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Literatur: Sosnosky
Literatur: Allgemeine Zeitung
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Texte zur Theorie und Rezeption des Symbolismus
Texte zur George-Rezeption
Wie ungeheuer der Unterschied zwischen der Lyrik vom Anfang und der vom Ende des 19. Jahrhunderts ist, das wird einem im vollsten Umfang erst klar, wenn man ein Gedicht aus der einen Zeit mit einem solchen aus der anderen vergleicht.
Man nehme z. B. ein Gedicht von Eichendorff und eines von
Dauthendey:
EichendorffFrühlingsnacht.
Ueber'm Garten durch die Lüfte
Hört' ich Wandervögel zieh'n,
Das bedeutet Frühlingsdüfte,
Unter fängt's schon an zu blüh'n.
Jauchzen möcht' ich, möchte weinen,
Ist mir's doch, als könnt's nicht sein!
Alte Wunder wieder scheinen
Mit dem Mondesglanz herein.
Und der Mond, die Sterne sagen's,
Und in Träumen rauscht's der Hain,
Und die Nachtigallen schlagen's:
"Sie ist deine, sie ist dein!"
DauthendeyAmselsang.
Fliehende kühle von jungen syringen
Dämmernde grotten cyanenblau.
Wasser in klagenden bogen
Wogen –
Auf fosfornen schwingen
Sehnende wogen.
Pupurne inseln in schlummernden fernen.
Silberne äste auf mondgrüner au.
Gold'ne lianen auf zu den sternen.
Von zitternden wolken
Sinkt feuerthau.
Zwischen der Entstehung dieser zwei Gedichte liegen wohl siebzig bis achtzig Jahre, aber es hat den Anschein, als ob sich Jahrhunderte dazwischen thürmten, als ob ihre Dichter trotz der gemeinsamen deutschen Sprache zwei einander völlig fremden Rassen angehörten, als ob sie durch Länder und Meere getrennt wären.
Es liegt nun nahe, anzunehmen, dieser krasse Unterschied sei eben die
Folge des Sturmschrittes, in dem der Zeitgeist mit seinen
Siebenmeilenstiefeln während des letzten Säkulums vorwärts geeilt ist;
er habe in diesem einen Jahrhundert eine weit größere Strecke
zurückgelegt als vordem in der doppelten, ja dreifachen Dauer; da müsse
denn auch die Lyrik am Jahrhundert-Ende ein ganz anderes Aussehen haben als am
Jahrhundert-Anfang.
Diese Annahme wäre aber, so logisch sie auch zu sein scheint, nur sehr bedingt richtig:
Allerdings ist der große Unterschied zwischen einem Gedichte
Eichendorffs und Dauthendeys eine Folge der so gründlich veränderten
Zeitverhältnisse, aber keineswegs die nothwendige, natürliche Folge,
denn sonst müßte dieser Unterschied mehr oder minder auch zwischen
der gesammten Lyrik der Zeit Eichendorffs und der Dauthendeys bestehen,
nicht nur zwischen diesen zwei Dichtern. Das ist aber ganz und gar nicht der Fall.
Man nehme z. B. ein beliebiges Gedicht eines anderen Dichters unsrer Zeit,
z. B.
Karl Busses,
des an Jahren jüngsten Lyrikers von Ruf, und
vergleiche es mit dem vorhin angeführten Eichendorffs. So etwa folgendes:
Der Vögel Sonnenlieder starben,
Nachzitternd seiner Königin,
Dehnt blaß sich und orangefarben
Der weite Abendhimmel hin.
Und stiller wird die Luft und wärmer,
Kaum, daß es sacht herüberdringt,
Wenn surrend ein Ligusterschwärmer
Im Flug aus vollen Kelchen trinkt.
Ohne Zweifel ist dieses Gedicht von dem Eichendorffs verschieden, und
wohl nicht allein darum, weil <sie> von zwei verschiedenen lyrischen
Individualitäten <herrühren>, sondern auch, weil jedes die Spuren einer
anderen Zeit trägt: so genaue Begriffsbestimmungen wie orangefarben
und Ligusterschwärmer würde Eichendorff oder ein anderer Dichter
seiner Zeit wohl kaum gewagt haben; er hätte sich begnügt, die Farbe mit den
Worten golden oder feuerfarben zu veranschaulichen und den
Schmetterling, wenn überhaupt, so nur als Abendfalter gekennzeichnet.
Aber dieser Unterschied besteht nur in einer feinen Nüance, die dem ungeschulten, flüchtigen Blicke der meisten Leser völlig entgehen dürfte. Und wenn ein Dichter aus Eichendorffs Zeit auch kaum das Gedicht Busses geschrieben haben könnte, so wäre es doch sehr leicht denkbar, daß ein Lyriker aus Busses Zeit Eichendorffs Verse gedichtet hätte. Ein Beweis, daß der wesentliche Unterschied zwischen diesen zwei Gedichten durchaus nicht groß ist.
Vergleicht man dagegen Busses Gedicht mit dem seines Zeitgenossen Dauthendey, so wird zwischen ihnen ein Unterschied klaffen, welcher nicht geringer ist, als der zwischen den Gedichten Dauthendeys und Eichendorffs, und vor dem die kleinen Unterschiede zwischen Eichendorff und Busse so völlig verschwinden, daß diese Beiden die Zeitgenossen zu sein scheinen, und Dauthendey als der, von dessen Gefühls-, Denk- und Ausdrucksweise sie ein Jahrhundert trennt.
Um zu diesem Ergebniß zu kommen, bedarf es aber keineswegs just dieser
drei Dichter, man kann sie ohne weiteres durch andere Dichter derselben Zeitabschnitte
ersetzen: z. B. Eichendorff durch Platen oder Lenau, Busse durch Anna Ritter,
Eugenie delle Grazie, Jacobowski, Fulda, Falke oder Schönaich-Carolath, und
Dauthendey durch Mombert, Stephan George, Hoffmannsthal, Wolfskehl oder auch nur
durch Dehmel.
Die Frucht des Vergleiches dieser Dichter untereinander wird mehr oder weniger dieselbe sein: der Unterschied zwischen der ersten und zweiten Gruppe wird verschwinden gegen den zwischen der zweiten und dritten, die derselben, fast um ein Jahrhundert jüngeren Zeit angehören.
[322] Durch dieses Experiment ist aber der Beweis erbracht, daß zwischen der Lyrik des Jahrhundert-Anfangs und der des Jahrhundert-Endes durchaus nicht der krasse Unterschied besteht, den man zwischen den Gedichten Eichendorffs und Dauthendeys wahrnimmt und den man auf die Zeitalter dieser beiden Dichter (sowie der anderen vorhin genannten) zu übertragen leicht versucht sein könnte.
In Wahrheit ist der Unterschied zwischen Einst und Jetzt der Lyrik keineswegs größer als es in der Natur der Sache liegt: es ist lediglich eine gewisse Gruppe in der modernen Lyrik, die sich nicht nur von der Lyrik früherer Zeiten, sondern auch von der übrigen modernen wesentlich unterscheidet, eine Gruppe, deren künstlerisches Ziel im Grunde nichts anderes ist als dieser Unterschied, und die dem Streben, diesen Unterschied zu erreichen, anders zu sein als die Anderen, ihre Entstehung verdankt.
Von dieser Gruppe soll im Folgenden die Rede sein:
Die Bewegung, deren Ziel im Umsturz der alten und in der Begründung einer neuen Kunst bestand, war, wie so ziemlich jede Neuerung, französischer Import. Ihr Schlagwort hieß Naturalismus, ihr Hoherpriester war Zola, ihr Ideal die Wahrheit. Auf die Anfänge dieser Bewegung kann man das beliebte Beiwort "bescheiden" just nicht anwenden, denn der "Naturalismus" hielt seinen Einzug in Deutschland mit ebenso viel Anmaßung als Lärm. Seine fanatischen Anhänger führten um ihr Idol unter dem wüstesten Kampfgeheule einen wahren Höllentanz auf. Dieses Idol war aber nicht die Wahrheit selbst, die die Eigenthümlichkeit aller Ideale zeigte, nicht erreicht zu werden, es war nur ein häßliches Zerrbild: die Gemeinheit.
Damit soll hier aber nicht etwa die Bedeutung Zolas und das naturalistische Prinzip geleugnet oder gar angegriffen werden; nicht im geringsten! Im Gegentheil: es sei mit Nachdruck gesagt, daß diese Bewegung der deutschen Literatur sehr heilsam, ja nothwendig war, daß sie in deren stagnirende Unnatur Leben und Natürlichkeit brachte. Gerade damals, zu Beginn der achtziger Jahre, war es mit der deutschen Literatur nicht zum besten bestellt: Auf der Bühne herrschten die Odetten, Georgetten und Feodoren Sardous und im Roman bewegten sich die zu einem unnatürlichen Scheinleben aus ihren Gräbern gerissenen Leichen ägytischer und germanischer Herrscher an den Drähten der Ebers'schen und Dahn'schen Muse herum, ein trivialer Mummen- und Mumienschanz, dem das in Kunstsachen so kindlich bescheidene Publikum stürmisch Beifall klatschte.
Da that dann ein Wandel wahrlich noth, und der scharfe Wind, der von der Seine in die stickige Treibhausatmosphäre des deutschen Dichterwaldes hineinblies, sollte alles Welke und Dürre fortfegen und den zurückgedrängten jungen Trieben Licht, Luft und Platz schaffen.
Es war eine Art literarischer Revolution, die sich da vollzog, und es verhielt sich damit wie bei allen Revolutionen: Der Zweck war gut und gerecht, aber die Mittel waren schlecht und verwerflich. Und wie bei allen derartigen Bewegungen waren gerade die, welche sich als die Führer und Propheten aufspielten und das Schlagwort stets im Munde hatten, zugleich auch die, welche ihre Sache in Verruf brachten und ihren Fortschritt hemmten. Und in der That, wenn das, was diese "Naturalisten" boten, die neue Kunst, wenn das Naturalismus sein sollte, dann durfte man es dem an sich schon neuerungsfeindlichen Publikum wahrlich nicht verdenken, wenn es davon nichts wissen wollte, sich dagegen sträubte und darüber empörte. Der Parnaß dieser Apostel des Naturalismus war das Nacht-Café mit Damenbedienung, ihre Muse hatte das Aussehen und Gebahren einer Kellnerin, ihr Pegasus war ein abgetriebener Droschkengaul, und ihr kastalischer Quell eine Pfütze. Gewiß kein anziehendes Ensemble!
Und die Anziehung wurde dadurch nicht größer, daß diese "naturalistischen" Jünglinge jeden, der an ihr alleinseligmachendes Evangelium nicht glauben wollte, oder zum wenigsten gegen die Art protestierte, in der sie es verkündigten, mit einer wahren Sturzfluth schmutzigster Injurien überschütteten, Injurien, die nicht treffender zu kennzeichnen sind als durch Blumauers derben Tropus: "Jedes Wort ein Nachttopf, und kein leerer!"
Aber nicht Bühne und Roman, auch die Lyrik sollte "naturalisirt" werden: ja auf diese
schienen es die jungen Herren ganz besonders abgesehen zu haben, denn auf keinem Gebiete
waren sie so fruchtbar (es könnte auch "furchtbar" heißen!), wie auf diesem, eine
Erscheinung, die auf den ersten Blick zwar befremden könnte, da die Begriffe "Naturalismus"
und "Lyrik" disparat zu sein scheinen, die sich aber unschwer aus ihrem unausgegohrenen
Gefühlsüberschwang, ihrem Mangel an Erfahrung und Technik erklären läßt. Für die
Bühne fehlte es ihnen an Routine und Konzentration, für den Roman an der Fähigkeit,
zu sammeln, zu sichten, zu ordnen und einzutheilen. Ihre Romane oder besser: das, was sie so
nannten, waren dann auch greuliche Monstra, kaum genießbare unverdauliche
Tohuwabohus, aus philosphischen Betrachtungen, ästhetischen Abhandlungen, Zoten, Gedichten,
sozialistischen Programmreden u. dergl. mehr. In der Lyrik aber konnten sie die Ventile
ihrer überhitzten Gehirne öffnen und dem kochenden, dampfenden Gefühlsüberschwall, der
in ihnen brodelte, Luft machen. Die subjektive Form der Lyrik allein war für sie brauchbar,
und darum brachten sie's in ihr auch noch am weitesten. Im "Pessimistbeetgarten"
ihrer Lyrik erblühte neben viel wüstem Unkraut manche schöne Blume, die es bedauern ließ,
daß sie sich in solcher Umgebung befand. Namentlich Arno Holz machte sich
vortheilhaft bemerkbar. Dem sonoren Schwung und der grimmigen Wucht mancher seiner
sozialen Gedichte aus jener Zeit kann man selbst dann nicht die Anerkennung versagen, wenn
man die Arme-Leute-Poesie nicht liebt und den sozialen Ansichten des Verfassers nicht zustimmt.
Bis zu welchen widerlichen, empörenden Ungeheuerlichkeiten sich andrerseits die Lyrik dieser Dichter verirrt hat, davon mögen folgende zwei Proben Zeugniß ablegen.
Hermann Conradi, von seinen Genossen als Genie gefeiert, verbrach in einem
"Sonnenaufgang" betitelten Gedichte folgende Strophe:
Mein Haupt ist wüst, – meine Stirne brennt –
Da pocht's an das Thor meiner Seele:
Ein Fuder Dreck !Ich mache auf ...
Nun Schätzchen! ... "Ich heiße Adele ..."
Das ist aber noch duftigste Poesie gegen Richard Dehmel, der in seinem
als "ethische Burleske" bezeichneten Gedicht "Die beiden Schwestern" vielleicht das
non plus ultra leistet, was in derartiger "Poesie" – sit venia verbo!
– bisher gewagt worden ist.
Ich stand – na wie das Kind beim Drecke.
Zum Henker! um diese verschrumpelte Schrippe,
dies Bestandklümpchen von Spinnen und Schnecke.
dies dürre, vermuffte Altjungferngerippe,
da hatte ich Narr mich so geplagt?!
Zwar Jungfer – das zu untersuchen
bei diesem verpimperten Hutzelkuchen,
das hätte wohl kaum ein Arzt gewagt.
Ich konnte mich immer noch nicht fassen,
bloß heimlich wünscht' ich: hätt' ich ihr doch
das Hemde wenigstens angelassen!
Pfui Teufel! – wie sie da vor mir kroch
mit ihren Runzeln und Faltenschlitzen
und ihren Zotteln und schlaffen Zitzen
und ihren ausgetrockneten Waden
und eingetrockneten Hinterfladen ..."
Ich denke, das genügt und enthebt mich jeglicher Kritik. Als Kuriosum sei noch bemerkt, daß das Buch, in dem diese Expektorationen Dehmels enthalten sind und das den sonderbaren Titel "Aber die Liebe" führt, außer in der gewöhnlichen Ausgabe auch in einer Liebhaberausgabe gedruckt worden ist, das Exemplar zu 12 Mark!
Der Naturalismus gewann trotz, – nicht wegen – seiner Propheten langsam, aber sicher Boden. Er hielt seinen Einzug auf der Bühne und feierte daselbst Triumphe, wenn auch vielumstrittene; er eroberte sich auch den Roman; nur in der Lyrik vermochte er außerhalb des sehr engen Kreises seiner ersten Herolde nicht festen Fuß zu fassen. Nicht einmal Liliencron konnte trotz der Reklame-Posaunen seiner Anhänger recht durchdringen. Gerade auf die [323] Lyrik aber waren die fanatischen Wortführer des Naturalismus besonders erpicht, ja sie waren auf sie fast angewiesen, da sie sich weder auf der Bühne noch im Roman Geltung zu machen vermochten und voll bittersten Grolls zusehen mußten, wie Andere die Früchte einsammelten, deren Samen sie gesäet hatten oder doch gesäet zu haben glaubten.
So viel auch vom Naturalismus die Rede war, von ihnen sprach man nicht, wenigstens das Publikum nicht, und die Kritik meist nur in wegwerfendem Tone. So sehr sie auch zeterten, es half nichts, man achtete nicht auf sie. Der Dichterwald "Gründeutschlands" blieb vom Publikum hartnäckig gemieden.
Das aber mußte für diese jungen Dichter das Furchtbarste sein, denn sie litten alle sammt und sonders an einer mehr oder weniger stark ausgebildeten Hypertrophie des Ichgefühls, einem brennenden Durste, Aufsehen zu erregen, etwas Neues, Unerhörtes zu schaffen. Mit dem Naturalismus hatten sie's zu erreichen gehofft, aber da es in der Literatur keine Patente gibt, hatten sie zähneknirschend zusehen müssen, wie Andere mit dieser direkt aus Paris importirten "Nouveauté" bessere Geschäfte machten. Der Naturalismus war eine gangbare Waare geworden. Sie brauchten daher etwas Neues. Und die Zeit war ihnen günstig:
Abermals von der Seine kam es her, wie früher der Naturalismus: ein schwüler, erstickender Hauch, geschwängert mit betäubenden, künstlichen Düften, unter denen sich ein widerlicher Fäulnißgeruch vergebens zu bergen suchte. Wohin er traf, entstand eine dumpfe Treibhausatmosphäre, in deren schwülem Brodem seltsam geformte fremdartige Gewächse aufschossen mit schillernden Farben und narkotischem Dufte; und er brachte ein seltsames Licht mit sich, das eine ungewisse geisterhafte Dämmerung schuf, in der alle Dinge ein fremdartiges, wunderliches Aussehen annahmen, so daß man sich nicht mehr zurecht fand. Es war eine neue, eine sonderbare Welt, die sich da vor den Augen des deutschen Publikums aufthat, eine Welt, die den Athem beklemmte, den Blick trübte und die Gedanken verwirrte.
Und siehe da: die vor wenigen Jahren noch den Naturalismus als die alleinseligmachende
Kunst gepriesen und Jeden mit Kothbomben bewarfen, der nicht mit ihnen ging, die
jauchzten nun mit demselben Entzücken der neuen Kunst zu. Hermann Bahr, der
sich bisher durch hypernaturalistische, unaufführbare Theaterstücke bemerkbar gemacht,
schrieb im Banne Huysmans, Baudelaires und anderer Franzosen seine "Gute Schule",
einen wahren Hexensabbat von Wahnwitz und Wollust, und verkündete die "Ueberwindung des
Naturalismus"; und O. J. Bierbaum, dessen Muse bisher das dralle Münchener
Kindl gewesen war, begann Töne zu sehen wie Dauthendey und dichtete:
Gelb ist des Liedes Tiefton,
Breit fluthet es unterm Klanggewelle
Fanfaren in Roth, das Blau schalmeit,
Ein duftiges Grün schwillt Flötenhelle.
Hatte man bisher auf Zola geschworen und ihm eifrigst abgeguckt, wie er sich räusperte und besonders, wie er spuckte, so hieß der erwählte Götze nunmehr Nietzsche; war bisher die allergemeinste Deutlichkeit der Dinge Mode, so wurde es jetzt die dunkelste Mystik; an Stelle des "Allzumenschlichen" trat das "Uebermenschliche", an die Stelle des altruistischen Sozialismus der egoistische Individualismus; statt "nur für Natur" lautet die literarische Parole von nun an: "die Kunst für die Kunst!"
Mit anderen Worten: es trat gerade das krasseste Gegentheil von dem ein, was vorher gegolten hatte.
So befremdend und unbegreiflich diese Wandlung der Dinge auf den ersten Blick auch erscheinen mußte, sie war nur der drastische Ausdruck eines historisch begründeten, uralten psychologischen Gesetzes: es war eben die Reaktion.
Vergleicht man den Naturalismus mit dem Produkte dieser Reaktion, so muß das Urtheil sehr zu seinen Gunsten ausfallen.
Sein Prinzip – nicht das entstellte Zerrbild, das "Gründeutschland" aus ihm gemacht
hat –, war entschieden ein gutes, es war fördernd, ja nothwendig, und bedeutete
einen entschiedenen Fortschritt. Selbst in seinen Auswüchsen war er nicht krankhaft, nur brutal, und
Brutalität pflegt ein Ausdruck der Kraft zu sein. Als krankhaft an ihm kann man
höchstens seine Freude am Schmutz, an der Gemeinheit bezeichnen, seine Sucht nach gemeinen,
häßlichen Ausdrücken, mit einem Worte, seine Koprophilie.
Die Reaktion dagegen muß ebenso entschieden als ein krasser Rückschritt angesehen werden, als ein wahrhaft erschreckender Verfall der Kunst. Die Bezeichnung Décadence, die auf sie mit Vorliebe angewendet wird, theilweise auch von ihren Anhängern, trifft demnach vollauf zu.
Im künstlerischen Sinne ist der Verfall unverkennbar vorhanden, ob auch im psychologischen
und physiologischen, das läßt sich nicht so leicht feststellen. Für
Max Nordau steht es allerdings fest, daß
diese Art der Poesie nichts anderes ist, als die Ausgeburt eines entarteten Gehirns;
aber er ist denn doch zu einseitig, zu sehr in seine Entartungstheorie verbissen, als
daß man ihm so ohne weiteres beipflichten könnte.
Entspricht es aber den Thatsachen, daß Verworrenheit und Mystizismus, Neuerungssucht und Eitelkeit und maßlose Selbstüberschätzung Symptome der Entartung sind, wie Nordau dies behauptet, dann freilich sind diese Dichter entartet, denn bei ihnen trifft all das in vollstem Maße zu.
Das soll im folgenden bewiesen und an Beispielen erläutert werden:
Die Unklarheit, die keineswegs selten zu völliger Unverständlichkeit ausartet,
der weltflüchtige Mystizismus, der in den seltsamsten Vorstellungen und
Visionen schwelgt, sie bilden ein geradezu typisches Kennzeichen der neuen
Kunst. Bis zu welchem Grade davon sie sich verirren kann, zeigt nachstehendes
Beispiel, die erste Strophe eines Gedichtes von Hugo v. Hofmannsthal, der
in gewissen Kreisen für eine glänzende Leuchte der modernen Dichtung, für ein Genie, gilt:
Den Erben laß verschwenden
An Adler, Lamm und Pfau
Das Salböl aus den Händen
Der todten alten Frau!
Die Todten, die entgleiten,
Die Wipfel in dem Weiten
Ihm sind sie wie das Schreiten
Der Tänzerinnen werth.
In dieser Tonart geht es noch drei Strophen weiter. Man wird dabei lebhaft an die bekannten Verse erinnert:
Des Lebens Unverstand mit Wehmuth zu genießen
Ist Tugend und Begriff.
Künftigen Geschlechtern seien die vorhin citirten Verse Hofmannsthals als "geflügelte Worte" empfohlen, wenn es gilt, einen drastischen Nonsens zu kennzeichnen.
Und der Humor an der Sache ist der, daß solche Verletzungen des gesunden Menschenverstandes nicht etwa durch zufällige Entgleisungen der tollgewordenen Phantasie veranlaßt, sondern mit kühler, wohlbewußter Ansicht hingeschrieben werden; die Herren von der Décadence haben für den gesunden Verstand nämlich nur die tiefste Verachtung. Bisher ist man der, wie es scheint, selbstverständlichen Meinung gewesen, bei einem Gedichte müsse man sich, wofern es kein Unsinn sein soll, auch etwas denken können. Hofmannsthal belehrt uns aber eines anderen. Er schreibt: "Die Leute suchen gern hinter einem Gedicht, was sie den eigentlichen "Sinn" nennen. – Sie sind wie die Affen, die auch immer mit den Händen hinter einen Spiegel fahren, als müsse dort ein Körper zu fassen sein." Ein Trugschluß, der den normalen Verstand ad absurdum – – – führen will, thatsächlich aber nur die Grundsätze dieser Art von "Kunst" heillos bloßstellt.
Selbstverständlich ist Hofmannsthal nicht der Einzige, von dem man hier unverständliche
Verse anführen könnte, er ist nicht einmal der dunkelste, und es ließen sich,
wenn es auch der Raum erlaubte, noch zahllose Beispiele dieser Art anführen. Damit man
dies nicht etwa für leeres Geflunker halte, mögen noch einige bezeichnende Proben folgen:
Karl Wolfskehl paradirt in den "Blättern für die Kunst" unter vielen anderen mit
folgendem Gedicht,
[324] das in der famosen Originalinterpunktion und Schreibweise wiedergegeben sei:
Traminta
In deinen Augen schwammen die weiten
Im rothen wallen wiegte sich glanz;
Im wehen schwoll der duft der zeiten
Vom altar hoben wir den kranz.
Wie zittern milde die fernen strahlen
Dem schweigen lauschet, dem schweigen lauscht!
Zum großen Opfergruß im fahlen
Dämmer der stille banner rauscht.
Ich denke, es wird Niemand, um mit Hofmannsthal zu sprechen, wie ein Affe hinter den Spiegel greifen und nach dem "eigentlichen Sinne" fragen. Man sieht zu bald, <daß> keiner da ist.....
Auch Dehmel versteht es aus dem F. F., seinen brutalen Naturalismus
mit dunkelster Mystik zu verbinden.
In allen Tiefen
mußt Du Dich prüfen,
zu Deinen Zielen
Dich klarzufühlen;
aber die Liebe
Ist das Trübe.
Jedweder Nachen
drin Sehnsucht singt,
ist auch der Rachen,
der sie verschlingt;
aber ob rings von Zähnen umgiert,
das Leben sitzt und jubilirt.
Dieses Gedicht hat der Verfasser bezeichnenderweise "Hieroglyphe" betitelt.
Natürlich werden diese Dichter und ihre Anhänger die Unverständlichkeit ihrer Verse bestreiten und Alle, die sie nicht verstehen, der Verständnißlosigkeit zeihen, weil sie dem hohen Fluge nicht zu folgen und die tiefe Weisheit ihrer Gedanken nicht zu ergründen vermögen.
Wir aber, die wir zu diesen Verständnißlosen gehören, trösten uns mit
Bodenstedts wie eigens zu diesem Zweck gedichteten Worten:
Wo sich der Dichter versteigt ins Unendliche,
Lege sein Liederbuch schnell aus der Hand;
Alles gemeinem Verstand Unverständliche
Hat seinen Urquell im Unverstand.
Was die Neuerungssucht und Eitelkeit all dieser Dichter betrifft, so äußert sie sich in der mannichfachsten und augenfälligsten Weise.
Opposition gegen das Bestehende um jeden Preis, auch den des Verstandes, Auffallen und Vonsichredenmachen, gleichviel durch welche Mittel: das steht der sogenannten neuen Kunst auf der Stirne geschrieben. Das redet mit überlauten Zungen aus jedem ihrer Gedichte; es zeigt sich aber auch rein äußerlich: die kleinen Versalien in den Gedichten sind noch das harmloseste dieser äußeren Zeichen, die ließen sich sogar rechtfertigen, verrathen aber doch recht deutlich die Neuerungs- und Oppositionssucht. Weit auffälliger und unverzeihlicher sind die kleinen Initialen der Hauptwörter, denn sie widersprechen nun einmal dem deutschen Schriftgebrauche; das Schlimmste ist aber die völlig sinnlose Mißachtung und Vergewaltigung der Interpunktion, denn sie erschwert das Verständniß und stört den Eindruck. Aber eben das wollen diese Dichter ja, ihre Kunst soll nur – für ihresgleichen sein.
Wie drollig diese aufs äußerste eingeschränkte Interpungirung sein kann,
möge folgende Strophe Wolfskehls zeigen:
Zum klaren Berg der blauen Seligkeiten
Vergessne müde pilger schreiten
Die Pforte schloß sie pochen pochen.
Natürlich trachten einige der sogenannten Dekadenten, ihre Besonderheit
auch im Versbau zu bethätigen. Die Gruppe, als deren Führer Stephan George
gilt, dieselbe, welche die Initialen der Substantiva klein schreibt und nur
nothdürftig interpungirt, macht da eine rühmliche Ausnahme, denn sie befleißt
sich des strengsten Rhythmus; Andere dagegen behandeln alle Versgesetze mit souveräner
Verachtung und ergehen sich in den allerfreiesten Rhythmen. Das Erstaunlichste
leisten hierin jene Dichter, die einst als Herolde des Naturalismus gegolten haben,
so z. B. Johannes Schlaf.
Leid ?
Leid!
Nimm an:
Zwei Atome
Zwängte eine dunkle Ursache
Zueinander in der weiten Aetherleere;
Sie bildeten eine Schwere;
Andere schossen hinzu,
Wurden hineingerissen
In die Wirbel eines beginnenden Kreisens;
ein kosmischer Nebel
Sammelte sich in's Ungeheuere;
Planeten;
Protoplasma sich scheidend,
das Eine
Aus dem Einen
Als eine heimliche
Urzweiheit:
Und nun,
Aus ihm hervor
Die ungeheuere Entwicklung der Geschlechter
von einem Anfang
Zu einem Ende. –
Ist's Leid ?– –
Nein, Leid ist's nicht, ganz was anderes!
Noch wunderlicher als Schlaf treibt es dessen literarischer Zwillingsbruder
Arno Holz; doch von diesem soll später die Rede sein.
Offenbart sich die Hypertrophie des Selbstbewußtseins schon in all
diesen herostratischen Versuchen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, so
äußert sie sich doch dort noch viel deutlicher, wo sie's nicht bei
Eitelkeit und Koketterie bewenden läßt, sondern sich in einer
grenzenlosen, geflissentlich zur Schau getragenen Verachtung von allem
gefällt, was ihr nicht huldigt, wo sie ihren Ich-Kult mit herausfordernder
Unverfrorenheit eingesteht. Bis zu welchem Grade sich dieser versteigen kann, dafür
gibt
Albert Geiger
in einem interessanten Aufsatz
1)
ein drastisches Beispiel, indem er einige Verse Alfred Momberts
citirt.
Dieser sonderbare Herr gibt folgende Aeußerungen größenwahnsinniger Selbstvergötterung von sich:
Ich hab es gefühlt in manchem langen Jahr,
was es heißt: Sturm sein und Meer und Feuer
und Mond und nacktes Weib im rothen Haar;
eine Welt, so farbig glühend und ungeheuer.
Und von Allem hielt nichts Stand vor meinem Schwert
und vor meiner uferlosen Machtregung,
Und Niemand ist meines Händedruckes werth
als die große Entbindung und die große Grablegung....
— — — — — — — — — — — —
Vielleicht alle fünfhundert Jahre
Einen schaffen, der mir gleicht ...
Jäher Gedanke! Versuchung, sonderbare –
Mir war die Welt in ihren Tiefen laut.
Ich brauchte mich nicht erst um Kunst zu plagen,
Ich hab' in meinen Jugendtagen
Den allerhöchsten Geist geschaut ...
O Mensch, ich hob dich in alle Himmelsräume!
O Mensch, ich geb' dir meine Gott-Planetenträume ...
[325] Der einzige Trost, welcher der übrigen armseligen Menschheit bleibt, ist der, <daß> es nur alle alle 500 Jahre einen gibt, der diesem Dichter gleicht!....
Die unermeßliche Bedeutung, die diese Dichter ihrem Ich beilegen, zeigt sich auch in der Ausstattung und namentlich in den Preisen, mit denen sie ihre Werke auf den Markt schicken:
Max Dauthendeys "Ultraviolett" kostet, was Geiger in dem eben erwähnten Aufsatz als "Unverschämtheit" bezeichnet, "mäßig ausgestattet" 319 S. lang 20 Mark! Stephan Georges "Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod" wurden, der Anzeige zufolge, nur in 300 Exemplaren auf dem Subskriptionswege ausgegeben, das Stück zu 25 Mark! Hugo v. Hofmannsthals Drama "Der Kaiser und die Hexe" endlich kostet sogar 30 Mark! Und wohlgemerkt: es hat nur einen einzigen Akt und demnach wenige Seiten. Goethes sämmtliche Werke kann man sich dagegen bei Reklam um 6 Mark kaufen!....
Ist man angesichts der hier aufgezählten Belege für die Unverständlichkeit, Eitelkeit und Selbstüberschätzung dieser neuen "Kunst" nicht lebhaft versucht Max Nordau recht zu geben und sie für ein Produkt der Entartung zu halten?
Andrerseits liegt es wieder nahe, jenen Skeptikern zu glauben, die behaupten, diese ganze neue Kunst wäre nur eine große Komödie, Modefexerei, nicht mehr.
Das richtige Urtheil dürfte in der Mitte dieser zwei Ansichten zu suchen sein.
Bei manchen Autoren freilich treten die Anzeichen des Unnatürlichen, Krankhaften, beziehungsweise die der Pose so deutlich hervor, daß man wohl nicht fehlgeht, wenn man die Einen als Entartete, die Anderen als Poseure betrachtet.
Zu den Ersten gehört, wenn nicht alles trügt, der schon wiederholt citirte Max Dauthendey. Er leidet an einer krassen Sinnes-Anomalie, die ihn Farben hören, Töne und Düfte sehen läßt. Man kann zwar selbst derlei imitiren, <denn> das Farbenhören und Tönesehen findet man auch bei Bierbaum, dessen Art sonst nicht eben krankhaft zu sein pflegt, aber in Dauthendeys Gedichten stößt man so oft auf Ungeheuerlichkeiten, daß man wohl berechtigt ist, von Entartung zu sprechen. Seine Dichtungen machen durchaus einen pathologischen Eindruck, wenigstens kann man sich nicht denken, daß ein gesundes Gehirn Verse hervorbringen kann wie diese:
Jasmin.
Wachsbleich die Sommernacht,
Auf erddunkeln Moderlachen
Singen rosigblaue Irislichter.
Wetterleuchten schwefelgrün in Splittern,
Eine weiße dünne Schlange sticht
Züngelnd nach dem blauen Mond.
Da der Autor dieses Gedicht "Jasmin" genannt hat, muß man wohl annehmen, daß der Jasmin-Duft ihn zu derartigen, für ein normales Gehirn völlig unverständlichen Visionen anregt. Wie anders als pathologisch soll, ja kann man es ferner deuten, wenn er von "schwülen Amethysten", vom "Flüstergrün" des Mooses, von einer "heißen" Nachtigall spricht, die im "Thaudunkel lacht" –!
So echt die Dekadenz bei Dauthendey erscheint, so gemacht bei Felix Dörmann.
Zwar erklärt er mit Nachdruck:
Ich liebe, was Niemand erlesen,
Was Keinem zu lieben gelang:
Mein eignes urinnerstes Wesen
Und alles, was seltsam und krank.
Man wäre daher versucht, sein "urinnerstes Wesen" auch für "seltsam und krank" zu halten, zumal da er
angeblich zum Lieben zu müde ist, was nach den wilden Orgien, die er andernorts schildert,
allerdings just nicht wundernehmen kann. Aber trotz dieser zur Schau getragenen Dekadenz kann
man nicht so recht an sie glauben. Um als voller Dekadent zu gelten, dazu fehlt ihm eines:
das Unverständliche. Seine Gedichte haben immer Sinn, manchmal sogar echt poetischen, wie
z. B. das reizende kleine Gedicht "Schneeflocke":
Du bist wie eine weiße Flocke,
Ein himmelentsprungenes Kind,
Und wirbelst licht und selig
Dahin durch Wolken und Wind.
Du bist eine weiße Flocke,
Du stirbst der Flocken Tod:
Nach kurzem Sonnengruße
In Straßenstaub und Koth.
Da ist wahrlich nichts von Entartung zu spüren! Und selbst seine wildesten orgiastischen Gedichte sind nicht unsinnig. Sollte man nicht annehmen dürfen, daß dieser begabte Dichter lediglich eine literarische Mode mitgemacht und sich auf den Dekadenten hinausgespielt hat?
[333] Eine besondere Stellung in der fin de siècle-Lyrik nimmt
Arno Holz ein; er darf daher hier nicht übergangen werden, obwohl es
keineswegs ein Vergnügen ist, sich mit ihm zu beschäftigen. Er hat nämlich die
fatale Eigenthümlichkeit, jeden kritischen Protest gegen seine Art, jeden Tadel
furchtbar krumm zu nehmen, gewissermaßen als persönliche Beleidigung
aufzufassen und in einer Weise darauf zu erwidern, die man am besten kennzeichnet,
wenn man sie parlamentarisch nennt – das Wort im Sinne des österreichischen
Parlaments gebraucht. So nimmt er in seiner
"Revolution der Lyrik"
der Reihe nach folgende Kritiker her: Julius Hart, Erich Schmidt, Richard Schmidt-Cabanis,
Max Bruns, Franz Mehring, Otto Moeller-Bruck, Karl Frhr. v. Levetzow;
sie Alle macht er – so meint er wenigstens – mehr oder weniger
umständlich mausetodt. Noch schlimmer verfährt er mit dem durch seine Literaturgeschichte
des 19. Jahrhunderts bekannt gewordenen Professor Dr. R. M. Meyer; bei dem
begnügt er sich nicht mit dem Abschlachten, er stellt sein Opfer auch noch an den
Pranger, indem er ihm eigens eine Broschüre widmet, deren liebevoller Titel lautet:
"Dr. Richard M. Meyer, Privatdozent an der Universität Berlin, ein literarischer
Ehrabschneider." Und nicht genug mit diesem einen Opfer seines Berserkergrimmes,
fügte er dem Hefte noch einen Nachtrag an, in dem er Rudolf Steiner "vernichtet".
Unter solchen Umständen wird man es wohl begreiflich finden, wenn mich nicht gelüstet, die Zahl dieser Opfer zu vermehren, indem ich mir den allerhöchsten Groll dieses literarischen Ogers zuziehe. Die Opfer sind zwar nur in seiner Einbildung todt – außer ihm wird sie Keiner als das ansehen, schon darum nicht, weil es der Welt furchtbar gleichgültig ist, was Arno Holz über Andere sagt und was diese über ihn sagen – aber immerhin bleibt es eine unangenehme Sache, seinen Namen derart in den häßlichen Koth geschleift zu sehen.
Ich will mich darum jedes Urtheils thunlichst enthalten und dieses ganz dem Leser überlassen, der es sich aus den Beispielen bilden mag.
Sollte Herr Holz mich dennoch deßhalb in der ihm beliebten Weise angreifen, so erkläre ich hier im voraus, daß ich es so machen werde wie Erich Schmidt, von dem er höhnisch sagt, er lege sich, wie es gewisse Käfer machen, auf den Rücken und stelle sich todt, um nicht auf die Anwürfe zu reagiren. Dieses "Sichtodtstellen" scheint mir die einzige Taktik, die gegen solche Insulten am Platze ist – es ist ja glücklicherweise nicht Jedermanns Sache, mit Koth zu werfen. Denn wollte man sich zur Wehre setzen, bliebe nur der Gerichtssaal oder – der Fechtboden übrig; diese Schauplätze sollte aber ein Kampf, bei dem es Kunst oder Wissenschaft gilt, durchaus vermeiden, denn er entwürdigt sie.
Nach dieser Erörterung, die mir bei der maßlos polemischen Art des Autors, von dem hier die Rede sein soll, leider unerläßlich schien, nun endlich zur Sache:
Arno Holz ist ein Dichter, der, wie Emil Thoms witzig bemerkt, "eine große Zukunft
hinter sich hat; mit anderen Worten: er hat einst als einer der begabtesten aus dem
"jüngsten Deutschland" gegolten und sicherlich manche große Hoffnung geweckt. Ob er
sie erfüllt hat, mag man aus folgenden Worten sehen.
Als Jüngling im Anfang seiner Zwanziger-Jahre dichtete er unter vielem anderen auch ein Gedicht, das folgendermaßen beginnt:
Die Nacht liegt in den letzten Zügen
Der Regen tropft, der Nebel spinnt ...
O, daß die Märchen immer lügen,
Die Märchen, die die Jugend sinnt!
Wie lieblich hat sich einst getrunken
Der Hoffnung gold'ner Feuerwein!
Und jetzt? Erbarmungslos versunken
In dieses Elend der Spelunken
O Sonnenschein! O Sonnenschein!
Als Mann in der Mitte der Dreißig dichtet er dagegen so:
Rothe Rosen
Rothe Rosen
winden sich um meine düstere Lanze.
Durch weiße Lilienwälder
schnaubt mein Hengst.
Aus grünen Seen,
Schilf im Haar,
tauchen schlanke, schleierlose Jungfrauen.
Ich reite wie aus Erz.
Immer
dicht vor mir
fliegt der Vogel Phönix
und singt.
Man sollte meinen, die Wahl könne Niemand schwer fallen, und ohne Zweifel wird die Zahl Jener, die die Verse des dreißigjährigen Mannes denen des zwanzigjährigen Jünglings vorziehen, verschwindend klein sein.
Er selbst gehört natürlich zu diesen sehr Wenigen. Er blickt auf die Lyrik, wie er sie einst betrieben, nur mitleidig herab, wie auf eine glücklich überstandene Jugendthorheit. Im Vergleiche mit der Lyrik anderer Dichter unsrer Tage findet er sie allerdings noch immer wunderschön, ja in seinem höchst ausgeprägten Selbstbewußtsein steht er nicht an, gelegentlich eines seiner älteren Gedichte die spöttische Frage aufzuwerfen, wo denn der Dichter sei, der sich heutzutage auf solche "feinciselirte Goldschmiedekunst" verstünde.
Trotzdem aber erklärt er von dieser Art Lyrik nichts mehr wissen zu wollen. Er läßt nur mehr die gelten, die wir vorhin im Gedichte "Rothe Rosen" bethätigt gesehen haben.
Was ihm die bisher geltende Lyrik so verleidet, ist der "Leierkasten", den er aus den ewigen Reimen und Rhythmen herauszuhören glaubt, er ist dieser Jahrhundert alten Kunstform satt und will eine neue schaffen. Die sieht er im völligen Aufgeben des Reims und des Verses, die ihm veraltet und unnatürlich erscheinen, denn als Naturalist will er die Lyrik natürlich haben. Nach ihm hat die Kunst "die Tendenz, die Natur zu sein", und er ergänzt diese ästhetische Formel durch den Zusatz: "sie wird sie nach Maßgabe ihrer Mittel und deren Handhabung."
Das klingt nun zwar nicht gerade gefällig, ist aber gar nicht so übel gedacht
und ließe sich als Kunst-Axiom ganz wohl hinnehmen, wenn man auf die
traditionellen Kunstregeln just nicht eingeschworen ist; aber einen Haken hat es
dabei; der steckt im Nachsatz: "nach Maßgabe ihrer Mittel und deren Handhabung."
Ja freilich! Aber diese Mittel können sehr verschieden sein und nicht minder
"deren Handhabung." Daß die von ihm angewendeten just die
geeigneten sind und daß er sie richtig handhabt, das zu glauben kann er
Niemand zwingen. Obwohl er sich rühmt, die "unangenehme Eigenschaft" zu haben, seine
Behauptungen immer auch beweisen zu können, im vorliegenden Falle hat ihn diese
Eigenschaft jedenfalls gründlich im Stiche gelassen; denn wenn er behauptet,
die Lyrik ohne Vers und Reim, wie er sie schreibt, sei die einzig richtige lyrische
Form, nur ihr und keiner anderen gehöre die Zukunft, so ist das nichts anderes, als eine
sehr siegessichere und sehr selbstbewußte Ansicht für die er den Beweis schuldig
geblieben ist, und der man nur aus Höflichkeit beipflichten könnte, worauf gerade er
aber nicht rechnen darf. Nur durch Beispiele könnte er überzeugen. Die gibt er nun
freilich; ob sie überzeugen, mag man aus dem schon früher angeführten Gedicht entnehmen.
Daß Gedichte nach der Art von Arno Holz trotz ihres Mangels an Reim und Metrum sangbar sein können, was Holz zu ihren Gunsten ins Treffen führt und wofür er Belege bringt, will gar nichts besagen: auch die dem Gesetze der Metrik oft wahrhaft hohnsprechenden Verse der Operettenlibretti lassen sich sehr gut vertonen, und wenn man will, kann man schließlich ja auch das Einmaleins nach irgend einer Melodie singen.
[334] Sollte er wirklich mit seiner Meinung, daß diese Dichtungsart die Zukunft habe, recht haben, dann dürfen wir uns glücklich preisen, daß wir der Segnungen dieser Lyrik nicht mehr theilhaftig werden können, daß wir jetzt leben und nicht in hundert Jahren; denn wir sind in unserm Kunstverständniß noch so traurig weit zurück, daß uns der "heimliche Leierkasten" in der bisher üblichen Art von Lyrik nicht im geringsten stört, daß wir ihn im Gegentheil sogar sehr gern hören und ihn peinlichst vermissen, wenn er nicht vorhanden ist; wir vermögen in unsrer unmodernen Beschränkheit auch gar nicht einzusehen, daß wir darum auf den uns lieb gewordenen Reim, sogar auf den Rhythmus verzichten sollen, weil Herz und Schmerz, Lust und Brust schon ungezähltemale gereimt worden sind, weil immer wieder in Jamben und Trochäen gedichtet wird. Konsequenterweise müßte man dann wohl auch in der Poesie alle Vergleiche und Bilder vermeiden, die schon gebraucht worden sind, man dürfte nicht mehr von goldenem Sonnenschein, krystallenen Quellen und trotzigen Bergen sprechen; die Dichter dürften nie mehr von der Lust der Liebe und dem Leid des Todes singen, denn auch das ist schon tausend und aber tausendmal geschehen; und die Musiker dürften keine Walzer und keine Märsche mehr komponiren, denn das kann nur immer in denselben Takten, drei Viertel und sechs Achtel, geschehen.
Wir Unmodernen können uns dabei auf niemand Geringeren berufen, als auf die Natur selbst: die Vögel singen immer wieder dieselben Lieder, die Bäche murmeln und die Blätter flüstern immer dieselbe uralte Weise, der Donner grollt und das Meer rauscht, wie sie's vor Millonen Jahren gethan; wir aber lauschen diesen Tönen immer aufs neue entzückt und bewundern diese ewige Einförmigkeit, die doch voll unendlicher Abwechslung ist. Alle Jahre führt uns die Natur, diese größte Künstlerin, dasselbe Schaustück vor: stets folgen einander diese vier Akte in derselben Art und Reihe: Frühling, Sommer, Herbst und Winter; stets beginnt der Tag mit dem Aufgehen und schließt mit dem Untergehen der Sonne. Stets wissen wir daher genau, was jetzt kommen wird, und dennoch werden wir dieser periodischen Schaustellungen nicht überdrüssig und freuen uns ihrer Schönheit, ja die einzelnen Jahreszeiten, zumal der Frühling, erwecken in uns immer aufs neue den Drang, sie dichterisch zu verherrlichen. Wenn aber die Natur so konservativ ist, warum darf es dann nicht auch die Kunst sein? Sie kann dabei, wie jene beweist, doch voll der reizendsten Abwechslung sein. Gerade der "Naturalist" Holz sollte das einsehen, er, der ja behauptet, das Ziel der Kunst sei: Natur zu werden!
Aber die Neuerungssucht, der Sensationsdrang in ihm sind stärker als sein Naturalismus; er gehört eben zu jener Klasse von Dichtern, von der vor ihm die Rede gewesen ist und zu deren kennzeichnenden Merkmalen diese Eigenschaften gehören; und er besitzt auch die anderen Symptome dieser Dichter: das hypertrophische Selbstbewußtsein, das die eigene Lehre zum alleinseligmachenden Dogma erhoben wissen will und in blindem Fanatismus über Alle, die sich nicht vor ihm beugen wollen, das Anathema spricht; ferner die krankhafte Ueberempfindlichkeit, die in jedem kritischen Protest eine Ehrenbeleidigung erblickt und in wahre Tobsuchtsanfälle ausbricht; es fehlt auch der so charakteristische Mystizismus nicht, trotz des fast bis zur Komik getriebenen Hypernaturalismus: dafür zeugt das Gedicht: "Rothe Rosen", dessen Sinn zwar herrlich sein mag, aber jedenfalls sehr, sehr dunkel ist.
Holz' "Revolution der Lyrik" bildet die letzte Phase auf dem Entwicklungsgang, den die deutsche Lyrik im 19. Jahrhundert durchgemacht hat.
Es erübrigt nur noch, kurz der allerneuesten Erscheinung zu gedenken, die sich in der
deutschen Lyrik auf der Schwelle des 20. Jahrhunderts gezeigt hat: des "Ueberbrettls"
nämlich. Natürlich ist es wieder Pariser Import; ob das fremde Gewächs im Berliner
Wintergarten oder in ähnlichen Lokalen ebenso gut fortkommen wird wie auf dem Montmartre,
ist recht fraglich. Weil es an der Seine literarische Tingeltangels gibt, braucht es ja
just nicht auch an der Spree eines zu geben. Immerhin wird es ganz interessant werden
zuzusehen, wie Dichter von so höchst entwickeltem Selbstbewußtsein wie die
Herren von der "Moderne" mit heißem Bemühen um jenen <Lorbeer> ringen, dessen sich
einstweilen noch die verdienstvollen Poeten erfreuen, denen sich die sinnreichen Lieder
"Mama, der Mann mit dem Kokes ist da" und "Im Grunewald ist Holzauktion" ihr
vielgesungenes Dasein danken....
Es ist zwar eine recht heikle und undankbare Sache, der Sphinx Zukunft gegenüber den Oedipus spielen zu wollen, aber ich glaube dennoch die Vermuthung wagen zu dürfen, daß die Zukunft der deutschen Lyrik nicht der sogenannten "neuen Kunst" gehören werde.
Man wird vielleicht einwenden, die wunderlichen und oft recht widerlichen Blasen, die sie derzeit treibt, seien eben die unvermeidlichen Symptome der Gährung; Jugend müsse sich eben austoben, da dürfe man nicht unnachsichtig sein und pessimistisch in die Zukunft blicken.
Ganz schön, aber die Führer dieser Bewegung sind keineswegs mehr unreife Jünglinge, auf die sich diese Entschuldigung mit Grund anwenden ließe, sie sind vielmehr durchweg Männer von einigen dreißig Jahren, stehen also in einem Alter, von dem man geistige Reife und Klarheit mit Recht verlangen darf, für dessen Exzesse es keine Nachsicht mehr gibt. Der Most ihrer Poesie hätte wahrlich Zeit genug gehabt sich auszugähren; absurd genug hat er sich wohl gebärdet, aber klarer Wein ist nicht daraus geworden, sondern ein ungenießbares Gebräue.
Was mich an der Zukunft dieser Lyrik zweifeln läßt, das ist ihre durchaus negative Basis. Anders als die Anderen, als bisher, gleichviel um welchen Preis: das ist ihre Devise und ihr Beweggrund.
Sie folgt darin nur dem Zuge der Zeit.
Man malt heute grüne Kühe und violette Menschenleiber, man malt Bilder, deren Darstellung
man kaum erkennen und deren Bedeutung man nicht verstehen kann; man benützt die
plastische Kunst zur Darstellung ausgemergelter Jammergestalten; man formt Sessel,
auf die man sich nicht setzen, und Becher, aus denen man nicht trinken kann; man preßt
die schön gerundete Fülle weiblicher Jugend in eine wahre Prokrustestracht, die ihr
ein schwindsüchtiges und zugleich verrücktes Aussehen verleiht; man treibt noch manches andere
Aehnliche: und für all das, für diesen ganzen mit unerhörter Reklame und Anmaßung
inscenirten Unfug hat man ein Wort, ein Wort, das schon von den Lippen der Straßendirne
klingt, wenn sie sich ein neues Kleid bestellt, das Wort "Secession". Es
heißt so viel wie Sichabsondern, Fortgehen. Das stimmt: was sich entfernt hat,
das ist der gute Geschmack und der gesunde Verstand....
Diese Modeseuche hat eben auch die Lyrik nicht <verschont>, sie ist secessionistisch geworden, gleichviel, ob sie des Näheren nun symbolistisch, dekadent, impressionistisch oder sonstwie ist.
Daß diese Kunst, die so lärmend kreißt, je lebensfähige gesunde Geschöpfe gebären werde, scheint mir nach allem wenig wahrscheinlich: was sie bisher ins Leben gesetzt, waren bloß ephemere Mißgeburten oder blutleere Schemen.
Ich kann daher nicht glauben, daß dies die Lyrik der Zukunft sei. Ich glaube viemehr, daß man in hundert Jahren wohl noch die unsterblichen Verse Eichendorffs und Heines, Lenaus und Storms bewundern, von den Lyrikern der Secession aber kaum noch wenige Namen wissen wird. Man wird ihrer nur so gedenken, wie man heute der zweiten Schlesischen Dichterschule gedenkt, und man wird ihre Gedichte nur noch in der Kuriositätenkammer der Literatur- und Kulturgeschichte finden. Ueber die "Revolution der Lyrik" aber wird man nur lächeln: Sturm im Wasserglase.
[Fußnote, S. 324]
1) Ueber neuromantische Lyrik von Albert Geiger,
Beilage zur "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" 1899 Nr. 288, 289,
290, 298.
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Erstdruck und Druckvorlage
Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
1902:
Nr. 41, 19. Februar, S. 321-325
Nr. 42, 20. Februar, S. 333-334.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Eine Korrektur (S. 321) nach: "Berichtigung" (Beilage zur Allgemeinen Zeitung,
22. 2. 1902, S. 352).
Allgemeine Zeitung online
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer