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Paris VIe, 29, rue Cassette, am 13. Oktober 1907 (Sonntag)
. . . es ist doch wieder das gleiche Regnen, das ich Dir nun schon so oft beschrieben habe; als hätte der Himmel nur einen Augenblick hell aufgesehen, um gleich darauf wieder weiterzulesen in den gleichmäßigen Regenzeilen. Aber es vergißt sich nicht so leicht, daß unter der trüben Tünche dieses Licht und diese Tiefe ist, die man gestern sah: nun weiß man es wenigstens.
Gleich am Morgen hatte ich von Deinem Herbst gelesen, und all die
Farben, die Du in den Brief
hinein[377]gebracht hattest, verwandelten sich in meinem Gefühl
zurück und erfüllten mein Bewußtsein bis an den Rand
mit Stärke und Strahlung. Während ich hier gestern den aufgelösten
lichten Herbst bewunderte, gingst Du durch jenen andern
heimatlichen, der auf rotem Holz gemalt ist, so wie dieser
hier auf Seide. Und das eine reicht an uns heran und das andere;
so tief auf den Grund aller Verwandlung sind wir gestellt, wir Wandelbarsten, die
mit einer Neigung, alles zu begreifen, herumgehen und die (indem wir es
doch nicht fassen) das Übergroße zur Handlung unseres Herzens
machen, damit es uns nicht zerstöre. Wenn ich hinaufkäme zu Euch,
so würde ich gewiß auch den Prunk von Moor und Heide, das
schwebend helle Grün der Wiesenstücke und die Birken neu und anders sehen; zwar hat diese
Verwandlung, da ich sie einmal ganz erlebte und teilte, einen
Teil des Stunden-Buchs hervorgerufen; aber damals war mir die Natur noch ein allgemeiner
Anlaß, eine Evokation, ein Instrument, in dessen
Saiten sich meine Hände wiederfanden; ich saß noch nicht vor ihr; ich
ließ mich hinreißen von der Seele, welche von mir ausging; sie
kam über mich mit ihrer Weite, mit ihrem großen übertriebenen
Dasein, wie das Prophezeien über Saul kam; genau so. Ich schritt einher und
sah, sah nicht die Natur, sondern die Gesichte, die sie mir eingab.
Wie wenig hätte ich damals vor Cézanne, vor Van Gogh zu lernen
gewußt. Daran, wieviel Cézanne mir jetzt zu tun gibt,
merk ich, wie sehr ich anders
ge[378]worden bin. Ich bin auf dem Wege, ein Arbeiter zu werden, auf einem
weiten Wege vielleicht und wahrscheinlich erst bei dem ersten Meilenstein;
aber trotzdem, ich kann schon den Alten begreifen, der irgendwo weit vorne gegangen
ist, allein, nur mit Kindern hinter sich, die Steine werfen (wie
ich es einmal in dem Fragment von den Einsamen beschrieben habe).
Ich war heute wieder bei seinen Bildern; es ist merkwürdig, was für eine
Umgebung sie bilden. Ohne ein einzelnes zu betrachten, mitten zwischen
den beiden Sälen stehend, fühlt man ihre Gegenwart sich
zusammentun zu einer kolossalen Wirklichkeit. Als ob diese Farben
einem die Unentschlossenheit abnehmen ein für allemal. Das
gute Gewissen dieser Rots, dieser Blaus, ihre einfache Wahrhaftigkeit
erzieht einen; und stellt man sich so bereit als möglich unter sie,
so ist es, als täten sie etwas für einen. Man merkt auch, von Mal zu Mal
besser, wie notwendig es war, auch noch über die Liebe hinauszukommen;
es ist ja natürlich, daß man jedes dieser Dinge liebt, wenn man
es macht: zeigt man das aber, so macht man es weniger gut; man
beurteilt es, statt es zu sagen. Man hört auf,
unparteiisch zu sein; und das Beste, die Liebe, bleibt außerhalb
der Arbeit, geht nicht in sie ein, restiert unumgesetzt neben ihr:
so entstand die Stimmungsmalerei (die um nichts besser ist als die stoffliche).
Man malte: ich liebe dieses hier; statt zu malen: hier ist es.
Wobei denn jeder selbst gut zusehen muß, ob ich es geliebt habe. Das
ist durchaus nicht gezeigt,
[379] und manche werden sogar behaupten, da wäre von keiner Liebe die
Rede. So ohne Rückstand ist sie aufgebraucht in der Aktion des Machens.
Dieses Aufbrauchen der Liebe in anonymer Arbeit; woraus so reine Dinge
entstehen, ist vielleicht noch keinem so völlig gelungen wie dem
Alten; seine mißtrauisch und mürrisch gewordene innere Natur
unterstützte ihn darin. Er hätte gewiß keinem Menschen mehr seine
Liebe gezeigt, so er eine hätte fassen müssen; aber mit dieser Anlage,
die durch seine abgesonderte Wunderlichkeit ganz ausentwickelt worden war,
wandte er sich nun auch an die Natur und wußte seine Liebe
zu jedem Apfel zu verbeißen und in dem gemalten Apfel
unterzubringen für immer. Kannst Du Dir denken, wie das ist und wie man es an ihm
erlebt? Ich habe die ersten Korrekturen von der Insel. In den Gedichten sind
instinktive Ansätze zu ähnlicher Sachlichkeit. Die "Gazelle" lasse ich auch stehen; sie
ist gut. Leb wohl . . .
Erstdruck und Druckvorlage
Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1906 bis 1907.
Hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber.
Leipzig: Insel-Verlag 1930, S. 376-379.
[PDF]
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Kommentierte Ausgaben
Werkverzeichnis
Verzeichnisse
Ritzer, Walter: Rainer Maria Rilke. Bibliographie.
Wien: Kerry 1951.
Obermüller, Paul (Bearb.): Katalog der Rilke-Sammlung Richard von Mises.
Frankfurt a.M.: Insel-Verlag 1966.
Katalog der Rilke-Sammlung Cornelius Ouwehand.
URL: https://ead.nb.admin.ch/pdf/ouwehand.pdf
Rilke, René Maria: Leben und Lieder.
Bilder und Tagebuchblätter.
Strassburg i.E. und Leipzig:
Kattentidt Jung Deutschlands Verlag o.J. [1894].
URL: http://www.galaxie-des-wissens.de/deutsch/tour_18/index.html [Titelblatt]
Rilke, René Maria: Larenopfer.
Prag: Dominicus 1896.
URL: http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb00051933-9
Rilke, René Maria: Wegwarten I-III.
3 Bde. Prag: Selbstverlag des Verfassers o.J. [1895/96].
Bd. 3: René Maria Rilke und Bodo Wildberg.
PURL: http://www.literature.at/alo?objid=12108
Rilke, René Maria: Traumgekrönt. Neue Gedichte.
Leipzig: Friesenhahn 1897.
URL: https://archive.org/details/bub_gb_RnsyAQAAMAAJ
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/011815581
Rilke, Rainer Maria: Advent.
Leipzig: Friesenhahn 1898.
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/rilke_advent_1898
URL: http://data.onb.ac.at/dtl/323200
Rilke, Rainer Maria: Mir zur Feier.
Berlin: Meyer 1899.
PURL: http://www.literature.at/alo?objid=12105
Rilke, Rainer Maria: Auguste Rodin.
Berlin: Bard o.J. [1902]
(Die Kunst. Sammlung illustrierter Monographien, 10).
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001467616
Rilke, Rainer Maria: Das Buch der Bilder.
Berlin: Juncker o.J. [1902].
Rilke, Rainer Maria: Worpswede.
Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Fritz Overbeck, Hans am Ende, Heinrich Vogeler.
Bielefeld u. Leipzig: Velhagen & Klasing 1903 (Künstler-Monographien, 64).
PURL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:wim2-g-604824
PURL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6:1-164213
URL: https://archive.org/details/worpswedefritzma00rilk
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100345460
Rilke, Rainer Maria: Das Stunden-Buch
enthaltend die drei Bücher:
Vom mönchischen Leben / Von der Pilgerschaft / Von der Armuth und vom Tode.
Leipzig: Insel-Verlag 1905.
URL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00051882-8
Rilke, Rainer Maria: Das Buch der Bilder.
Zweite sehr vermehrte Ausgabe. Berlin, Leipzig, Stuttgart: Juncker o.J. [1906].
URL: https://archive.org/details/DasBuchDerBilder2
PURL: http://www.literature.at/alo?objid=12093
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/006847545
Rilke, Rainer Maria: Neue Gedichte.
Leipzig: Insel-Verlag 1907.
URL: https://archive.org/details/neuegedichte00rilkgoog
Rilke, Rainer Maria: Der Neuen Gedichte anderer Teil.
Leipzig: Insel-Verlag 1908.
PURL: http://www.literature.at/alo?objid=12096 [1918]
Rilke, Rainer Maria: Die frühen Gedichte.
[Des Buches "Mir zur Feier" zweite Auflage].
Leipzig: Insel-Verlag 1909.
URL: https://archive.org/details/3542796
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/102828553
Rilke, Rainer Maria: Requiem.
Leipzig: Insel-Verlag 1909.
URL: http://data.onb.ac.at/rec/AC06504523
Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.
Erstes Bändchen. Leipzig: Insel-Verlag 1910.
URL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00087913-3
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/006847514
Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.
Zweites Bändchen. Leipzig: Insel-Verlag 1910.
URL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00087914-8
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/006847514
Rilke, Rainer Maria: Das Marien-Leben.
Leipzig: Insel-Verlag o.J. [1912] (Insel-Bücherei, 43).
URL: https://archive.org/details/3545127
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008715081
Rilke, Rainer Maria: Erste Gedichte.
Leipzig: Insel-Verlag 1913.
URL: http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/!image/62943/1/LOG_0000/
URL: http://data.onb.ac.at/rec/AC06452995
Rilke, Rainer Maria: Duineser Elegien.
Leipzig: Insel-Verlag 1923.
PURL: http://www.literature.at/alo?objid=12099
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001464457
Rilke, Rainer Maria: Die Sonette an Orpheus.
Geschrieben als ein Grab-Mal für Wera Ouckama Knoop.
Leipzig: Insel-Verlag 1923.
URL: https://katalogplus.ub.uni-bielefeld.de/title/2033157/
PURL: http://www.literature.at/alo?objid=12098
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001905237
Literatur: Rilke
Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik.
In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
Hrsg. von Dieter Lamping.
2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.
Fischer, Luke: The Poet as Phenomenologist.
Rilke and the New Poems.
New York 2015 (= New Directions in German Studies, 10).
Fullenwider, Henry F.: Rilke and his reviewers.
An annotated bibliography.
Lawrence, Kansas 1978 (= University of Kansas publications; Library series, 41).
URL: http://hdl.handle.net/1808/5879
Hoffmann, Camill: Rainer Maria Rilke.
In: Die Zukunft.
Bd. 67, 1909, 19. Juni, S. 434-436.
[PDF]
Honold, Alexander / Wirtz, Irmgard M. (Hrsg.): Rilkes Korrespondenzen.
Göttingen 2019 (= Beide Seiten. Autoren und Wissenschaftler im Gespräch, 6).
Klima, Hannah M.: Rainer Maria Rilkes Kunstmetaphysik.
Entwicklung und Subversion eines ästhetischen Konstrukts in der poetologischen Reflexion.
Stuttgart 2018.
Kramer, Andreas: Rilke and modernism.
In: The Cambridge Companion to Rilke.
Hrsg. von Karen Leeder u.a.
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Kurz, Martina: Bild-Verdichtungen.
Cézannes Realisation als poetisches Prinzip bei Rilke und Handke.
Göttingen 2003.
Marx, Bernhard: "Meine Welt beginnt bei den Dingen".
Rainer Maria Rilke und die Erfahrung der Dinge.
Würzburg 2015.
Müller, Wolfgang G.: Rilkes Neue Gedichte und der Imagismus.
In: Blätter der Rilke-Gesellschaft 30 (2010), S. 231-244.
Painter, Kirsten B.: Flint on a Bright Stone.
A Revolution of Precision and Restraint in American, Russian, and German Modernism.
Stanford, Calif. 2006.
Reynolds, Nicholas C.: Sense and Creative Labor in Rainer Maria Rilke's Prose Works.
Cham 2021.
[Rilke, Rainer Maria]: Paul Cézanne. L'exposition de Paris de 1907
visitée, admirée et décrite par Rainer Maria Rilke.
33 lettres de Rainer Maria Rilke face à 57 toiles et aquarelles de Paul Cézanne.
L'exposition Cézanne au Grand Palais, une reconstitution,
réalisée et présentée par Bettina Kaufmann.
Sous la direction de Lothar Schirmer.
Milan 2018.
Schuhmann, Klaus: Lyrik des 20. Jahrhunderts.
Materialien zu einer Poetik.
Reinbek bei Hamburg 1995 (= rowohlts enzyklopädie, 550).
Schuster, Jörg: "Kunstleben".
Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes.
Paderborn 2014.
Zweig, Stefan: Rilkes Neue Gedichte.
In: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde.
Jg. 11, 1908/09, Heft 6, 15. Dezember 1908, Sp. 416-418.
URL: https://archive.org/details/das-literarische-echo-11.1908-1909
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100178380
Edition
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