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Editionsbericht
Literatur: Ubell
Literatur: Die Zeit
Literatur: Die Blätter für die Kunst
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Texte zur Verlaine-Rezeption
Texte zur Baudelaire-Rezeption
Texte zur Mallarmé-Rezeption
Texte zur George-Rezeption
Texte zur Theorie und Rezeption des Symbolismus
Texte zur Neuromantik-Rezeption
Ich weiß nicht, ob es schon je gesagt worden ist, dass die
naturalistischen Absichten moderner literarischer Schöpfungen viel eher mit dem
überstarken wissenschaftlichen Trieb unserer Gehirne in Zusammenhang zu setzen
sind, als mit irgend einem dichterischen oder künstlerischen Hang. Die Aufgabe des
reisenden Ethnologen, des Betrachters mikroskopischer Präparate, des Sternguckers und
des Verfassers zoalistischer Romane war in wechselnder Erscheinung dieselbe
und in der einen Formel ausgesprochen: Gut Beobachtetes in suggestiver
Rede niederlegen.
Eine Art von Verdienst dieser neuen Literatur bestand ohne Zweifel darin,
dass sie das literarische Interesse auch in solchen Kreisen anpflanzte,
die gegenüber Werken schöngeistiger Art immer eine gewisse Feindseligkeit
oder Gleichgiltigkeit bewahrt hatten; aber diese Eroberung einer großen
neuen Schicht des Publicums durch die naturalistische Literatur ist zugleich
für diese Literatur in ausgezeichneter Weise charakterisierend.
Leute, die geschmackvoll genug waren, um sich bei Eckstein und Lindau zu langweilen, die aber anderseits niemals jene langwierige ästhetische Zucht genossen hatten, die die Seele in den Stand setzt, die langsam einsickernde und widerstrebende Schönheit etwa eines Gedichtes von Swinburne in sich aufzunehmen, sie mußten jene Bücher begrüßen, deren beherrschende Idee ihnen von vornherein vertraut und wertvoll war.
Dass diese Idee, die dem überfütterten Erkenntnisdrang des wissenschaftlichen
und schönheitfeindlichen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts entsprang und
von der allzu ausschließlichen Freude am Suchen und Auffinden der Wahrheit
gespeist wurde – dass diese Idee mit den großen Lebensbedingungen
wirklicher Poesie gar nichts, aber schon gar nichts zu thun hat,
verlohnt sich noch immer der Aussprache und nachdrücklichen Hervorhebung.
Sie ist nicht gestorben, wie es für den kurzsichtigen Beobachter wohl den Anschein haben möchte, sie taucht in neuen Verkleidungen immer wieder empor. Hat man doch vor nicht gar zu langer Zeit an die schreibenden jungen Leute in Oesterreich die Forderung des "Provinzromanes" ausgegeben, der uns zu einer verläßlichen Kenntnis des Antlitzes unserer so wundervoll verschiedenen Kronländer verhelfen soll. Ob sich Hermann Bahr, als er jene Einladung an uns ergehen ließ, auch wohl bewußt war, dass sie ganz und gar im Sinne jenes "theoretischen Menschen" ersonnen war, den zu bekämpfen er selber nicht müde wird? Denn das Bedürfnis, das er so einleuchtend formuliert und dem er durch solche beschreibende Erzählungen abgeholfen wissen möchte, ist gewiss nicht ästhetischer, sondern wissenschaftlicher Natur, und naturalistische Romane jener Art wären mit den Werken etwa unserer bedeutenden Statistiker genauer verwandt als mit irgend einem wesensechten Werke der redenden Kunst.
Ein anderes Beispiel. Eine Erneuerung der deutschen Lyrik, wie sie in der Absicht von Arno Holz liegt, bedeutet im Wesentlichen nichts anderes als die entweihende und absurde Uebertragung wissenschaftlicher Principien auf das Gebiet der Kunst. Wenn sich trotzdem unter den "Gedichten" des Berliners, der grundsätzlich die innere und äußere Form des Gedichtes seiner Gegenständlichkeit und Deutlichkeit opfert, eine ganze Reihe wunderhübscher Sachen vorfindet, so erreicht er diese Wirkung stets mit den alten, von ihm so energisch verredeten Kunstmitteln. (Wenn sich ihm zum Beispiel – unbewußt, wie es scheint – die Worte unter dem Zwang einer starken Stimmung zu rhythmischen Folgen ordnen.)
So mag es noch immer nützlich sein, daran zu erinnern, dass der naturalistische Gedanke eine jener "moderner Ideen" ist, über die der Mann, der unter den Zeitgenossen die tiefste Einsicht in das Wesen der dichtenden Kunst besaß, Friedrich Nietzsche, das fressende Wasser seines bösesten Spottes auszugießen liebte, und dass die Brücke von der "Nana" zur "Aegyptischen Königstochter" viel kürzer ist als zu einem Gedicht Stefan Georges oder zu einem der kleinen Dramen in Versen von Hugo von Hofmannsthal.
*
Hiemit habe ich die Namen der beiden jungen Dichter genannt, die seit ein paar Jahren die
Gegenbewegung gegen den deutschen Naturalismus redend und dichtend erfolgreich
eingeleitet und angeführt haben. Als hervorragende lyrische Begabungen, die sie
sind, verschafften sie ihren neuen Anschauungen zunächst im Kreise des deutschen
Gedichtes Geltung, wo der lyrische Realismus Liliencrons und seiner Schüler
alleinherrschend schaltete. Doch wer wollte den umgestaltenden
und auffrischenden Einfluss
verkennen, den auch die Grundsätze der beiden auszuüben beginnen, die
sie ihrem Schaffen in ungebundener Rede und ihren dramatischen Gedichten
unterzulegen pflegen?
Ihre ersten zartgliedrigen Versuche scheuten die rauhe Luft der Oeffentlichkeit und konnten der schützenden warmen Atmosphäre eines verständnisvollen Kreises nicht entbehren, der sich nur langsam erweiterte. Für diesen Kreis geladener Mitglieder waren die "Blätter für die Kunst" bestimmt, die, seit dem Jahre 1892 in unregelmäßen Zwischenräumen erscheinend und aufs vornehmste ausgestattet, die Dichtungen Georges, Hofmannsthals und ähnlich Gesinnter überlieferten. Den programmatischen Theil der Zeitschrift besorgte ihr Herausgeber, Herr Karl August Klein, in einer so ruhigen und gediegenen Weise, wie sie bisher unter den Deutschen noch nicht dagewesen war.
Heute steht der Ruhm dieser Bestrebungen so sicher gegründet da, dass kein stichhältiger Grund mehr ersichtlich war, die "Blätter für die Kunst" der Oeffentlichkeit vorzuenthalten. Es wurde die Herausgabe eines Sammelbandes beschlossen, der eine bezeichnende Auswahl aus den Beiträgen der Zeitschrift einem breiteren Publicum darbieten soll. In würdigem Gewand, mit einer Titelzeichnung von Melchior Lechter, ist dieser Band soeben bei Georg Bondi in Berlin herausgekommen. Ich glaube, er wird in die Geschichte unseres österreichischen Schriftthums Epoche machen; begegnen doch die Gesinnungen, die er ausspricht und documentiert, einigen unserer geheimsten Neigungen, die sich zum Beispiel bezeichnenderweise gegenüber den Forderungen des naturalistischen Bekenntnisses stets spröd und ablehnend verhalten haben.
Der Eindruck dieser Veröffentlichung wird noch verstärkt durch die erste
allgemein zugängliche Ausgabe der drei Gedichtsammlungen
[123] Stefan Georges. Sie lädt zur Beschreibung der dichterischen Besonderheit
des großen Reformators unserer Lyrik ein; vorläufig aber soll nur einiges
zur Bezeichnung der Leistung und Stimmung des Kreises im allgemeinen
gesagt werden.
*
Wenn immer häufiger die Klage laut wird, dass die Entwickelung des neueren Schriftthums in Deutschland mit der wunderbaren gegenwärtigen Erhebung der bildenden Künste nicht Schritt gehalten hätte, so wird die Nichtigkeit dieser Beschwerde sofort einleuchtend, wenn man die Thaten und Anregungen des Georgischen Kreises und ihren Wert für unsere innere Cultur einzuschätzen beginnt. Seit George und Hofmannsthal dichten, darf sich das moderne deutsche Gedicht neben den Radierungen Klingers und neben den Gemälden Ludwig von Hofmanns sehen lassen. Dies wäre längst allgemein anerkannt, wenn die poetische Cultur des Deutschen nicht um so sehr viel dürftiger und unzulänglicher wäre, als seine malerische oder gar musikalische Cultur. Es zeigt sich von Tag zu Tag überraschender, wie gerne das Publicum bereit ist, noch mit der äußersten Secession der bildenden Künste mitzugehen; von den Secessionisten der Dichtung will es noch immer nichts wissen.
Und doch bieten sich schon dem oberflächlichen Nachdenken eine ganze Reihe von
Berührungspunkten der modernen Malerei mit der modernen Poesie dar. Beide suchen
sich dem Wesen der Künste zu nähern; man bevorzugt zum Beispiel die derbe
Art des altdeutschen Holzschnitts gegenüber der unendlich ausgebildeten und
verfeinerten Weise der neu-amerikanischen Xylographie, weil jene dem Wesen
des Holzschnitts unvergleichlich gemäßer ist, als diese; und es ist kein
Gebiet der bildenden Kunst, das nicht durch diese herrliche, starke Strömung von
Grund aus gegenwärtig umgestaltet würde. Von demselben redlichen Streben
erscheinen jene jungen Künstler der Rede erfüllt. Sie haben den uralten Zusammenhang
des Gedichtes mit der Musik wieder aufgedeckt, der in wirklich schöpferischen
Epochen der Lyrik – von der Antike bis herauf zu den Tagen der
Troubadoure und Minnesänger – nie außeracht gelassen worden war;
und infolge dieser Einsicht in das ursprüngliche Lebenselement des Lyrischen
haben sie gelernt und gelehrt, in erster Linie den musikalischen und
den Stimmungswerten des Gedichtes Beachtung zu schenken. Eine der vornehmsten
Errungenschaften unserer Malerei ist die Wirkung innerhalb des Materials und
durch das Material, der Gegenstand der Darstellung kommt erst in zweiter Linie,
oft aber nur als nebensächlicher Anlaß zu einer angenehmen Vereinigung
von Farben in Betracht. So bemühen sich jene Künstler in Worten um die
reine, bisher so schändlich vernachlässigte Wirkung des sprachlichen
Materials; Wirkungen, die von den Romantikern bereits vorausgesehen waren, wie jeden
die berüchtigte Uhu-Ballade Tiecks lehren kann, gegenüber welchen aber die
sogenannte Lautmalerei der Epigonen plump und kindisch erscheint.
Welcher köstlichen Wirkungen begibt sich Arno Holz, der die Strophe und den Reim
verschmäht, und so den farbigen, goldenen Dämmer, der nach Goethe das Wesen aller
Poesie ausmacht, einer naturalistischen Deutlichkeit der Begriffe zum Opfer
bringt! Wie sehr bedürfen gerade die unvergleichlichen Stimmungsmotoren, die
im Rhythmus und im Klang der Reime liegen, unter den gegenwärtigen Verhältnissen
in Deutschland der emsigen Pflege! Wenn für das Ohr des Verfassers des "Phantasus"
unsere regulären strengen Strophen leierkastenmäßigen Klang haben, so möge
er aus der Betrachtung irgend einer Strophe von George lernen, mit welcher
Fülle individuellen Lebens ein großer lyrischer Dichter auch die
abgebrauchtesten Formen zu bereichern weiß; ganz abgesehen davon, dass er
niemals um die Bildung eines neuen rhythmischen Gefäßes für einen
neuen Stimmungsinhalt verlegen ist. Durch die sorgsamste Beachtung aller in
Betracht kommenden Kunstmittel bringt George Gedichte zustande, die schon vermöge
ihrer phonetischen und rhythmischen Eigenschaften allein gewisse
prägnante Stimmungen erzeugen und festhalten, Stolz oder Trauer, Klarheit oder
Dunkel in der Seele verbreiten.
Wir verdanken ihm die Wiedergeburt einer lyrischen Kunst, die über die deutschen Vorbilder der unmittelbaren Vergangenheit – Goethe, Platen, Novalis, Hölderlin, Mörike und Conrad Ferdinand Meyer – hinaus auf die complicierte Technik der griechischen, römischen und mittelalterlichen Lyriker zurückgreift.
Unter den deutschen Zeitgenossen ist vor George und Hofmannsthal
Friedrich Nietzsche bereits in den Besitz einer ähnlichen reinen lyrischen
Cultur gelangt; im Ausland scheint sie zum Theile schon allgemeines Gut geworden zu sein.
Dort haben Swinburne und Rossetti, Baudelaire, Verlaine und ihre Nachfolger,
Gabriele d'Annunzio und andere die Reinigung durchgeführt. Ohne diese erlauchten
Beispiele täglich vor Augen zu haben, wären unsere jungen Lyriker schwerlich
in so kurzer Zeit so rasch vorwärts gelangt. Stefan George scheint sogar den
Stil seiner ersten Periode geradezu in der Nachbildung jungfranzösischer Muster geformt
zu haben. Uebrigens geben ihn seine Uebertragungen aus der französischen,
englischen, italienischen, holländischen und polnischen Lyrik als den genialsten
Uebersetzer zu erkennen, den wir auf diesem Felde besitzen.
Dieselbe Feinhörigkeit und Empfindlichkeit, die diese Dichter gegenüber dem musikalischen Element des Gedichtes an den Tag legen, erstrecken sie auch auf das epitheton ornans, auf die Phrase und das einzelne Wort überhaupt und auf ihre syntaktische Verbindung; überall vermeiden sie aufs behutsamste das "Cliché".
Das fremdartige Gepräge, das infolge dieser Bemühungen manche Strophen oder ganze Gedichte annehmen, erleichtert freilich dem Durchschnittsleser ihren Genuss nicht; aber ist der deutsche Durchschnittsleser von heute überhaupt geneigt oder auch nur befähigt, wirkliche Gedichte, die sich über das Niveau Uhland'scher Balladen und Heine'scher Banalitäten erheben, zu "genießen"? Er begnügt sich mit einem mühelosen "zur Kenntnis nehmen".
Aber diese Gedichte sind schwer, sie geben sich nicht ohne weiteres her, sondern sie wollen umworben und erobert werden; welche Zumuthung an uns, die wir viel eher gewillt sind an eine Schachpartie oder interessante Charade ernstliches Nachdenken zu wenden als an ein Werk der lyrischen Kunst.
Die Vorliebe dieser Dichter für die sparsame Andeutung an Stelle der breiten
Ausführung, für Ahnenlassen und Halbverbergen, die sie mit den japanischen
Künstlern und einigen unserer merkwürdigsten Maler theilen, macht ihre Werke
auch nicht zugänglicher. Sie wendet sich an unsere Phantasie, und fordert sie
zur Mitthätigkeit auf, um die Lücken zu füllen, das Dunkle zu erhellen, die
Räthsel auszudeuten; sie wendet sich an den Dichter in uns. Aber eine
solche Hingebung und Vertiefung ist nicht jedermanns Sache, obwohl sie zum
Beispiel musikalischen Kunstwerken gegenüber bei uns als selbstverständlich erachtet wird.
Dass es aber so bei uns steht, ist ein trauriges Zeichen der
gegenwärtigen deutschen Cultur ...
*
Welche Haltung nehmen diese Gedichte in anderer Beziehung ein? Was ist von ihrem
jeweiligen "Inhalt" zu sagen? (Nehmen wir an, es sei erlaubt, Form und Inhalt
eines Gedichtes in dieser Weise zu trennen.) Nun, sie haben sich auch hier von
der Tradition der Epigonen losgesagt – von der die meisten unserer
"renommiertesten modernen Lyriker", wie Hartleben, Falke, Salus, und andere sich
noch immer nicht entfernt haben – und greifen auch hier wieder die
immanenten Principien auf, die aller bedeutenden Lyrik der Vergangenheit
innewohnen. Sie predigen nicht und sie erzählen nicht, sondern sie rufen
durch rein bildliche und musikalische Mittel Stimmungen hervor, die dem modernen
Leser theuer sind. Gedankenlyrik ist diesen Dichtern ein Abscheu, sofern das
Gedankenhafte darin nicht im bildlichen und musikalischen Element völlig
aufgeschmolzen werden kann. Thatsächlich durfte man sich bei der Gedankenlyrik
der Epigonen jederzeit die Frage vorlegen, ob der Inhalt des Gedichtes in guter
Prosa nicht viel reiner, ungewundener und also wirkungsvoller hätte ausgesprochen
werden können; man hatte es in den meisten Fällen mit mehr oder weniger
geschickt versificierter Prosa zu thun. Hofmannsthal ist unser
mächtigster "Gedankenlyriker", weil er nie den abstracten Gedanken, sondern immer
den Stimmungskreis festhält, der jenen umlagert und erzeugt. Sein
hochtönender Chor "Manche freilich müssen unten sterben", seine "Terzinen", sein
"Traum von großer Magie"
(alle in dem Sammelband abgedruckt) – Gedichte, die durch die Jahrhunderte
gehen werden – rühren an die tiefsten Dinge, aber immer durch ihre
bildlich-musikalischen Symbole, ohne jede prosaische Directität, die zum Beispiel
die Gedichte Richard Dehmels oftmals entstellt.
"Bilde Künstler, rede nicht!" Wie oft bleibt der Stimmungslyriker der
Epigonenzeit wirkungslos, weil er über seine Stimmung declamirt, statt uns
durch bildliche und musikalische Suggestion in die nämliche Stimmung zu
versetzen. Hier mit Energie Wandel geschaffen zu haben, bleibt das außerordentliche
Verdienst dieses Dichterkreises.
Auch von hier aus wird es sichtbar, dass sich unsere deutsche Romantik auf ähnlichen Wegen ähnlichen Zielen zu nähern versuchte; wie denn überhaupt diese ganze schöne Bewegung geradezu als die endliche glänzende Erfüllung jener keimreichen, noch immer nicht nach Gebür bewertheten Epoche der deutschen Dichtungsgeschichte sich darstellt. In den Reden der Schlegel, in den Notizen des Novalis, in den Kritiken Tiecks drängen sich Meinungen und Gesinnungen, die sich heute wie Prophezeiungen der Thaten der Gegenwärtigen ausnehmen. So ist eines der allerschönsten Bücher der deutschen Literatur, die "Hirten- und Preisgedichte", "Sagen und Sänge" und "Hängenden Gärten" von Stefan George, auch in seiner Flucht in Vergangenheiten und in's Exotische aus dem schönheitlosen Stil der Gegenwart, ein echtes und rechtes Enkelkind der älteren deutschen Romantik. Nicht anders verhält sich Hofmannsthal, und so wird es immer deutlicher, dass wir in jener an sich so unfruchtbaren älteren Bewegung trotzdem die stärkste Strömung zu verehren haben, die unsere Dichtung jemals bestimmt und erregt hat.
Jener Trieb hat in dem genannten Buche Georges seine wundervollste Frucht gezeitigt; es schenkt uns eine Renaissance der An[124]tike, des deutschen Mittelalters und des Orients, die den ähnlichen Thaten Böcklins und Klingers, Wagners und Goethes ("Westöstlicher Divan") ebenbürtig zur Seite tritt. Und immer schimmert durch die herrliche Maske das vertraute und verwandte Antlitz eines Mitlebenden hindurch. Leider ist in der in Rede stehenden Auswahl gerade dieses Werk Georges nicht vollgiltig vertreten.
*
Es könnte nun vieles über das unleugbar starke decadente Element in diesen Dichtungen gesagt werden. Zum Beispiel über die mannigfache Anlehnung an die Werke der verwandten Künste, vor allem der modernen Malerei. Wie viele Seiten im Werke Georges und Hofmannsthals verdanken solchen Anregungen ihren Ursprung; einer solchen Neigung, die bereits künstlerisch präparierte Natur zu betrachten und nachzubilden, statt die uncomponierte und unstilisierte lebendige Wirklichkeit nachzuahmen; gewiss ist diese Neigung, wenn sie vorwaltet, eine Schwäche, die nicht verdeckt werden soll. Sie ist ein rechtes Charakteristikon der Decadence, wie ein Blick auf die hochentwickelte griechische Decadence (die "zweite Sophistik") ohne weiteres lehrt. Wurde doch damals die Kunst der Gemäldebeschreibung (die beiden Philostratos!) zu einer eigenen angesehenen Gattung ausgebildet.
Im engsten Zusammenhang mit dieser Neigung ist die zumal bei Hofmannsthal bis zum Raffinement entwickelte Fähigkeit, die Natur und das Leben durch die Augen eines großen Malers anzusehen und in dessen Stile zu gestalten; eine Fähigkeit, die auch der junge Goethe, wie das achte Buch von "Dichtung und Wahrheit" erzählt, mit Freuden in sich entdeckt und ausgebildet hat. Wie manches Bild von Böcklin, wie manches Klingerblatt läßt sich aus der Dichtung Hofmannsthals loslösen!
Als decadent dürfen wir gewiss auch die Vorliebe dieser Dichtung für die kleine Form ansprechen, eine Vorliebe, die sie wieder mit ihren spätgriechischen Vorläufern theilen. Dergleichen ließe sich noch vieles sagen, doch scheint es mir wichtiger, zum Schlusse noch auf eine der vornehmsten Auszeichnungen der dichterischen Praxis dieser Gruppe aufmerksam zu machen.
Alle bildende und redende Kunst beruht mit in erster Linie auf der Auswahl,
die aus den Dingen der Wirklichkeit getroffen wird. Der Mangel dieser wichtigsten
Erkenntnis hat den Naturalismus ad absurdum geführt. Liliencron hat in
der deutschen Lyrik viel Unheil angerichtet, als er in seine Gedichte, denen
die Fülle guten Beobachtungsmaterials nicht abgeleugnet werden soll, einen
solchen trüben und breiten Schwall der Realität einströmen ließ, wie
ihn das zarte lyrische Gefäß nie fassen kann. Alle echte
Stimmungskunst beruht auf der geschmackvollen Auswahl des für den
beabsichtigten Eindruck Wesentlichen, unter Unterdrückung alles Unwesentlichen.
Unser herrliches deutsches Wort "Dichten", Verdichten, besagt alles, was in dieser
Richtung gesagt werden könnte. Versteht man das Wort nach diesem seinen
wurzelhaften Sinn, so gibt es keine geschmackvolleren "Dichter" als George und
Hofmannsthal, die schlanken und sparsamen Linien ihrer Poesien können nicht
übertroffen werden.
Sie sind Künstler, wie wir es alle sind, wenn wir uns erinnern, und wenn wir
träumen. Diese elementare dichterische Kunstübung ist jedem von uns eingeboren;
auf einer unendlich tieferen Stufe des Bewußtseins verfahren wir alle
künstlerisch. Auch unsere Träume und Erinnerungen aber geben uns nur den
vielbedeutenden Umriss und die wesentlichen Farben; und weil sie
so unsäglich wesentlicher sind als die Wirklichkeit, sind sie auch umso viel
wahrer und im höchsten Sinne poetischer als die trügerische und verwirrende
Wirklichkeit ...
Ich wiederhole es: diese beiden jungen Dichter führen uns der Erkenntnis des
großen und geheimen Wesens aller Dichtkunst wieder zu. Sie
beschreiten die Wege, auf denen unsere moderne Malerei zu vollen Kränzen und
Triumphpforten gelangt ist; die Wege, die die moderne Musik seit Wagners Tode zu
ihrem tiefsten Schaden zu verlassen begann. An uns aber ist es, jener Neuerungen
und jener Dichter würdig zu sein.
Erstdruck und Druckvorlage
Die Zeit.
Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst.
Bd. 19, 1899, Nr. 242, 20. Mai, S. 122-124.
[PDF]
Gezeichnet: Hermann Ubell.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Die Zeit online
URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=zet
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Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890-1923).
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer