraum" und "Cäsarenzorn". Das letzte, neben dem "Schläfer im Tal" vielleicht das beste
Gedicht dieser Periode, ist wunderbar marmorn geraten und hat einige wahrhaft monumentale
Verse. Im "Schläfer im Tal" glaubt man Liliencron vorzuhören. Dazu kommen "Im grünen Cabaret"
und "Meine Bohème", in denen die ganze Lebensliebe dieses einzigartigen Egoisten betörend
aufflammt, während eine an Frechheit grenzende künstlerische Kühnheit in den "Stubenhockern"
das Aeußerste an Realismus zu bieten sucht; dieser knabenhafte Kultus des
Häßlichen – das Wort knabenhaft kann man überhaupt hier nicht genug gebrauchen –
ist die unappetitliche Seite in Rimbauds imponierendem Schaffen. Aber auch hierin ward er
von Bedeutung für das Jahrhundert: ein nüchterner Betrunkener, ein Hungriger und
Gesättigter zugleich.
Immer stärker wird der Realismus Rimbauds, doch abstoßend wird er nur ab und zu;
das urwüchsige Temperament macht ihn verzeihlich. So ist das Spottgedicht "Paris lebt auf" trotz vieler
Geschmacklosigkeiten, eine der energischsten, konsequentesten und künstlerisch wervollsten
Anpöbelungen, die ein Dichter sich je geleistet hat; ihren Wert hätte diese Anpöbelung schon
als typisches Muster des Bourgeoishasses, des Hasses der Bourgeoislust, des klassischen
Aristokratenstolzes des Bohémien. Ein für die Zeit, in der es geschaffen ward, ebenso neuartiges
Gedicht ist "Die erste Kommunion", in dem die sonderbare Mischung von Seelenschmutz
und Mystizismus, die solche Zeremonien auslösen, überlegen wiedergegeben wird. In diesem
Sujet zogen ihn die unheimlichen Pubertätsverirrungen an, nur wird er zu andeutend, ist er
hier schon zu dunkel, verschleiert er zu fremdartig. Das Gedicht "Der siebenjährige Dichter",
in dem Rimbaud, der Frühreife, sich mit dem beängstigenden Problem der Frühreife künstlerisch
auseinandersetzt, ist weit wertvoller; ebenso stark ist die korrupte Poesie der
"Läusesucherinnen".
Viel weniger kann ich mich mit der Rauschsymphonie "Das trunkene Boot" befreunden,
am allerwenigsten diesen Farbenwirrwar, in dem der Neunzehnjährige seine ersehnte bunte
Zukunft vorahnt, als die Meisterschöpfung Rimbauds bezeichnen. Der Einfluß dieses
Gedichtes auf den französischen Symbolismus war freilich immens, sicher mehr schädlich
als nützlich. Seine historische Stellung wächst eben immer mehr über seinen ästhetischen Wert
hinaus. So ist auch das bekannte Sonett der Vokale eine Fumisterie, von deren Aufstellungen
eine wahr bleibt, daß Phänomene von farbigem Hören und ähnliche Synesthesien bei
schöpferischen und kranken Menschen gleichmäßig häufig sind.
[2] Rimbauds Bedeutung liegt in der Revolutionierung der dichterischen Sinnlichkeit
und in der trotzig durchgesetzten Selbstbehauptung einer partikularen, keine Situation
verschmähenden und seltene, unbeachtete Situationen entdeckenden freien Lyrik. In einer Zeit,
wo das Parnassiertum unbeschränkt herrschte und Gemeinplätze der Sinnlichkeit und des
Gefühls in korrekt plastische, sicher schöne aber blutlose Verse geschmiedet wurden, ist
dieses teils naive, teils kranke Knabengenie vor keiner Kühnheit zurückgebebt. Und als er
neue Gefühle, Sinnen- und Formenwerte entdeckt hatte, ward es den anderen nur zu leicht,
aparte Reize zu gestalten. Der Symbolismus ist die gerechte Revolte gegen die Schule
Leconte de Lisles gewesen; das gewaltsamste, lebensvollste Werk von allen, die hierzu
beitrugen, ist immerhin noch das dieses Vorläufers, der in seinen Versen und in seiner
Prosalyrik ("Ein Sommer in der Hölle" und "Erleuchtungen") eine der gelungensten Synthesen
von Visionärem und leidenschaftlich Gefühltem gab. Neben aller scheinbaren, oft gewollten
Verrücktheit steigen doch hier zuerst Klänge auf, an die wir allmählich und mit Genuß
unsern Sinn gewöhnt haben.
* * *
Ich habe am Arrangement der Ammerschen Auswahl so viel ausgesetzt, daß ich energisch
betonen muß: diese Rimbaud-Ausgabe ist in deutsch-französischer Uebertragungskunst eine
der prächtigsten und überlegensten Leistungen, die zu verzeichnen sind. Nicht nur die
Stimmungen, sondern auch die Feinheiten der Originale sind mit Echtheit wiedergegeben
und doch lesen sich die Gedichte wie deutsche; es gehört ein außerordentliches Talent
der Einfühlung zu einer solch gelungenen Nachschöpfung. Ich lobe mir und meinen Lesern
besonders die "Komödie in drei Küssen", den "Schläfer im Tal", "Das trunkene Schiff",
"die Läusesucherinnen" und das Sonett "Vokale". In all diesen sind manche Verse schöner
als die gleichliegenden Rimbauds.
Wenn ich dann aber einige böse auf die Nerven fallende Schnitzer tadle, so geschieht das lediglich
im Interesse des Uebersetzers und um ihm zu zeigen, wie aufmerksam ich sein Werk gelesen.
Im "trunkenen Schiff" ist der erste Vers "Comme je descendais des Fleuves impassibles"
übersetzt mit "Ich kam die reißenden Flüsse heruntergeschwommen". Wie Ammer
impassible mit reißend übersetzen konnte, muß jedem, der französisch
versteht, ein Rätsel bleiben. Der Sinn der Verszeile wird durch diesen Schnitzer ganz
entstellt. Aehnliches findet sich in der dritten Strophe der "Läusesucherinnen" und auch
anderswo. Ein Werk, das der Vollendung so nahe ist wie das vorliegende, sollte frei sein
von solchen groben Verstößen.
[Fußnote, S. 1]
*) Arthur Rimbaud: "Leben und Dichtung". Uebertragen von K. L. Ammer;
eingeleitet von Stefan Zweig. Leipzig, Insel-Verlag.
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Erstdruck und Druckvorlage
Frankfurter Zeitung und Handelsblatt.
1908, Nr. 226, Erstes Morgenblatt, 15. August, S. 1-2.
[PDF]
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Frankfurter Zeitung und Handelsblatt online
PURL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hebis:30:2-223884
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Lyriktheorie » R. Brandmeyer