Anna Schellenberg

 

 

Das Georgesche Gedicht.

[Auszug]

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Schellenberg
Literatur: Allgemeine Zeitung

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Texte zur George-Rezeption

 

Die Sprache ist für uns Mittel, Erfahrungen und Gedanken auszudrücken. Aber daneben lebt sie ihr eigenes Leben. Und nur für den, der dieses eigene Leben der Worte zu hören vermag, für den ist eine Kunst der Sprache möglich.

Für den, der zu hören versteht, der das "feine, geduldige Ohr" hat. Aber dies "feine, geduldige Ohr", das Nietzsche dem Genießenden wünscht, war bislang nicht häufig bei deutschen Lesern zu finden, ihr Ohr war leisen Klängen verschlossen. Kunst des Wortes war für die meisten die laute Kunst des Theaters. Und wenn in der letzten Zeit die bildende Kunst den Genießenden näher gekommen ist, so liegt dies eben in der bequemeren Art des Genusses. Selbst geistig Hochstehende betrachten die Kunst als Erholungsstätte von geistiger Arbeit. Sie soll in einen Dämmerzustand einlullen. Kunst des Wortes aber zu genießen, wie Kunst des Tones, bedarf es willensstarker Konzentration.

Daher mag es kommen, daß für die Wortkunst eines Stephan George die feinen Ohren fehlten, die sie hören. Wir sind nur an eine Kultur der Sprache noch so wenig gewöhnt, daß das Hören erst erlernt werden muß. Zu neu ist noch eine Kunst der Sprache. Und Uneinsichtige suchen und spüren fremdem, romanischem Einfluß nach.

Dazu kommt, daß die Stimme des neuen Sprachkünders nicht laut von der Bühne tönt. Sie drängt sich nicht auf, sie will gesucht sein. Aber gerade die ursprünglichste aller Dichtungsarten, die Lyrik, ist bei uns die unbeachtetste.

Was würden wir zu einem Musiker sagen, dem ein paar sangliche Melodien einfallen und der ohne jegliche Kenntnis der Harmoniegesetze Symphonien komponieren wollte?

Wer gibt sich auch die Mühe, ein lyrisches Gedicht aufmerksam und laut nach Schall und Bedeutung zu lesen? Man will schnell genießen und darum möglichst ungründlich. Die bisherige Lyrik machte dies auch in gewissem Maße begreiflich. Der Schall der Gedichte war liedähnlich, und Liedform und Liebe in ihrer Verbindung dem Ohr gewohnt geworden.

Stephan Georges Gedichte aber haben mit allem bequem Landläufigen gebrochen. Sie verlangen neue, sie verlangen mitschaffende Leser. Nur ein kleiner Kreis erfreute sich zunächst dieser neuen Kunst. Den Vielen war der Genuß einer Sprachkunst überhaupt noch zu fremd.

In Frankreich ist das anders. Freudig erkennen die Franzosen an, was Baudelaire, Verlaine, Mallarmé, Henri de Régnier für die französische Sprachkultur bedeuten.

In den letzten Jahren endlich wird man bei uns aufmerksam auf Stephan Georges Dichtung. Wie er auf feinsinnige, aufmerksame Hörer wirkt, das erkennt man am besten aus der George-Literatur, die sich bereits angesammelt hat. Daß dieser befruchtende Künstler Erklärer und Ankünder fand, ist selbstredend.

Zur ersten Einführung in seine seltene Kunst ist der kurze Aufsatz von Ria Classen in den Sozialistischen Monatsheften wohl geeignet. Von großem Interesse ist der Aufsatz von Breysig in der Zukunft und insbesondere, aber mehr für den George-Kenner, der von Simmel in der Neuen deutschen Rundschau. Wer auf dem Wege mystischen Schauens sich George nähern will, wird einen guten Führer finden in dem Buch von Dr. L. Klages. Er geht den Seelenvorgängen Georges nach und deutet sie in mystischem Sinne aus. Auf diesen Wegen kommt er der Persönlichkeit des Dichters wohl näher, als er seinen Werken gerecht wird. Denn auf diesen dunklen Pfaden ist kein Licht für ästhetische Betrachtung.

Vor einigen Monaten ist ein Werk erschienen: "Das Georgesche Gedicht" von Kuno Zwymann. 1)

Ehe ich zu einer kurzen Skizzierung dieses Werkes übergehe, möchte ich ein paar Worte über Georges Dichtung einfügen. Sie sind Gruppen lyrischer Einzelgedichte. Ihren Inhalt auch nur andeutungsweise wiederzugeben, ist in einer kurzen Besprechung unmöglich. Man müßte das Wesentliche beiseite lassen. Und dann empfindet jeder Genießende verschieden. Die Seele, die man unwillkürlich in diesen tiefsten Schöpfungen sucht, nimmt für jede mitschwingende Seele eine andere Klangfarbe an. "Indem die Kunst hier das Gefäß für die letzten Persönlichkeitswerte wird, darf nun der Genießende auch so objektiven Kunstwerken Empfindungen subjektivster Art, gleichsam verklärt, zuwenden: so sehr die Persönlichkeit, die diese Gedichte uns fühlbar machen, nur der ideale Brennpunkt des Kunstwerkes selbst und nicht die reale Individualität ist, gewährt sie doch der Dankbarkeit für das Empfangene, aus der Form der Bewunderung in die der Liebe überzugehen." (Simmel.)

Die Georgesche Kunst ist nicht eine Kunst, die sich aus der Zeit entwickelt hat. Wenigstens können wir, die wir ihr zeitlich noch zu nahe stehen, diese Linien nicht erkennen. Sie ist eine, die ihre Zeit entwickeln wird. Sie antizipiert das Kunstempfinden ihres Zeitalters.

 

 

[Fußnote, S. 337]

1) Stuttgart, Verlag von Junker.   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
1904:
Nr. 43, 22. Februar, S. 337-340
Nr. 44, 23. Februar, S. 348-350.

Unser Auszug: S. 337.

Gezeichnet: A. Schellenberg.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Allgemeine Zeitung   online
URL: https://digipress.digitale-sammlungen.de/calendar/newspaper/bsbmult00000002

 

 

 

Literatur: Schellenberg

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Helbing, Lothar u.a. (Hrsg.): Stefan George. Dokumente seiner Wirkung. Amsterdam 1974 (= Publications of the Institute of Germanic Studies. University of London, 18; Castrum peregrini, 111/113).
S. 220-223: Anna Schellenberg.

Mastsitskaya, Iryna: Art. Anna Schellenberg. In: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hrsg. von Achim Aurnhammer u.a. Bd. 3. Berlin u.a. 2012, S. 1613-1615.

Meyer, Richard M.: [Rezension zu:] Kuno Zwymann: Das Georgesche Gedicht. Berlin 1902. In: Deutsche Litteraturzeitung. Jg. 23, 1902, Nr. 43, 25. Oktober, Sp. 2714-2716.
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000599093
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Deutsche_Literaturzeitung

Schuhmann, Klaus: Lyrik des 20. Jahrhunderts. Materialien zu einer Poetik. Reinbek bei Hamburg 1995 (= rowohlts enzyklopädie, 550).

 

 

Literatur: Allgemeine Zeitung

Blumenauer, Elke: Journalismus zwischen Pressefreiheit und Zensur. Die Augsburger "Allgemeine Zeitung" im Karlsbader System (1818 - 1848). Köln u.a. 2000.

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Fischer, Bernhard: Heine, Cotta und die Augsburger "Allgemeine Zeitung". In: Auf den Spuren Heinrich Heines. Hrsg. von Ingrid Hennemann Barale u.a. Pisa 2006, S. 209-218.

Stöber, Rudolf: Deutsche Pressegeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 3. Aufl. Konstanz u. München 2014.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer