Hermann Ubell

 

 

Die Blätter für die Kunst.

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Ubell
Literatur: Die Zeit
Literatur: Die Blätter für die Kunst

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Texte zur Verlaine-Rezeption
Texte zur Baudelaire-Rezeption
Texte zur Mallarmé-Rezeption
Texte zur George-Rezeption
Texte zur Theorie und Rezeption des Symbolismus
Texte zur Neuromantik-Rezeption

 

Ich weiß nicht, ob es schon je gesagt worden ist, dass die naturalistischen Absichten moderner literarischer Schöpfungen viel eher mit dem überstarken wissenschaftlichen Trieb unserer Gehirne in Zusammenhang zu setzen sind, als mit irgend einem dichterischen oder künstlerischen Hang. Die Aufgabe des reisenden Ethnologen, des Betrachters mikroskopischer Präparate, des Sternguckers und des Verfassers zoalistischer Romane war in wechselnder Erscheinung dieselbe und in der einen Formel ausgesprochen: Gut Beobachtetes in suggestiver Rede niederlegen.

Eine Art von Verdienst dieser neuen Literatur bestand ohne Zweifel darin, dass sie das literarische Interesse auch in solchen Kreisen anpflanzte, die gegenüber Werken schöngeistiger Art immer eine gewisse Feindseligkeit oder Gleichgiltigkeit bewahrt hatten; aber diese Eroberung einer großen neuen Schicht des Publicums durch die naturalistische Literatur ist zugleich für diese Literatur in ausgezeichneter Weise charakterisierend.

Leute, die geschmackvoll genug waren, um sich bei Eckstein und Lindau zu langweilen, die aber anderseits niemals jene langwierige ästhetische Zucht genossen hatten, die die Seele in den Stand setzt, die langsam einsickernde und widerstrebende Schönheit etwa eines Gedichtes von Swinburne in sich aufzunehmen, sie mußten jene Bücher begrüßen, deren beherrschende Idee ihnen von vornherein vertraut und wertvoll war.

Dass diese Idee, die dem überfütterten Erkenntnisdrang des wissenschaftlichen und schönheitfeindlichen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts entsprang und von der allzu ausschließlichen Freude am Suchen und Auffinden der Wahrheit gespeist wurde – dass diese Idee mit den großen Lebensbedingungen wirklicher Poesie gar nichts, aber schon gar nichts zu thun hat, verlohnt sich noch immer der Aussprache und nachdrücklichen Hervorhebung.

Sie ist nicht gestorben, wie es für den kurzsichtigen Beobachter wohl den Anschein haben möchte, sie taucht in neuen Verkleidungen immer wieder empor. Hat man doch vor nicht gar zu langer Zeit an die schreibenden jungen Leute in Oesterreich die Forderung des "Provinzromanes" ausgegeben, der uns zu einer verläßlichen Kenntnis des Antlitzes unserer so wundervoll verschiedenen Kronländer verhelfen soll. Ob sich Hermann Bahr, als er jene Einladung an uns ergehen ließ, auch wohl bewußt war, dass sie ganz und gar im Sinne jenes "theoretischen Menschen" ersonnen war, den zu bekämpfen er selber nicht müde wird? Denn das Bedürfnis, das er so einleuchtend formuliert und dem er durch solche beschreibende Erzählungen abgeholfen wissen möchte, ist gewiss nicht ästhetischer, sondern wissenschaftlicher Natur, und naturalistische Romane jener Art wären mit den Werken etwa unserer bedeutenden Statistiker genauer verwandt als mit irgend einem wesensechten Werke der redenden Kunst.

Ein anderes Beispiel. Eine Erneuerung der deutschen Lyrik, wie sie in der Absicht von Arno Holz liegt, bedeutet im Wesentlichen nichts anderes als die entweihende und absurde Uebertragung wissenschaftlicher Principien auf das Gebiet der Kunst. Wenn sich trotzdem unter den "Gedichten" des Berliners, der grundsätzlich die innere und äußere Form des Gedichtes seiner Gegenständlichkeit und Deutlichkeit opfert, eine ganze Reihe wunderhübscher Sachen vorfindet, so erreicht er diese Wirkung stets mit den alten, von ihm so energisch verredeten Kunstmitteln. (Wenn sich ihm zum Beispiel – unbewußt, wie es scheint – die Worte unter dem Zwang einer starken Stimmung zu rhythmischen Folgen ordnen.)

So mag es noch immer nützlich sein, daran zu erinnern, dass der naturalistische Gedanke eine jener "moderner Ideen" ist, über die der Mann, der unter den Zeitgenossen die tiefste Einsicht in das Wesen der dichtenden Kunst besaß, Friedrich Nietzsche, das fressende Wasser seines bösesten Spottes auszugießen liebte, und dass die Brücke von der "Nana" zur "Aegyptischen Königstochter" viel kürzer ist als zu einem Gedicht Stefan Georges oder zu einem der kleinen Dramen in Versen von Hugo von Hofmannsthal.

 

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Hiemit habe ich die Namen der beiden jungen Dichter genannt, die seit ein paar Jahren die Gegenbewegung gegen den deutschen Naturalismus redend und dichtend erfolgreich eingeleitet und angeführt haben. Als hervorragende lyrische Begabungen, die sie sind, verschafften sie ihren neuen Anschauungen zunächst im Kreise des deutschen Gedichtes Geltung, wo der lyrische Realismus Liliencrons und seiner Schüler alleinherrschend schaltete. Doch wer wollte den umgestaltenden und auffrischenden Einfluss verkennen, den auch die Grundsätze der beiden auszuüben beginnen, die sie ihrem Schaffen in ungebundener Rede und ihren dramatischen Gedichten unterzulegen pflegen?

Ihre ersten zartgliedrigen Versuche scheuten die rauhe Luft der Oeffentlichkeit und konnten der schützenden warmen Atmosphäre eines verständnisvollen Kreises nicht entbehren, der sich nur langsam erweiterte. Für diesen Kreis geladener Mitglieder waren die "Blätter für die Kunst" bestimmt, die, seit dem Jahre 1892 in unregelmäßen Zwischenräumen erscheinend und aufs vornehmste ausgestattet, die Dichtungen Georges, Hofmannsthals und ähnlich Gesinnter überlieferten. Den programmatischen Theil der Zeitschrift besorgte ihr Herausgeber, Herr Karl August Klein, in einer so ruhigen und gediegenen Weise, wie sie bisher unter den Deutschen noch nicht dagewesen war.

Heute steht der Ruhm dieser Bestrebungen so sicher gegründet da, dass kein stichhältiger Grund mehr ersichtlich war, die "Blätter für die Kunst" der Oeffentlichkeit vorzuenthalten. Es wurde die Herausgabe eines Sammelbandes beschlossen, der eine bezeichnende Auswahl aus den Beiträgen der Zeitschrift einem breiteren Publicum darbieten soll. In würdigem Gewand, mit einer Titelzeichnung von Melchior Lechter, ist dieser Band soeben bei Georg Bondi in Berlin herausgekommen. Ich glaube, er wird in die Geschichte unseres österreichischen Schriftthums Epoche machen; begegnen doch die Gesinnungen, die er ausspricht und documentiert, einigen unserer geheimsten Neigungen, die sich zum Beispiel bezeichnenderweise gegenüber den Forderungen des naturalistischen Bekenntnisses stets spröd und ablehnend verhalten haben.

Der Eindruck dieser Veröffentlichung wird noch verstärkt durch die erste allgemein zugängliche Ausgabe der drei Gedichtsammlungen [123] Stefan Georges. Sie lädt zur Beschreibung der dichterischen Besonderheit des großen Reformators unserer Lyrik ein; vorläufig aber soll nur einiges zur Bezeichnung der Leistung und Stimmung des Kreises im allgemeinen gesagt werden.

 

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Wenn immer häufiger die Klage laut wird, dass die Entwickelung des neueren Schriftthums in Deutschland mit der wunderbaren gegenwärtigen Erhebung der bildenden Künste nicht Schritt gehalten hätte, so wird die Nichtigkeit dieser Beschwerde sofort einleuchtend, wenn man die Thaten und Anregungen des Georgischen Kreises und ihren Wert für unsere innere Cultur einzuschätzen beginnt. Seit George und Hofmannsthal dichten, darf sich das moderne deutsche Gedicht neben den Radierungen Klingers und neben den Gemälden Ludwig von Hofmanns sehen lassen. Dies wäre längst allgemein anerkannt, wenn die poetische Cultur des Deutschen nicht um so sehr viel dürftiger und unzulänglicher wäre, als seine malerische oder gar musikalische Cultur. Es zeigt sich von Tag zu Tag überraschender, wie gerne das Publicum bereit ist, noch mit der äußersten Secession der bildenden Künste mitzugehen; von den Secessionisten der Dichtung will es noch immer nichts wissen.

Und doch bieten sich schon dem oberflächlichen Nachdenken eine ganze Reihe von Berührungspunkten der modernen Malerei mit der modernen Poesie dar. Beide suchen sich dem Wesen der Künste zu nähern; man bevorzugt zum Beispiel die derbe Art des altdeutschen Holzschnitts gegenüber der unendlich ausgebildeten und verfeinerten Weise der neu-amerikanischen Xylographie, weil jene dem Wesen des Holzschnitts unvergleichlich gemäßer ist, als diese; und es ist kein Gebiet der bildenden Kunst, das nicht durch diese herrliche, starke Strömung von Grund aus gegenwärtig umgestaltet würde. Von demselben redlichen Streben erscheinen jene jungen Künstler der Rede erfüllt. Sie haben den uralten Zusammenhang des Gedichtes mit der Musik wieder aufgedeckt, der in wirklich schöpferischen Epochen der Lyrik – von der Antike bis herauf zu den Tagen der Troubadoure und Minnesänger – nie außeracht gelassen worden war; und infolge dieser Einsicht in das ursprüngliche Lebenselement des Lyrischen haben sie gelernt und gelehrt, in erster Linie den musikalischen und den Stimmungswerten des Gedichtes Beachtung zu schenken. Eine der vornehmsten Errungenschaften unserer Malerei ist die Wirkung innerhalb des Materials und durch das Material, der Gegenstand der Darstellung kommt erst in zweiter Linie, oft aber nur als nebensächlicher Anlaß zu einer angenehmen Vereinigung von Farben in Betracht. So bemühen sich jene Künstler in Worten um die reine, bisher so schändlich vernachlässigte Wirkung des sprachlichen Materials; Wirkungen, die von den Romantikern bereits vorausgesehen waren, wie jeden die berüchtigte Uhu-Ballade Tiecks lehren kann, gegenüber welchen aber die sogenannte Lautmalerei der Epigonen plump und kindisch erscheint.

Welcher köstlichen Wirkungen begibt sich Arno Holz, der die Strophe und den Reim verschmäht, und so den farbigen, goldenen Dämmer, der nach Goethe das Wesen aller Poesie ausmacht, einer naturalistischen Deutlichkeit der Begriffe zum Opfer bringt! Wie sehr bedürfen gerade die unvergleichlichen Stimmungsmotoren, die im Rhythmus und im Klang der Reime liegen, unter den gegenwärtigen Verhältnissen in Deutschland der emsigen Pflege! Wenn für das Ohr des Verfassers des "Phantasus" unsere regulären strengen Strophen leierkastenmäßigen Klang haben, so möge er aus der Betrachtung irgend einer Strophe von George lernen, mit welcher Fülle individuellen Lebens ein großer lyrischer Dichter auch die abgebrauchtesten Formen zu bereichern weiß; ganz abgesehen davon, dass er niemals um die Bildung eines neuen rhythmischen Gefäßes für einen neuen Stimmungsinhalt verlegen ist. Durch die sorgsamste Beachtung aller in Betracht kommenden Kunstmittel bringt George Gedichte zustande, die schon vermöge ihrer phonetischen und rhythmischen Eigenschaften allein gewisse prägnante Stimmungen erzeugen und festhalten, Stolz oder Trauer, Klarheit oder Dunkel in der Seele verbreiten.

Wir verdanken ihm die Wiedergeburt einer lyrischen Kunst, die über die deutschen Vorbilder der unmittelbaren Vergangenheit – Goethe, Platen, Novalis, Hölderlin, Mörike und Conrad Ferdinand Meyer – hinaus auf die complicierte Technik der griechischen, römischen und mittelalterlichen Lyriker zurückgreift.

Unter den deutschen Zeitgenossen ist vor George und Hofmannsthal Friedrich Nietzsche bereits in den Besitz einer ähnlichen reinen lyrischen Cultur gelangt; im Ausland scheint sie zum Theile schon allgemeines Gut geworden zu sein. Dort haben Swinburne und Rossetti, Baudelaire, Verlaine und ihre Nachfolger, Gabriele d'Annunzio und andere die Reinigung durchgeführt. Ohne diese erlauchten Beispiele täglich vor Augen zu haben, wären unsere jungen Lyriker schwerlich in so kurzer Zeit so rasch vorwärts gelangt. Stefan George scheint sogar den Stil seiner ersten Periode geradezu in der Nachbildung jungfranzösischer Muster geformt zu haben. Uebrigens geben ihn seine Uebertragungen aus der französischen, englischen, italienischen, holländischen und polnischen Lyrik als den genialsten Uebersetzer zu erkennen, den wir auf diesem Felde besitzen.

Dieselbe Feinhörigkeit und Empfindlichkeit, die diese Dichter gegenüber dem musikalischen Element des Gedichtes an den Tag legen, erstrecken sie auch auf das epitheton ornans, auf die Phrase und das einzelne Wort überhaupt und auf ihre syntaktische Verbindung; überall vermeiden sie aufs behutsamste das "Cliché".

Das fremdartige Gepräge, das infolge dieser Bemühungen manche Strophen oder ganze Gedichte annehmen, erleichtert freilich dem Durchschnittsleser ihren Genuss nicht; aber ist der deutsche Durchschnittsleser von heute überhaupt geneigt oder auch nur befähigt, wirkliche Gedichte, die sich über das Niveau Uhland'scher Balladen und Heine'scher Banalitäten erheben, zu "genießen"? Er begnügt sich mit einem mühelosen "zur Kenntnis nehmen".

Aber diese Gedichte sind schwer, sie geben sich nicht ohne weiteres her, sondern sie wollen umworben und erobert werden; welche Zumuthung an uns, die wir viel eher gewillt sind an eine Schachpartie oder interessante Charade ernstliches Nachdenken zu wenden als an ein Werk der lyrischen Kunst.

Die Vorliebe dieser Dichter für die sparsame Andeutung an Stelle der breiten Ausführung, für Ahnenlassen und Halbverbergen, die sie mit den japanischen Künstlern und einigen unserer merkwürdigsten Maler theilen, macht ihre Werke auch nicht zugänglicher. Sie wendet sich an unsere Phantasie, und fordert sie zur Mitthätigkeit auf, um die Lücken zu füllen, das Dunkle zu erhellen, die Räthsel auszudeuten; sie wendet sich an den Dichter in uns. Aber eine solche Hingebung und Vertiefung ist nicht jedermanns Sache, obwohl sie zum Beispiel musikalischen Kunstwerken gegenüber bei uns als selbstverständlich erachtet wird. Dass es aber so bei uns steht, ist ein trauriges Zeichen der gegenwärtigen deutschen Cultur ...

 

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Welche Haltung nehmen diese Gedichte in anderer Beziehung ein? Was ist von ihrem jeweiligen "Inhalt" zu sagen? (Nehmen wir an, es sei erlaubt, Form und Inhalt eines Gedichtes in dieser Weise zu trennen.) Nun, sie haben sich auch hier von der Tradition der Epigonen losgesagt – von der die meisten unserer "renommiertesten modernen Lyriker", wie Hartleben, Falke, Salus, und andere sich noch immer nicht entfernt haben – und greifen auch hier wieder die immanenten Principien auf, die aller bedeutenden Lyrik der Vergangenheit innewohnen. Sie predigen nicht und sie erzählen nicht, sondern sie rufen durch rein bildliche und musikalische Mittel Stimmungen hervor, die dem modernen Leser theuer sind. Gedankenlyrik ist diesen Dichtern ein Abscheu, sofern das Gedankenhafte darin nicht im bildlichen und musikalischen Element völlig aufgeschmolzen werden kann. Thatsächlich durfte man sich bei der Gedankenlyrik der Epigonen jederzeit die Frage vorlegen, ob der Inhalt des Gedichtes in guter Prosa nicht viel reiner, ungewundener und also wirkungsvoller hätte ausgesprochen werden können; man hatte es in den meisten Fällen mit mehr oder weniger geschickt versificierter Prosa zu thun. Hofmannsthal ist unser mächtigster "Gedankenlyriker", weil er nie den abstracten Gedanken, sondern immer den Stimmungskreis festhält, der jenen umlagert und erzeugt. Sein hochtönender Chor "Manche freilich müssen unten sterben", seine "Terzinen", sein "Traum von großer Magie" (alle in dem Sammelband abgedruckt) – Gedichte, die durch die Jahrhunderte gehen werden – rühren an die tiefsten Dinge, aber immer durch ihre bildlich-musikalischen Symbole, ohne jede prosaische Directität, die zum Beispiel die Gedichte Richard Dehmels oftmals entstellt.

"Bilde Künstler, rede nicht!" Wie oft bleibt der Stimmungslyriker der Epigonenzeit wirkungslos, weil er über seine Stimmung declamirt, statt uns durch bildliche und musikalische Suggestion in die nämliche Stimmung zu versetzen. Hier mit Energie Wandel geschaffen zu haben, bleibt das außerordentliche Verdienst dieses Dichterkreises.

Auch von hier aus wird es sichtbar, dass sich unsere deutsche Romantik auf ähnlichen Wegen ähnlichen Zielen zu nähern versuchte; wie denn überhaupt diese ganze schöne Bewegung geradezu als die endliche glänzende Erfüllung jener keimreichen, noch immer nicht nach Gebür bewertheten Epoche der deutschen Dichtungsgeschichte sich darstellt. In den Reden der Schlegel, in den Notizen des Novalis, in den Kritiken Tiecks drängen sich Meinungen und Gesinnungen, die sich heute wie Prophezeiungen der Thaten der Gegenwärtigen ausnehmen. So ist eines der allerschönsten Bücher der deutschen Literatur, die "Hirten- und Preisgedichte", "Sagen und Sänge" und "Hängenden Gärten" von Stefan George, auch in seiner Flucht in Vergangenheiten und in's Exotische aus dem schönheitlosen Stil der Gegenwart, ein echtes und rechtes Enkelkind der älteren deutschen Romantik. Nicht anders verhält sich Hofmannsthal, und so wird es immer deutlicher, dass wir in jener an sich so unfruchtbaren älteren Bewegung trotzdem die stärkste Strömung zu verehren haben, die unsere Dichtung jemals bestimmt und erregt hat.

Jener Trieb hat in dem genannten Buche Georges seine wundervollste Frucht gezeitigt; es schenkt uns eine Renaissance der An[124]tike, des deutschen Mittelalters und des Orients, die den ähnlichen Thaten Böcklins und Klingers, Wagners und Goethes ("Westöstlicher Divan") ebenbürtig zur Seite tritt. Und immer schimmert durch die herrliche Maske das vertraute und verwandte Antlitz eines Mitlebenden hindurch. Leider ist in der in Rede stehenden Auswahl gerade dieses Werk Georges nicht vollgiltig vertreten.

 

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Es könnte nun vieles über das unleugbar starke decadente Element in diesen Dichtungen gesagt werden. Zum Beispiel über die mannigfache Anlehnung an die Werke der verwandten Künste, vor allem der modernen Malerei. Wie viele Seiten im Werke Georges und Hofmannsthals verdanken solchen Anregungen ihren Ursprung; einer solchen Neigung, die bereits künstlerisch präparierte Natur zu betrachten und nachzubilden, statt die uncomponierte und unstilisierte lebendige Wirklichkeit nachzuahmen; gewiss ist diese Neigung, wenn sie vorwaltet, eine Schwäche, die nicht verdeckt werden soll. Sie ist ein rechtes Charakteristikon der Decadence, wie ein Blick auf die hochentwickelte griechische Decadence (die "zweite Sophistik") ohne weiteres lehrt. Wurde doch damals die Kunst der Gemäldebeschreibung (die beiden Philostratos!) zu einer eigenen angesehenen Gattung ausgebildet.

Im engsten Zusammenhang mit dieser Neigung ist die zumal bei Hofmannsthal bis zum Raffinement entwickelte Fähigkeit, die Natur und das Leben durch die Augen eines großen Malers anzusehen und in dessen Stile zu gestalten; eine Fähigkeit, die auch der junge Goethe, wie das achte Buch von "Dichtung und Wahrheit" erzählt, mit Freuden in sich entdeckt und ausgebildet hat. Wie manches Bild von Böcklin, wie manches Klingerblatt läßt sich aus der Dichtung Hofmannsthals loslösen!

Als decadent dürfen wir gewiss auch die Vorliebe dieser Dichtung für die kleine Form ansprechen, eine Vorliebe, die sie wieder mit ihren spätgriechischen Vorläufern theilen. Dergleichen ließe sich noch vieles sagen, doch scheint es mir wichtiger, zum Schlusse noch auf eine der vornehmsten Auszeichnungen der dichterischen Praxis dieser Gruppe aufmerksam zu machen.

Alle bildende und redende Kunst beruht mit in erster Linie auf der Auswahl, die aus den Dingen der Wirklichkeit getroffen wird. Der Mangel dieser wichtigsten Erkenntnis hat den Naturalismus ad absurdum geführt. Liliencron hat in der deutschen Lyrik viel Unheil angerichtet, als er in seine Gedichte, denen die Fülle guten Beobachtungsmaterials nicht abgeleugnet werden soll, einen solchen trüben und breiten Schwall der Realität einströmen ließ, wie ihn das zarte lyrische Gefäß nie fassen kann. Alle echte Stimmungskunst beruht auf der geschmackvollen Auswahl des für den beabsichtigten Eindruck Wesentlichen, unter Unterdrückung alles Unwesentlichen. Unser herrliches deutsches Wort "Dichten", Verdichten, besagt alles, was in dieser Richtung gesagt werden könnte. Versteht man das Wort nach diesem seinen wurzelhaften Sinn, so gibt es keine geschmackvolleren "Dichter" als George und Hofmannsthal, die schlanken und sparsamen Linien ihrer Poesien können nicht übertroffen werden.

Sie sind Künstler, wie wir es alle sind, wenn wir uns erinnern, und wenn wir träumen. Diese elementare dichterische Kunstübung ist jedem von uns eingeboren; auf einer unendlich tieferen Stufe des Bewußtseins verfahren wir alle künstlerisch. Auch unsere Träume und Erinnerungen aber geben uns nur den vielbedeutenden Umriss und die wesentlichen Farben; und weil sie so unsäglich wesentlicher sind als die Wirklichkeit, sind sie auch umso viel wahrer und im höchsten Sinne poetischer als die trügerische und verwirrende Wirklichkeit ...

Ich wiederhole es: diese beiden jungen Dichter führen uns der Erkenntnis des großen und geheimen Wesens aller Dichtkunst wieder zu. Sie beschreiten die Wege, auf denen unsere moderne Malerei zu vollen Kränzen und Triumphpforten gelangt ist; die Wege, die die moderne Musik seit Wagners Tode zu ihrem tiefsten Schaden zu verlassen begann. An uns aber ist es, jener Neuerungen und jener Dichter würdig zu sein.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Die Zeit.
Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst.
Bd. 19, 1899, Nr. 242, 20. Mai, S. 122-124. [PDF]

Gezeichnet: Hermann Ubell.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Die Zeit   online
URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=zet

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

 

Literatur: Ubell

Aurnhammer, Achim u.a. (Hrsg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. 2. Berlin u.a. 2012.

Benne, Christian / Zittel, Claus (Hrsg.): Nietzsche und die Lyrik. Ein Kompendium. Stuttgart 2018.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Desmarais, Jane / Weir, David (Hrsg.): The Oxford Handbook of Decadence. Oxford 2022.

Durkin, Rachael (Hrsg.): The Routledge Companion to Music and Modern Literature. London u. New York 2022.

Prokisch, Bernhard: Ubell, Hermann Eugen. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950. Bd. 15 (2018), S. 35-36.
URL: https://www.biographien.ac.at/oebl_15/35.pdf
URL: https://www.biographien.ac.at/oebl_15/36.pdf

Schuhmann, Klaus: Lyrik des 20. Jahrhunderts. Materialien zu einer Poetik. Reinbek bei Hamburg 1995 (= rowohlts enzyklopädie, 550).

 

 

Literatur: Die Zeit

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Ifkovits, Kurt: Tschechische Kultur im Dienste Österreichs? Anmerkungen zu den Wochenschriften Die Zeit und Der Friede. In: Zeitschriften als Knotenpunkte der Moderne/n. Prag - Brünn - Wien. Hrsg. von Marek Nekula. Heidelberg 2019, S. 111-126.

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Kostrbová, Lucie u.a.: Die Wiener Wochenschrift Die Zeit (1894 - 1904) als Mittler zwischen der Tschechischen und Wiener Moderne. Prag 2011.

Merhautová, Lucie / Ifkovits, Kurt (Hrsg.): Die Zeit (1894-1904) und die zentraleuropäische Moderne. Studien – Dokumente. Prag 2013.

Moser, Lottelis / Zand, Helene: Die 'Zeit', ein 'Wiener Posten der guten Europäer'? In: Pluralität. Eine interdisziplinäre Annäherung. Festschrift für Moritz Csáky. Hrsg. von Gotthart Wunberg u.a. Wien 1996, S. 247–257.

Wunberg, Gotthart (Hrsg.): Das Junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887 – 1902. Bd. 2. Tübingen 1976, S. 1227-1228 (Verzeichnis Beiträge).

 

 

Literatur: Blätter für die Kunst

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Dimpfl, Monika: Die Zeitschriften "Der Kunstwart", "Freie Bühne / Neue deutsche Rundschau" und "Blätter für die Kunst": Organisation literarischer Öffentlichkeit um 1900. In: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Hrsg. im Auftrag der Münchener Forschergruppe "Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770 – 1900" von Monika Dimpfl und Georg Jäger. Teil II. Tübingen 1990 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 28), S. 116-197.

Fechner, Jörg-Ulrich (Hrsg.): "L' âpre gloire du silence" ... Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der Blätter für die Kunst 1890 – 1898. Heidelberg 1998 (= Germanisch-Romanische Monatsschrift; Beiheft, 11).

Gretz, Daniela: "die reine farben- formen- und linienfreude". Zur Vision einer 'reinen Formkunst' in den ornamentalen Konstellationen der Blätter für die Kunst. In: Formästhetiken und Formen der Literatur. Materialität - Ornament - Codierung. Hrsg. von Torsten Hahn u. Nicolas Pethes. Bielefeld 2020, S. 229-255.

Kluncker, Karlhans: Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges. Frankfurt a.M. 1974 (= Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, 24).

Kolk, Rainer: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890 - 1945. Tübingen 1998.

Lehnen, Ludwig (Hrsg./Übers.): Feuilles pour l'art, 1892-1919. Et autres textes du cercle de George. Paris 2012.

Martus, Steffen: Geschichte der Blätter für die Kunst. In: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hrsg. von Achim Aurnhammer u.a. Band 1. Berlin u. Boston 2012, S. 301–364.

Merklin, Franziska: Die Blätter für die Kunst in der deutschen Literaturkritik. In: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hrsg. von Achim Aurnhammer u.a. Band 2. Berlin u. Boston 2012, S. 962-976.

Merklin, Franziska: Stefan Georges moderne Klassik. Die "Blätter für die Kunst" und die Erneuerung des Dramas. Würzburg 2014 (= Klassische Moderne, 24).

Oelmann, Ute (Hrsg.): "Von Kultur und Göttern reden". Aus dem Nachlass. Ergänzungen zu Georges "Sämtlichen Werken". Stuttgart 2018.
Anhang: Einleitungen und Nachrichten aus den Blättern für die Kunst.

Zanucchi, Mario: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890-1923). Berlin/Boston 2016 (= spectrum Literaturwissenschaft/spectrum Literature, 52).

 

 

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Lyriktheorie » R. Brandmeyer