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Texte zur George-Rezeption
Texte zur Theorie und Rezeption des Symbolismus
[156] Das Schicksal legt den einzelnen Dichtergenerationen unendlich verschiedene Aufgaben auf die Schultern. Als die "Blätter für die Kunst" im Herbst 1892 zu erscheinen begannen, mußten ihre Leser, gleichviel ob ihnen freundlich oder feindlich gesinnt, den einen Eindruck sicherlich davontragen, daß hier versucht werde, der Lyrik wieder Stil zu geben. Vier Menschenalter zuvor aber war der deutschen Poesie Noth gewesen, sich von den Ketten eines fremden, längst erfrorenen und erstarrten Klassizismus zu lösen und endlich einer Formenkunst abzusagen, deren verschnörkelte Arabesken und Ornamente man noch dazu diesseits des Rheines nie ganz korrekt, geschweige denn anmuthig, nachzuahmen verstanden hatte. Der Goethe von 1770, der Goethe von Straßburg, Das heißt, der schöpferischste von Allen, die dem Zwanziger in den sich an einander reihenden Jahrzehnten dieses überreichen Lebens gefolgt sind, hat mit den ersten Zeilen schon, die er für das beneidenswertheste aller deutschen Mädchen aufschrieb, diesen Bann gelöst. Denn er hat mit Münzen aus reinerem Gold gezahlt als alle seine "Vorgänger". Dann sind mehrere Geschlechter deutscher Lyriker am Werk gewesen, dieses edle Metall immer von Neuem umzuschmelzen und mit ihrem Gepräge auszugeben. Im Anfang, als die Schrift noch Uhland oder Mörike hieß, war sie scharf und auch noch eigen, zuletzt aber, da die Reversseite den Kopf Geibels trug, waren die Umrisse süßlich, glatt und doch verschwommen und das Relief flach geworden: selbst wenn die Münzen noch klar vom Prägestock kamen, schienen sie abgegriffen zu sein. Der Realismus der sechziger und siebenziger so wenig wie der Naturalismus der achtziger Jahre vermochten aus dem eigenen Beutel zu zahlen. Wer den Trompetenton des Patriotismus der Gasse oder, noch schlimmer, das Pfeifen der Straßenjugend nachzuahmen sucht, mag in dem einen Fall ein Mann der löblichsten vaterländischen Gesinnung und im anderen ein vortrefflicher Beobachter des niederen Lebens sein, aber ihm vergeht die Kunst und selbst die Lust am Flötenblasen.
Ob der Goethe von Straßburg und Frankfurt wirklich nur als Befreier von stilstischen Banden aufgefaßt werden darf, mag dahingestellt bleiben; sicher ist, daß sich aus der Goethe-Nachahmung eine neue Konvention, ein neuer Zwang gebildet hat. Die jungen Dichter nun, die sich 1892 zur Herausgabe der zwanglosen Hefte vereinigt hatten, besonders ihr Führer Stefan George, haben von Anbeginn durchblicken lassen, daß sie sich von diesen Banden, die freilich allgemach unendlich locker und bequem geworden waren, gänzlich frei zu machen gedächten. Der zuletzt nur ganz gering ge[157]wordene Rest von Originalität, der hinter diesen erborgten Formen sich versteckte, konnte Ehrgeizige allerdings nicht mehr zur Nachfolge verlocken: immer die selben Rhythmen, immer die selbe Ausdrucksform und zuletzt auch fast immer die selben Vorstellungen: wahrlich wie diese Lyrik uns auf das Genießen Angewiesene entschuldigt, daß wir – im Zeitalter eines Gewaltigen der That und eines vom Ruhm umstrahlten alten Herrschers – uns von ihr sehr einseitig abwandten, so war ihre Süßlichkeit und inhaltleere Glätte unzweifelhaft für die Schaffenden, die da vorwärts strebten, eine Rechtfertigung nicht nur, sondern auch ein Ansporn, nach Neuem zu suchen. Freilich nur für Starke; denn die Schwachen und die Halbkönner lullt diese alte Melodie noch heute zu Dutzenden in Schlaf.
Dem ersten Heft seiner Blätter hat George Theile einer Gedichtereihe einverleibt, die seit einem Jahre zusammengefaßt herausgegeben worden sind: Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal. Sie weisen schon fast alle charakteristische Merkmale seiner Kunst auf. Sie wirken auf Jeden, der sich ihnen nähert, befremdend, ja abstoßend. Man muß diesen Versen schon lange vertraut und viel innigen Verkehr mit ihnen gepflogen haben, will man sie lieben, ja auch nur nach Gebühr schätzen. Hinreichend zu erklären, warum Das so ist, würde eine bis zu den Elementen ästhetischer Ueberlegung vordringende Untersuchung erfordern; doch wer die Gründe dieser Geschmacksdivergenz des beginnenden – Das heißt: unwillkürlich noch geibelisch empfindenden – und des endenden George-Lesers auch nur leise streifen will, muß für seine Interpretation ein Wenig Geduld erbitten.
Was an diesen Strophen zuerst auffällt, ist der scheinbar ganz gedämpfte Ton oder – um es richtiger auszudrücken – die lang ausgehaltene Melodie ihrer Grundnoten. Sie haben, um vom Technischen auszugehen, keinen Auftakt und, was viel schneller bemerkbar wird, keine Coda. Sie hinterlassen ein Wenig den Eindruck, als träte man etwa im freien, schattigen Walde unter eine Gruppe Redender, die wechselnd mit zwar leidenschftlicher, aber verhaltener Gewalt weihevolle Worte sprächen, ohne daß indessen eigentlich der Inhalt ihres Gespräches ihnen selbst am Meisten am Herzen läge. Es ist, als fehle diesem Tausch der Reden der dramatische Accent, es ist, als sei er weit eher ein verabredetes kultähnliches Responsorium als eine Aufeinanderfolge von einzelnen, für sich gedachten Aussprachen, die, jede für sich, etwas Besonderes mittheilen oder gar vom Hörer eine bestimmte Antwort fordern. Es ist in diesen Gedichten Etwas von der ewigen Melodie Wagners, wie es darum auch in den meisten Fällen Liederketten, nicht Sammlungen von selbständigen Gedichten sind.
Diese Verkettung aber, die zuweilen, auf allen Höhepunkten von Georges Lyrik, auch eine innere, inhaltliche ist, bringt auf den Leser und [158] mehr noch den Hörer zunächst die Wirkung eines zwar feierlichen, aber ganz unbestimmten Gesanges hervor, der wohl das Herz erheben, die Empfindung erhöhen kann, aber nicht eigentlich an den aufmerkenden Verstand appellirt. Und kein Zweifel: ein Theil dieser Wirkung ist beabsichtigt. In diesem Dichter ist der alte ursprüngliche Zusammenhang aller Poesie mit ihrer Mutterkunst, der Musik, so mächtig wieder aufgelebt, daß er, wie der Sänger, zum Herzen des Zuhörers am Liebsten ohne alle Umwege dringen, daß er am Oeftesten unmittelbar zur Empfindung sprechen will. Und da all sein Trachten darauf ausgeht, Weihe und Erhebung um sich zu breiten, so schlägt er immer, wie einst Palestrina, volle, tiefe Akkorde an; die schönen Reden werden unseren Ohren zu Chorälen oder dionysischen Sängen, wir hören nur noch einzelne hohe und große Worte, aber wir sind geneigt, uns nur von den Wogen dieser rauschenden Musik tragen zu lassen und nicht mehr nachzusinnen, was eigentlich die Forderung und was der Inhalt ihrer zauberischen Klänge sei. Aber wie jeder Reichthum Gefahren mit sich bringt, so ist die nächste Folge, daß sich Alle, denen an solcher musikalisch unbestimmten Aufhöhung des Gefühles nichts gelegen ist, die vielmehr dem Dichter jedes Wort von den Lippen ablesen wollen, zurückgestoßen fühlen. Sie sind an die runden, netten, kleinen Nichtigkeiten gewöhnt, die alle Baumbach-Lyrik wie den süßen Kern des Knallbonbons in ihre glatten Verse wickelt, und sie wünschen zwar, allerlei Gefühle und Gefühlchen erweckt und vermittelt zu erhalten, aber Alles soll sich klar und eben vollziehen, man soll wissen, welchem tausendmal gebrauchtem Gleichniß welchem alt bekannten Lob auf Frühling, Liebe, Mond und Tugend sie diese zwar kleine, aber wohl abgezirkelte und deshalb auch leicht kontrolirbare Erregung verdanken. Alle diese Liebhaber lyrischer Poesie werden nie mehr als eine Seite in den Büchern Stefans George aufschlagen. Doch eben so gewiß ist, daß auch jeder ernstere oder dulsamere Leser zuerst den weiten Abstand dieser Kunst von aller anderen unserer Zeit als ungewohnt, als befremdend empfindet. Nur wird er, wenn er weiter eindringt in die nicht eben leicht sich öffnenden Höfe dieser Poesie, bald anderen Sinnes werden.
Zwar ergeben sich Dem, der diese Gedichte beim Wort zu nehmen sucht, gleich neue Schwierigkeiten. Denn sie entfliehen in jedem Sinne der groben Wirklichkeit; sie reden selten von einem bestimmten Vorgang; sie lassen selbst die einzelnen Bilder, die sie in der Phantasie des Hörers wachrufen, schnell wieder verschwinden. Oft sind sie mit aller Absicht räthselhaft und man wird bei jedem Versuch der Deutung inne, daß es zartes Geschmeide mit plumpen Fingern zerdrücken hieße, wollte man ihren Sinn in allzu greifbare Vorstellungen umsetzen. Ueberall wollen sie von den Dingen, die sie schildern, aber nur andeuten, alle Härten grober Realität abstreifen.
[159] Schon scheinen durch der Zweige Zackenrahmen
Mit Sternenstädten selige Gefilde,
Der Zeiten Flug verliert die alten Namen
Und Raum und Dasein bleiben nur im Bilde.
Das ist an programmatischer Stelle eben so programmatisch gesprochen wie in den späteren Zeilen:
Ich forschte bleichen Eifers nach dem Horte,
Nach Strophen, drinnen tiefste Kümmerniß
Und Dinge rollten dumpf und ungewiß.
Es ist im Grunde das Glaubensbekenntniß aller Ideal-, aller Phantasiekunst, nur in ganz persönliches Gewand gehüllt. Ihr tiefster Charakterzug, die Neigung, zu wählen unter den Wirklichkeiten, von ihnen die nächsten, die häufigsten, die alltäglichsten am Wenigsten, die fernsten, die fremdesten, die seltensten aber am Sehnsüchtigsten zu suchen: er ist hier klar und folgerichtig ausgesprochen. Solche Kunst sucht allen Erdgeruch der Realität von sich fernzuhalten, sie giebt wohl noch Bilder des Seins, aber wie aus weiter Perspektive; sie ist dem Milieu und allen seinen Einzelheiten und Zufälligkeiten gänzlich abhold; sie wünscht weit mehr, Gleichnisse des Vergänglichen darzubieten als es selbst zu beschreiben. Sie behält sich – selbst da, wo sie von greifbaren Vorgängen und bestimmten Gestalten redet – jede Willkür in der Schilderung vor; sie will nur Das herausheben, was ihrem höheren, ihrem ganz ästhetischem Zweck dient.
Daß dies Alles nicht Poeteneigenschaften sind, die Leser werben, ist offenbar. Ein Gedicht zwei-, dreimal mit voller Sammlung zu lesen, dünkt die Vielen, von denen der Dichter sich mit so schroffem Stolz abwendet, in der That allzu große Mühe. Um so reicheren Lohn weiß er Denen zu bieten, die ihm auf seinem Pfade folgen mögen. Denn allerdings: er läßt oft alle Lokalfarbe der Dinge vergessen, die er mit seinem leisen und zwar überall das Kolorit aufsuchenden, aber umgestaltenden Pinselstrich zu malen unternimmt. Für dieses Verhalten zur Wirklichkeit ist zunächst charakteristisch, wie Stefan George alte Zeiten wiedergiebt. In dem Buche "Sagen und Gesänge", das dem zweiten, etwas später entstandenen Bande seiner Sammlungen angehört, steht ein Gedicht, das unzweifelhaft frühmittelalterliche Thatenkraft zu preisen bestimmt ist. Ein liebeskranker Knappe ist, nach Tod und Wunden gierig, aufgebrochen und ihm gelingt, das Ungethüm des nächsten Waldes zu erlegen. Dieses Lied aber schließt mit den Zeilen: nach vollbrachtem Abenteuer
Verfolgt er seine Bahn, erhellt vom Fackelbrand,
Die schönen Blicke still und grad zum Himmelsrand.
Von Burgen und Rittern ist in diesen Strophen wenig die Rede, nichts ist zur äußeren Skizzirung dieser Epoche beigetragen; der Dichter hat [160] sich auf die zwei, drei Striche beschränkt, die unumgänglich nothwendig waren zur Andeutung der Zeit, in die er die Handlung verlegt; er hat sich nicht zu der mindesten Milieuschilderung herabgelassen. Und doch, finde ich, ist Sinn und Charakter einer Periode selbstvergessener Thatenlust in den beiden Schlußzeilen so eindringlich dargestellt, wie es der Kunst nur möglich ist. Wir scheiden mit dem Bild eines gläubig fest ins Weite blickenden Jünglings; und alle schöne Steilheit und Starrheit gothischer Dome und hoher Burgfelsen ist uns besser, wirksamer vor Augen gestellt, als es den Talmi-Schilderungen mittelalterlicher Dinge je gelungen ist, mit denen wir vor zwanzig Jahren von der Afterkunst überschüttet wurden. Selbst Thoma ist hier übertroffen. Und wie merkwürdig: auch alle diese Kargheit mit der historischen Färbung ist dem Dichter noch nicht genug: er hat über dieses Gedicht die noch allgemeinere Ueberschrift "Die That" gesetzt. Und er hat verschmäht, was er noch von dem Helden seines Liedes dachte, hinzuzusetzen: daß er nun Richtung und Inhalt seines Lebens gefunden hat und daß all sein jugendlicher Liebeskummer wesenlos dahinten liegt.
Es giebt heute eine gute Epigonenbaukunst, die zwar den Stil irgend einer Zeit nachahmt, wie jede Architektur heute nachahmt, aber sie versteht, von den Dingen eben nur den feinsten Hauch, den Schaum des Sektkelches abzunehmen und ihn allein zu reproduziren. So verfährt hier George: von den Vergangenheiten, in die es ihm zuweilen den Blick zu senden beliebt, läßt er alle robusten Realitäten dahinten, aber das Bild, das er von ihnen heimbringt, ist trotz seiner Skizzenhaftigkeit treu: denn es hebt wenige, aber die bedeutendsten Züge aus ihnen heraus. Ganz ähnlich aber verfährt der Dichter allen übrigen Stoffen gegenüber, die ihm die Wirklichkeit darbietet. Zuweilen nähert er sich den Gegenständen, von deren alleiniger, nur allzu formloser Betrachtung die meist zu völliger Unkunst herabgesunkene Modegattung der Poesie, der Roman, sich heute nährt. Stefan George hat in dem Vorwort zu den "Sagen und Sängen" davon gesprochen, daß seine Gedichte nicht immer den Hauch der unentweihten Thäler und Wälder, sondern zuweilen auch wohl die sinnliche Luft unserer angebeteten Städte athmeten. Aber es heißt, ihn allzu sehr beim Worte nehmen, wenn man die Meinung erweckt, hier sei eine Art von quinta essentia des Großstadtlebens gegeben worden, wenn man Stefan George deshalb mit irgend einem der modernen Realisten vergleicht, – und sei es dem besten. Davon darf nicht im Mindesten die Rede sein: vielleicht zwei Zeilen nur in dem ganzen Bande reden in diesem Punkte deutlich; und sie erzählen nur von sündiger Schuld und drohender Rache, nichts von Großstadtgeräuschen, wie man gemeint hat. Oder ein Thema wird angeschlagen, das, nicht so stark und gedrängt in der Form, doch auch etwa ein Balladendichter alten Stiles hätte variiren können, wie in dem Liede von den drei Weisen, die [161] dem blöden Dorfknaben im Ohre tönen, die eine von der Frömmigkeit der Väter, die andere von tugendhaftem Frauenleben, die dritte vom jähen Zorn und schlimmer That. Aber wie ganz ist auch hier alles für den letzten Zweck unnütze Beiwerk abgestreift, wie kunstvoll ist hier der innere Kern einfachen Lebens von jeder bergenden Hülle befreit:
Die dritte droht Versündigung und Rache
Mit altem Dolch in himmelblauer Scheide,
Mit mancher Sippe angestammtem Leide,
Mit bösen Sternen über manchem Dache.
Und selbst ein allgemeinstes von den Gütern des irdischen Lebens ist hier nur wie von fern winkend, nie ganz greifbar nah gezeigt: die Persönlichkeit. Der Sangesreigen Algabal läßt wohl ein Menschenbild erschauen, aber nur wie durch einen dichten Schleier. Eine monumentale Inschrift erinnert an Ludwig den Zweiten, den König der Einsamkeit und der Pöbelschau, der Name wie manches Zeugniß exzessiven Sinnendurstes an die kolossalische Ichsucht römischer Imperatoren; und die Dichtung selbst läßt eine Anzahl von Visionen vor uns aufsteigen, die Kampf und Sieg einer Herrscherbahn, Lust und Fluch des höchsten Ueberflusses, Pracht und Märchenprunk einer mehr als orientalischen Despotenmacht abschildern. Aber auch hier sind nicht allein die Farben des Beiwerks oft ganz unirdisch gesteigert, sondern auch die Gestalt des Herren selbst ist nur in einigen großzügigen Strichen gezeichnet; alle beherrschenden Linien des Bildes sind vorhanden, alles Uebrige ist verschleiert, ist verhüllt. Ich habe wohl – in bester Absicht – die Meinung aussprechen hören, Stefan Georges Poesie habe den Charakter der Plastik; ich kenne keine schiefere Auffassung, die man über den Gegenstand haben könnte. Plastik will eben die Klarheit der Konturen und zwar aller Konturen, die dieser Dichter meidet. Auch die stilisirteste, typischste Bildhauerei, die man ersinnen könnte, darf zwar Flächen und Linien auf das Stärkste zusammenfassen und vereinfachen, aber niemals ganze Theile eines Bildwerkes unausgeführt lassen, was nur dem Maler und mehr noch dem Dichter verstattet ist.
Die zarten Reize dieser leisen Umrisse, die viel öfter noch mit bedeutendem Schweigen als mit Reden schildern, wirken aber da um so wunderbarer, wo sie noch unmerklicher fast als im Algabal Persönliches schildern. So im "Jahr der Seele", der letzten, reichsten und einheitlichsten der bisherigen Sammlungen. Hier ist viel Schmerz und wehes Leid, viel Sehnsucht und die Tragik aller Liebestrennnung ausgeströmt, aber nur so weich und verhalten wie in Harfenklängen. Und doch ist dann auf und zwischen den Zeilen viel von der seelenkündenden Psychologie eines scharfen Selbstbeobachters zu lesen. So wenn es von dem Sterben einer Liebe heißt:
[162] Was ich nicht sage, Du nicht fühlst; uns fehlt
Bis an das Glück noch eine weite Spanne.
Ist aber Stefan George kein Plastiker, will er es nicht sein, so ist er in um so höheren Sinne Maler. Wie viel von seiner Kunst der Landschaft und allem farbigen Bild der Umwelt überhaupt gilt, ist nicht zu sagen. Wald und See, Feld und Berg, alle Farbentrunkenheit tropischer Gewächse oder das Ornamentengewirr eines Teppichs, die Herrlichkeit eines Märchenparkes und seiner Marmorwerke oder die strenge Schönheit eines entlegenen Waldsees, Alles umspannt der Dichter mit gleicher Neigung und gleicher koloristischer Kraft. Freilich verfährt er auch hier immer wählend, immer andeutend. Wohl beschreibt er auch den kleinsten Gegenstand, wie eine Spange; aber immer geschieht es mit farbenblinkender, glitzernder Koloristik:
Nun aber soll sie also sein
Wie eine grosse fremde Dolde
Geformt aus feuerrotem Golde
Und reichem blitzendem Gestein.
Oder er hebt irgend ein ganz nebensächliches Detail heraus, dann aber gewinnt es bei dieser Vereinzelung neuen Adel, wie die Stelle in jenem hübschen Gedicht schwermüthigen Liebeswerbens, das hier schon einmal berufen wurde:
Dein Auge hängt noch immer an der Leere,
Dein Schatten kreuzt des Teppichs selbe Ranken.
Wie distinguirt wirkt hier die eine kleine Sinneswahrnehmung des unverrückten Schattens. Und ganz ähnlich stilisirt ist auch die Landschaftschilderung:
Flammende Wälder am Bergesgrat,
Schleppende Ranken im gelbrothen Staat!
Und noch lieber wird sie ganz phantastisch, losgelöst von aller Wirklichkeit, wie in dem nun endlich bekannt gewordenen Lied von dem Garten der dunklen, großen, schwarzen Blume. Oder der starke Wille des Poeten malt den Palast des Despoten aus:
Daneben war der Raum der blassen Helle,
Der weisses Licht und weissen Glanz vereint.
Das Dach ist Glas, die Streu gebleichter Felle,
Am Boden Schnee und oben Wolke scheint.
Der Wände matte Täfelung aus Zedern,
Die dreissig Pfauen stehen dran im Kreis,
Sie tragen Daunen blank wie Schwanenfedern
Und ihre Schleppen schimmern wie das Eis.
Ja, sehr oft will diese Phantastik gar nicht nach dem Woher ihres Schauens gefragt sein. Die Dichtung, die mit der Zeile: Mein Garten bedarf nicht [163] Luft und nicht Wärme, anhebt, würde Der all ihres schönsten Reizes berauben, der nun sorglich sich erkundigte, ob denn nun hier auf ein Kohlenbergwerk angespielt sei. Auch nur das Fragen schon entblättert mit plumpen Fingern die zarten Blüthen dieser Poesie.
Am herrlichsten aber wirkt diese Kunst andeutender Zeichnung da, wo der Dichter sie in den Dienst seiner psychologischen Zwecke stellt, wo er Seele und Landschaft zugleich malt. In dem Gedicht, das so wunderbar schildert, wie ein Bund von Liebenden in schriller Dissonanz endet, heißt es:
Es war das weiße Blatt, das Dir entfiel,
Die grellste Farbe auf dem fahlen Plane.
Folgt hier der Hörer dem gesprochenen Dichterwort mit gefügiger Phantasie, so thut sich vor ihm ein Feld voll Herbstes und gefallener Blätterleichen auf und die Natur wird ihm zum wirksamsten Hintergrund für das bleiche Liebesunglück, von dem ihm soeben der Dichter seine leisen Worte zugesungen hat.
Doch alle Kunst ist Form und nur durch die Form gewinnt der Dichter seine letzten, seine Ausschlag gebenden Siege. Von Stefan George aber ist in diesem Betracht auszusagen, daß er erstlich dem Rhythmus und dem Metrum jede nur denkbare Strenge zu verleihen gestrebt hat, nach aller Banaltät des sterbenden Klassizismus, nach der Sorglosigkeit der soi-disant-realistischen Lyrik und der mehr bequemen als bizarren Saloppheit neuester naturalistischer Versuche. Zweitens aber hat er mit dieser Formenstrenge eine Gedrungenheit der Gedanken- und Vorstellungsfolge verbunden, die erst mit jener anderen Errungenschaft ihr Schwergewicht verleiht. Denn wer irgend einmal über das Wesen des harten Zwanges nachgedacht hat, den sich alle gebundene Rede anthut, um schön, Daß heißt in diesem Falle: kunstvoll und musikalisch, zu wirken, wird zugeben, daß Metrum und Rhythmus – zum Mindesten der einfacheren Maße – erst dann Werth und Geltung gewinnen, wenn sich zu ihnen eine gewisse prägnante Konzentrirtheit der Diktion gesellt. Dieser Zwang ist nämlich nicht so hart, daß man ihm nicht entrinnen könnte, wenn man die große Menge von Füllwörtern und Füllwendungen zu Hilfe ruft, die jede alte, reife Sprache dem Versemacher darbietet. Sobald es einem solchen "Poeten" nicht darauf ankommt, von ihnen Gebrauch zu machen, wann irgend ihm Metrum, Reim oder Rhythmus Noth bereiten, braucht er sich über die Gebundenheit seiner Rede überhaupt keine Sorgen mehr zu machen. Der Fluch der Geibelperiode aber war, einen so ungeheuer umfangreichen Vorrath von solchen Verlegenheitmitteln angesammelt zu haben, daß viele von ihren schwächeren und mittleren Talenten zu einer Versmacherei herabsanken, die sich von höherer Gelegenheitdichtung in nichts mehr unterscheidet. Und Form- und Stoffbehandlung gehen da merkwürdig Hand in Hand; das wohl abgezirkelte Maß von realistischen Zuthaten der Schilderung und Erzählung, [164] das der Epigonen-Klassizismus dieser Epoche für erlaubt erklärte, bietet eine erstaunliche Menge beschreibender Adjektiva und Relativsätze dar, durch die jede Versnoth zu bewältigen ist. Das Schema ist Dieses: Der Thatsachenkern, den man mittheilen will, ist etwa "der Geburtstag". Daraus ist nun, je nach Bedürfniß, zu machen: der segensvolle Tag oder, ist der Angeredete ein Scheusal, der schaudervolle Tag, an dem Du einst geboren wardst oder an dem Du einst das Licht der Welt erblickt hast, oder der Tag, an dem Du u. s. w., oder: jener Tag voll Unheil, oder: jener segensschwangere Tag, an dem der Mutter Leib Dich einst gebar, oder ... nun, man wird mir weitere Beispiele erlassen und mir als bewiesen zugeben, daß jede denkbare Variation zur Verfügung steht, je nachdem man vier oder fünf, sechs, sieben, acht oder zwölf, vierzehn, sechzehn oder wie viel immer Versfüße ausfüllen will. Das Paradigma ist sehr plump gewählt, aber Jeder, der über die Frage nachdenkt, wird mir zugeben, daß sich sehr viel feinere und gewähltere Beispiele aus Tausenden der Goldschnittbändchen beibringen ließen, die zwischen 1850 und 1880 jährlich produzirt zu werden pflegten und deren nie versiegender Strom wohl heute wieder ein Wenig dünner, im Uebrigen aber fast unverändert fortfließt.
Das ist eine Afterkunst, deren dilettantische Absichten mit der Poesie im Grunde wenig mehr als den zu Unrecht angemaßten Namen gemein haben. Eins aber kann man von ihrer Betrachtung doch lernen, daß die gewundenen Linien, die alle Versform der Poesie zu tanzen vorschreibt, nur Werth haben, wenn Der sie schreitet, gedrungene und kanppe Schritte macht. Nur wer neue Reichthümer des Ausdruckes, farbensatte Bilder der Phantasie und eine Fülle von Motiven in den Rhythmus zwingt, ist in Wahrheit Lyriker.
Stefan George aber verfügt über alle drei Elemente und versteht es trotzdem, sie in die engste, strengste Form zusammenzuzwingen. Auch er und Die sich zu ihm gesellt haben, sind von Anderem ausgegangen. Die "Blätter für die Kunst" haben einmal eine Lese aus früheren, jugendlicheren Produktionen Stefans George und seiner Genossen gebracht: es sind Gedichte, die den Geibelton vorzüglich treffen; und da den Autoren vielleicht zuweilen der weise Einwand gemacht werden wird: alle Eure Neuerungen stammen nur daher, daß Ihr das Alte nicht könnt, so mögen sie auf diese Stelle hinweisen. Sie nachzulesen, wird ihren Kritikern dann vielleicht den selben Dienst leisten oder doch leisten können, wie den trefflichen Leuten, denen Leistikows wunderbare Wald- und Waldsee-Märchen nicht wirklich genug sind *), ein Besuch im Obergeschoß der Dresdener Galerie. Man kann dort nämlich eine Landschaft Leistikows sehen, die nach dem Geschmack des Zeitalters der [165] karlsruher und düsseldorfer Landschaftmalerei eine vorzügliche Leistung ist. Und doch wird Leistikow von ihr heute so wenig wissen wollen wie Stefan George von seinen Anfängen. Wie viele neue Bilder und Wendungen Diesem sein sprachbändigendes Talent eingiebt, soll hier so wenig von Neuem belegt werden als die Fülle der Gefühle und Gedanken, die sich ihm zudrängen, oder als die Reinheit seiner metrischen Form. Wer Augen hat, zu sehen, wird sich aus allen mitgetheilten Splittern seiner Poesie ein zwar karges, doch charakteristisches Bild machen können. Nur wenige Linien sollen ihm noch beigefügt werden. Unendlich viel von der Wirkung von Georges Sprache ist auf ihre monumentale Einfachheit und Klarheit zurückzuführen; es rollt Nietzsches Blut in ihren Adern. Was Nietzsches Prosa so hoch über die aller der glänzendsten Stilisten des realistischen Zeitalters, über Gustav Freytag etwa und Treitschke, erhebt, ist die Durchsichtigkeit seiner Wortfügung und die Beseitigung aller unnützen Ausdrucksfülle. Ganz ähnlich verfährt Georges Poesie. Auch seine Prosa hat viel von Nietzsches Sprachgeist, nur ist sie faltenreicher, ich möchte ihre kunstvoll an einander gepaßten und von einander abhängigen Sätze mit jenen Denkmälern spätgothischer Plastik vergleichen, die uns in nürnberger Kirchen entzücken. Ihre Gewänder sind unsäglich reich gefaltet und doch zu künstlerischer Einheit gezwungen. Seine Verse aber mit ihrer Vorliebe für die prachtvoll einfachen Genitive der Mehrheit, die er den romanischen Sprachen abgesehen hat, mit ihrer Vorliebe für die Simplicia und ihrer Abneigung gegen alle überflüssigen Komposita, mit ihrem Drang nach dem jedesmal kürzesten und prägnantesten Ausdruck, sind noch eigener. "Des Kaisers Finger war am Tage rein" sagt er von seinem Traumdespoten Algabal, wenn er erzählt, daß dem furchtbaren Herrscher beim Beschauen eines Werkzeuges seiner Kinderspiele längst unbekannte Thränen in das Auge treten. Der alte Stil würde hier schreiben: des blutigen Tyrannen Hand war einmal rein vom Blute, an jenem unschuldvollen Tage u. s. w. u. s. w. Wer aber die neue Kürze liebgewonnen hat, Der wird gestehen müssen, daß eben der alte Ueberfluß allen und jeden Charme von dieser Zeile wegzuwischen droht.
Stefan Georges Poesie aber beginnt noch vor den Worten. Sie steigt wieder zu dem Urquell aller Lyrik empor: zu der Musik. Wie ein ästhetisches Verständniß bildender Kunst doch erst da beginnt, wo man inne wird, daß ein Gemälde nicht nur aus dem Stoff, den es erzählt, besteht, sondern auch aus einer Anzahl von Linien- und Farbfleckenkombinationen, so ist schließlich auch alle strengste Poesie nicht ganz an Sinn und Wort gebunden; sie ist auch noch und, wenn man so sagen darf, vorher Klangkunst. Daß die älteste Lyrik, deren Entstehung nicht ganz unbeleuchtet ist, daß die Werke der ersten griechischen Liedersänger noch ganz in der Musik wurzeln und mit ihr [166] fast identisch sind, daß sie Klang und Wort noch ganz wie in eins vermählen, daran zu erinnern, ist doch auch heute noch wichtig. Stefan George aber verfährt so: er hat ganz musikalische, in einer Zeile Auf- und Abgesang vereinigende Metren ersonnen und, mehr noch, er hat nicht den geringsten Theil seiner Poetenmühe daran gesetzt, daß seine Verse überall dem Ohr wohl thun. Man hat ihm nachgespottet, er sinne wohl Tage lang nach und suche, um die Klangfarbe einer dritten Zeile aufzuhellen, nach einem Wort mit A, um es an die Stelle eines Wortes mit U oder O als regirendem Vokal zu setzen. Aber mir scheint Das eben kein Vorwurf zu sein; nur so sind die selten tiefen Farben seiner Sprachgemälde zu erreichen gewesen.
Zwei Einwände aber höre ich: die Bequemen rufen aus, wie schwer macht aber dieser Dichter der wuchtigen Worte und der komprimirten Bilder dem Leser seinen Genuß; die Anderen, die Formempfänglichen, aber auch Stoffdurstigen (Vischer sagt etwas unhöflicher und etwas schwäbischer: die Stoffhuber) betheuern: Hier regt sich offenbar ein großes Formtalent; aber wo ist der Inhalt dieser Poesie? Vielleicht lassen sich die beiden Argumente dadurch widerlegen, daß man eins mit dem anderen schlägt. Gewiß: dieser Poet läßt auf seiner Saite viele Akkorde erklingen; so kurz und schnell verhauchend, daß auch ein aufmerksames Ohr gespannt horchen muß, um keinen von ihnen zu verlieren. Aber eben daraus scheint mir hervorzugehen, daß diese Lyrik über sehr viele Vorstellungen als Inhalt verfügt. Gewiß: immer wird die Phantasie der Empfangenden mehr angeregt als ganz ausgefüllt; aber ich weiß nicht, ob die Poesie nicht die werthvollste ist, die nicht Alles sagt, die unsere Einbildungskraft mehr anreizt, als daß sie erzählt, als daß sie immer runde, abgeschlossene Bilder giebt, – ganz wie die Gedankenwerke die fruchtbarsten sind, die uns zu eigenem, neuen Fortspinnen ihrer Ideenreihen nöthigen. Ich finde, man kehrt zu Georges Gedichten zurück: eine Erfahrung, die uns Lyrik noch selten bescheert hat.
Den Anlaß zu diesen Zeilen bietet ein neues Werk, das Stefan George den "Teppich des Lebens" genannt und dem er ein Vorspiel und "Lieder von Traum und Tod" zugefügt hat. Das Bild, dessen einzelne Züge aus seinen bisherigen Poesien hier zusammengesetzt wurden, ist, meine ich, das selbe geblieben, nur scheint mir, als sei das Inkarnat der Farben tiefer, satter geworden.
Ein allgemeiner Vorzug der Komposition, der schon das "Jahr der Seele" auszeichnete, tritt vor anderen hier von Neuem stark hervor. Es ist die größte Gefahr lyrischer Sammlungen, daß sie in eine Anzahl einzelner Kleinwerke auseinander fallen und so nothwendig einen fragmentarischen Eindruck hinterlassen. Die üblichen Sammelüberschriften: Liebe, Frühling, Tod und Hoffnung sind im Grunde nur Nothbehelfe. Das "Jahr der Seele" hatte [167] diese Gefahr völlig überwunden, in ihm schließen sich die einzelnen Cyklen zu solcher Einheit des Gedankens zusammen, daß man zuletzt auf die Idee kommt, hier sei eine neue Kunstgattung, ein lyrisches Epos geschaffen. Von ganz ähnlicher, ja vielleicht noch gesteigerter Konzentrirtheit ist das Vorspiel dieses Bandes, denn es erzählt, wie jener Sangesreihen die Geschichte der Leidenschaften, nun die Epopöe des inneres Werdens und Wachsthumes eines poetischen Ingeniums, sie berichtet, wie dem Dichter der Stern seines Schaffens aufging. Denn nichts Anderes als der Adel seiner Kunst ist der Engel, von dem er in diesen Strophen singt.
Nur wenige Züge änderten sich leicht, doch charakteristisch: von den großen Inhalten des Lebens, von Kultur des Geistes und vom Vaterland ist öfter, inniger die Rede.
Schon lockt nicht mehr das Wunder der Lagunen,
Das allumworbene, trümmergroße Rom
Wie herber Eichenduft und Rebenblüthen,
Wie sie, die Deines Volkes Hort behüten,
Wie Deine Wogen – lebengrüner Strom.
Und dazu das weite Bild allen Lebens und Drängens unserer Zeit, das mit den tiefen Zeilen schließt:
Drüben Schwärme folgen ernst im Qualm
Einem bleichen Mann auf weißem Pferde
Mit verhaltnen Gluten in dem Psalm.
Kreuz, Du bleibst noch lang' das Licht der Erde
Eine kleine Schaar zieht stille Bahnen
Stolz entfernt vom wirkenden Getriebe
Und als Losung steht auf ihren Fahnen:
Hellas ewig unsre liebe.
Ja, einmal ein Wort, daß sich aus der stillen, reinen Höhe geistiger Aristokratie herabbeugt zu den Armen und Bedrängten der Niederungen:
Den Vielen – die Du immer meiden möchtest –
Vergeblich wäre, wenn sie Dich umschlängen,
Und thöricht, wenn Du zwischen ihnen föchtest.
Sie sind zu fremd in Deines Webens Gängen.
Nur manchmal bricht aus ihnen edles Feuer
Und offenbart Dir, daß ihr Bund nicht schände.
Dann sprich: in starker Schmerzgemeinschaft Euer
Erfaß ich Eure brüderlichen Hände.
Zuweilen auch tritt hier die Freude am Wirklichen stärker hervor als früher, so in dem Gang des Freundes der Fluren, die etwas von der edlen Herbheit des großen Quattrocento-Realismus athmen, so in dem Lied auf die stille Lebensmüde, die aus dem Fest der lautesten Freude zu der stillen [168] Ruhe des Schloßteiches flüchtet. Da wirkt doch rührend, wie einmal eine Wendung des Gesprächsdeutsches auftaucht: die leichtlebige Schaar – aus scherzendem Jahrhundert –, die wohl das stille Raunen der Wellen über der Entschlafenen hört, aber es nicht zu deuten weiß: sie hielt es einfach für der Wellen Laune.
Alle zarte Schönheit der alten Landschaftlieder ist von Neuem bei dem Dichter eingekehrt, wenn er singt:
Nah in den Gärten duften die Mandeln,
Dort sah ich Augen voll Gluth und Traum;
Ich will die Fluren wieder durchwandeln
Hände baden im blumigen Flaum.
Aber alle frühere Kraft ist da übertroffen, wo die Musik der Rhythmen über jedes bisherige Dichten und Trachten des Poeten hinaus gesteigert ist, wie im Lied des Vogels:
Heb das Haupt, das sich bang neigt,
Ob aus Tiefen ein Gesicht winkt;
Und so warte, bis mein Sang schweigt
Und so bleibe, bis das Licht sinkt.
wie im Nachtgesang:
Was ich that
Was ich litt
Was ich sann,
Was ich bin:
Wie ein Brand
Der verraucht,
Wie ein Sang
Der verklingt.
oder in dem Gesang auf Traum und Tod, in dem das Buch und die Kunst des Dichters gipfeln:
All Dies stürmt, reißt und schlägt, blitzt und brennt,
Eh für uns spät am Nacht-Firmament
Sich vereint, schimmernd still, Licht-Kleinod,
Glanz und Ruhm, Rausch und Qual, Traum und Tod.
Wahrlich, diese Verse hinterlassen dem Ohr den Eindruck, als hätten die Rhapsoden des alten Griechenlands so gesungen, denn Das ist Gesang, kein Sprechen mehr.
Kein Zweifel: in dem banalen Jargon zukünftiger Dutzend-Literarhistoriker und vielleicht schon der heutigen Skribenten – wird diese Kunst einmal als neuromantisch bezeichnet werden. Aber so gewiß auch die Blicke von dieser Formen- und Phantasiekunst zu der anderen hinübergleiten, die das letzte Mal die deutsche Literatur aus der Zufälligkeit- und Wirklichkeitbetrachtung zu heben gedachte, mir scheint hier doch ein Anderes und ein Neues geschaffen zu sein. Man lese doch Hardenbergs Ofterdingen: an einigen Stellen erhebt sich seine Phantasie wohl zu der Pracht satter Farben und der schönen Einfalt edler Linien, aber wie dünn und blutleer schleicht [169] sie sonst dahin. Nein: hier ist größere Kraft, all die Erfahrungen, all die Irrthümer und Entdeckungen der Kunst und des Lebens, die das Jahrhundert inzwischen am eigenen Leib gemacht hat, sie haben ihren Saft, ihr frisches Blut in den Adern dieser Kunst gießen müssen, die von Neuem die alte marmorne Schönheit nicht ausgraben, sondern beleben will. Darüber hinaus aber hat sie nur Eins mit der Romantik gemeinsam: den Drang zu ferner, fremder Schönheit. Von dem Historismus der Romantiker, der auch freilich nur eine konkrete Maske für ein sehr allgemeines Streben von der Wirklichkeit fort war, weiß sie nichts, sie will keine Renaissance, weder eine griechische noch eine mittelalterliche, weder ein Quattro- noch ein Cinquecento-Epigonenthum. Das ist auch der sehr deutliche Unterschied, der die köstlichen Arabesken-Ornamente, mit denen Melchiors Lechter sichere Hand diese Gedichte umrahmt hat, von ihnen trennt. Sie sind wahrlich keine Talmi-Gothik wie die Zwirners und der anderen romantischen Architekten und Maler, aber sie sind doch in ihrem Zeitgeschmack viel begrenzter, viel bestimmter an alte Kunst angelehnt als die Lyrik Georges. Und seien wir doch ehrlich, nur der Künstler unserer eigenen Tage kann uns die köstlichsten Genüsse gewähren. Alle frühere Poesie auszuschlürfen, braucht es immer eines Elementes gelehrter Nebenarbeit, historischen Sichversenkens. Selbst schon Goethes Worte schmecken wir nicht ganz so unmittelbar mehr, als seien sie die unseres Geschlechtes; denn sie blieben unverändert, während Sinn und Form der Sprache sich leise wandelten.
Freilich auch die Fehler und Thorheiten unseres eigenen Zeitalters können uns lästiger werden als die irgend einer Vergangenheit. Doch meine ich, ist die Lyrik Stefans George frei von einigen der hervorstechendsten Gebrechen unserer Zeit: sie weiß nichts von den versteckten Lüsternheiten, zu denen sich die Dichter heute so oft erniedrigen, sie ermüdet uns nicht mit der banalen Erinnerung an das Alltagsleben unseres staatlichen oder geselligen Lebens, sie hebt und führt uns zu den reinen Höhen, von denen der Wanderer Welt und Leben weit und klar überschaut, ohne doch von ihrem Lärm oder gar ihrem eklen Dunst gestört zu werden. Sie wendet sich aber glücklicher Weise auch ab von allen Modethorheiten unserer Kunst, von dem thörichten Feldgeschrei der Decadence, mit dem sich zu brüsten wirklich nur Kranken oder Verfallenden in den Sinn kommen konnte. Sie ist an Gesinnung eben so adelig wie an Form. Wo aber – und Das geschieht nicht selten – die Strenge dieser Rhythmen, dieser Sprachbilder doch nicht ganz die Fülle der Gedanken und Gefühle bändigt, da hat man ein Wohlgefühl, wie Angesichts der ungefügen Quaderspalten, die der Fassade des Palazzo Pitti ihr Gepräge nicht nehmen, sondern eher erst recht geben. Das ist das pindarische Element dieser Kunst, das ihrem Kranz kein einziges seiner Blätter raubt. Bis zu spiegelglatter Reinheit hat sich noch kein starker Strom gemäßigt.
[Die Anmerkungen stehen als Fußnoten auf den in eckigen Klammern bezeichneten Seiten]
[156] *) S. "Zukunft" vom zwanzigsten Januar 1900.
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[164] *) Ein allzu berlinischer Freund sagte mir einmal, "weil sie
vermuthlich die Butterbrodpapiere vermissen, die den wirklichen
Schlachtensee auszieren."
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Erstdruck und Druckvorlage
Die Zukunft.
Bd. 30, 1900, 27. Januar, S. 156-169.
Gezeichnet: Professor Dr. Kurt Breysig.
Fortsetzung von:
Kurt Breysig: Der Lyriker unserer Tage.
In: Die Zukunft. Bd. 30, 1900, 20. Januar, S. 110-123.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Die Zukunft online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Zukunft_(Harden)
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000679567
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer