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Literatur: Moeller-Bruck
Literatur: Nord und Süd
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Texte zur George-Rezeption
[162] In der Anschauung zeitgenössischer Dichtung vollzieht sich allmählich
ein Wandel. Vielleicht läßt sich sein Wesen dahin definiren,
daß man sagt: Die Menschen von heute, soweit sie Culturempfinden
und eine gewisse künstlerische Gefühlsintelligenz besitzen, fangen
mehr und mehr an, ihre Gegenwart historisch zu nehmen; schon haben sie
die bedeutungsvolle Frage stellen gelernt:
was ist nur Ausdruck der Gegenwart?
und was wächst als großes ewiges Gebilde organisch in die
werdenden Zeiten? Nicht um ihnen den armen äußeren Kram des
Alltags und die zahllosen, vergänglichen Ziele seiner Tendenzen zu
übermitteln, sondern um den symptomatischen Nerv bloßzulegen,
der die letzten Zusammenhänge aller culturellen Gegenwartsentwicklung
durchzittert und ihr der Zukunft ewige Wiedergeburt wirkt. Daß
sie den Längsschnitt, nicht den Querschnitt der Zeit gebe, das ist die
eine große Forderung, die man an alle Dichtung machen muß;
und die sie stellen, die wissen auch sehr wohl, daß solche Kunst
niemals in eine ganze Bewegung verkörpert dahinwandeln wird. Der
Einzelne mag wohl mit ihr gehen, aber der Einzige, der dereinstige Glaube
und die dereinstige Liebe noch ungesäter Geschlechter, wird sich
zeitig von ihr lösen, um alle Keime in sich aufzunehmen und fruchten
zu lassen, die da entwicklungsstark vom Heute zum Morgen drängen.
Gewiß ist dieses Ringen um Mächte, die in erst eben sich
hellendem Dunkel liegen, ein unerhört schmerzhafter Kampf. Aber ein ganzes
Evangelium birgt sich dahinter und ein starker Glaube an die Bestimmung
des genialen Individuums zum Erzieher der Menschheit, die wie ein Kind
in das kommende unabwendbare Leben geleitet werden muß.
[163] Einer von den so sehr Wenigen nun, an die sich heute schon die Zuversicht knüpfen darf, daß die Litteraturgeschichte der Zukunft ihre Namen mit unserer Gegenwart in einer Weise identificiren wird, die mehr als Eintagsbewerthung ist, scheint der Lyriker Richard Dehmel. Ihm war es vergönnt, jene weiten Culturperspektiven zu schauen, in sich aufzunehmen und künstlerisch wieder zurückzugeben, in denen, wie ich sagte, die Grundbedingung einer litterarischen Nichtvergänglichkeit liegt. Das Wort, das er einst Max Klinger zugeeignet hat, gilt auch von ihm selbst:
"Du hast uns mehr als Leben,
du hast uns aus dem Geist,
der das Leben speist,
eine Welt gegeben."
Ich glaube kürzer und plastischer kann von einem Standpunkte aus, der nicht mehr der der alten schulmeisterlichen Aesthetik ist, jenes Höchste in den Künsten kaum formuliert werden. Es ist nicht das einzige Mal, daß sich Dehmel geradezu kritisch verdient gemacht hat: oft schon gelang es ihm, irgend einen Gefühlskomplex in den Rahmen einer prägnanten neuen Wendung zu bringen; eine ganze Reihe werthvoller Beispiele könnte man dafür anführen, daß ihm das Wesen überkommener Werthungen, mochten sie nun in der Sphäre des Intellects oder des Gefühls liegen, nicht mehr genügte. Und mochten sie auch noch so lange unangetast zu Recht bestanden haben: mit kritischer Unbarmherzigkeit verfolgte er ihre seitherigen Entwicklungen zurück, suchte die Gesetze dieser Entwicklungen zu finden und aus ihnen heraus die Formationen zu construiren, die die betreffenden Gehirn- und Empfindungswerthe in der Zukunft annehmen müssen. Die innere Nothwendigkeit und Einheitlichkeit dieser Art, die Dinge evolutionär, nicht revolutionär anzusehen, bedeutet die ganze Modernität Dehmels – wenigstens wenn man seine litterarische Erscheinung eben daraufhin ansieht, ob sie Cultur repräsentirt oder nicht. Und er verdankt diesen Contact mit der Zeitströmung seiner eigenen, nie erschöpften Entwicklungsfähigkeit, der es ganz unmöglich ist, nach einem Kunst gewordenen Lebensresultate lässiger Ruhe zu pflegen und die unbedingten weiteren Consequenzen Fremden zu überlassen. Zu jenen Glücklichen zählt dieser Dichter, in denen die Kraft ist, bei allen jähen Ueberraschungen doch eine beständige Ergänzung bieten zu können und ein nie beschlossenes letztes Ausgestalten der Instincte, die von Anbeginn triebsicher in ihnen ruhten. Es ist die gleiche dunkle Kraft, die die Menschheit weitertreibt und aus jedem scheinbaren Ende wieder einen sichtbaren Anfang formt, die auch Dehmels Wesen von Phase zu Phase bildet und so seiner Individualität in ihrer Ganzheit die organische Logik giebt. Daher kommt es, daß bei ihm jeder Abschluß, jede Erfüllung zugleich wieder ein neues Versprechen, einen neuen Ausblick faßt, und umgekehrt! Reife ist das Zeichen, unter dem einst die frühe Wildheit seiner Jugend stand und jetzt die Stärke seiner vollen Männlichkeit steht: Reife wird auch wohl sein Alter vor jener morschen [164] Greisenhaftigkeit bewahren, die so oft in schwächeren Naturen alles das verneinen möchte, was ihre Entwicklung bis dahin gelebt hat. Denn Dehmel ‐ es ist eigentlich überflüssig, das noch zu betonen, – Dehmel gehört nicht zu jenen drängenden Stürmern, die nur in der ersten überströmenden Kraft ihrer intellectuellen Pubertätsjahre verschwenderisch fruchtbare Samenkörner streuen, Samenkörner, deren tragischer Werth es ist, daß sie erst in der Psyche Anderer, Nachkommender aufgehen und Blüthen treiben können.
Das Alles hat Dehmel bisher noch mit jeder neuen Veröffentlichung – und zwar immer nachdrücklicher – bewiesen; und besonders augenfällig gerade im vergangenen Jahre, in dem er sein erstes Gedichtbuch, die "Erlösungen", zum zweiten Male und zwar, wie audrücklich bemerkt steht, durchweg verändert, gesichtet und um die jüngsten Schöpfungen vermehrt, herausgegeben hat: das ganze Bild der Entwicklung, die sein Schaffen im Stofflichen wie im Formlichen genommen, rollt sich auf und zeigt das heiße Bemühen, unter dem er langsam das Eine wie das Andere dadurch überwand, daß ihm ihr innerer Ausgleich gelang. Dieser Ausgleich aber bedeutet immer die menschenmöglichste Vollendung in der Kunst. Und zugleich ihren einzigen kritischen Werthmesser, an dem man Wesen und Werth der ihn erwirkenden Proportionen analysirend lesen kann.
Zunächst also das Stoffliche!
Man muß das so überaus Persönliche daran wohl so deuten, daß man analog dem, was über die Entwicklungspotenzen Dehmels schon bemerkt wurde, sagt: es ist dem Dichter allmählich gelungen, dem Inhalte seiner Dichtungen, der ja auch der seines Lebens sein muß, in rastlos forschender Selbstdurchwühlung die Beweise zu finden. Nicht dadurch suchte er sich zu bereichern, daß er sprunghaft und planlos in ihm durchaus fremden Gebieten nach heimlichen Schätzen suchend ging. . . Sein Streben kannte vielmehr von Anbeginn nur das eine lockende Ziel: Alles, was unklar und dunkel in ihm rang, dem Bewußtsein zu gewinnen und aus diesem Bewußtgewordenen die neuen und nur einer stark gelebten Erfahrung möglichen Consequenzen zu ziehen – und zwar unbekümmert darum, ob sie vielleicht wieder in ein neues "Unbewußtes" mündeten oder nicht. So kommt es, daß man Alles, was man dem jungen Dehmel vielleicht noch anzweifeln durfte, jetzt von dem Manne bestätigt sieht; vielleicht weil man von dem Ersteren überhaupt nur ein unbestimmtes Wollen verlangen konnte, von dem Letzteren aber unter allen Umständen ein ganz bestimmtes Können fordern muß. Will man das noch im Besonderen bewiesen sehen, so vergleiche man in den "Erlösungen" nur einmal die beiden Dichtungen, in denen sein Auffassungsglaube von Erde und Welt zuerst, resp. zustärkst einen umfassenden Ausdruck gefunden; ich meine die alte ethische Cantate "Vollendung" und die neue "Lebensmesse", eine Dichtung für Musik. In Beiden leben ganz ähnliche Urwerthe – aber was früher nur ein dunkles Ahnen war, ist heute zur gewissen Anschauung ausgewachsen. Es rechtfertigte [165] die Zeit eben concret, was die noch unsicher tastende Vergangenheit einst schon abstract vorweggenommen; oder mit speciellerem Bezug auf das Thema der beiden Dichtungen: aus allzumenschlich wirrer Unklarheit über den Kosmos wurde im Wandel des Reiferwerdens eine zweifelfreie <pantheistische> Klarheit, in der alle Auffassungsweiten und alle Auffassungstiefen in einen einzigen, immer weitere Kreise ziehenden Erkenntnißtrieb gedrängt waren; das so außerordentlich Zeitgemäße und für unsere Epoche des beginnenden Individualismus Charakteristische an ihm aber ist, das man aus jeder geringsten Nüance herauslesen kann, wie der Dichter, der Seher in dem Künstler Dehmel die ganze Welt nur noch im Spiegelbilde seiner Erde und im weiteren seines eigenen Ich, nicht umgekehrt! erblicken will.
Um nun verstehen zu können, wie gerade auch Dehmel zu diesem Auffassungsstandpunkte kam, muß man die Stadien zurückverfolgen, die den Entwicklungsweg bezeichnen, auf dem er zu ihm gelangte; man wird da mit Nothwendigkeit zu seinem dichterischen Ausgangspunkt überhaupt kommen. Der aber setzt da ein, wo sein menschliches Lebensverlangen zu stark wurde, um sich noch menschlich befriedigen zu können, und liegt, wie bei allen Dichtern von Betracht, durchaus im Geschlechtlichen.
"In allen Tiefen
mußt Du Dich prüfen,
zu Deinen Zielen
dich klarzufühlen;
aber die Liebe
ist das Trübe,"
hat Dehmel seinem zweiten und stärksten Gedichtbande vor Jahren
vorgeschrieben. – Sie ist das "Trübe", weil sie diese
unendliche Macht übt, an der sich die Kraft und der Wille
auch des Stärksten, und gerade des Stärksten bricht, der außer ihr
Nichts kennt, das nicht überwunden werden könnte. Alles Gehirnliche,
das sonst in Sphären führen darf, die über dem Irdischen sind,
vernichtet sie unbarmherzig, wenn es in ihre heißen Kreise
geräth. An das Thier im Menschen erinnert sie uns und zerstört so
all die großen Wünsche, die sich kühn vermessen, wie Gott
zu sein und Göttliches zu wirken. – Aber diese Liebe ist auch
das Klare, weil sie unter Umständen einen Standpunkt vermittelt,
der gerade wieder den Unterschied vom Thiere lehren muß.
Denn in ihr dürfen wir ja Etwas von der chaotischen Urmacht fühlen,
aus der heraus diese ganze Schöpfung entstand, deren entwickeltste
Geschöpfe wir sind. Die einzigen Secunden verdanken wir ihr ja,
in denen wir, jenseits von allem verstehenden Bewußtsein,
rein psychisch wach sind und uns selbst als Schöpfer, als einen Ausstrom
jener großen Kraft fühlen, aus der Alles ward. Es sind die einzigen
Secunden, in denen wir nur unseren Instincten, nur individuell,
im allerwörtlichsten Sinne, leben; und zwar aus Instinct, aus
Individualität. So läßt uns dieses Trübe und dieses Klare allein den Gott schauen
schauen, an den wir
[166] noch glauben können: den Gott der Ewigkeit in uns – den Gott der
ewigen Gegenwart und deren ewiger Wiedergeburt.
Dieses Thema hat Dehmel in seinem Gedichtcyklus "Die Verwandlungen der Venus" mit einer Macht ergriffen, die in der gesammten lyrischen Dichtung unserer Zeit noch kein Anderer auf einen Stoff geübt hat. Und von allen modernen Künstlern überhaupt war es höchstens dem unlängst verstorbenen Felicien Rops gegeben, Aehnliches ähnlich zu gestalten. Wie dieser schaut Dehmel den weiten Kosmos und das ganze Leben, der Menschheit Beziehungen und des Einzelnen innersten Daseinstrieb auf das Geschlecht hin an. Aber wenn der Franzose nur das Negativ, die ewig hungernde Sucht und deren grausames Verhängniß kennt und jedem Verlangen der Menschenpsyche aus einem sehr modernen oberflächlichen Pessimismus heraus von vornherein die Erfüllbarkeit nimmt, so findet der Deutsche faustisch suchend, qualvoll grübelnd, jene eine Note, von der ich schon verschiedentlich andeutete, daß sie in der psychologischen Persönlichkeit Dehmels das allerwesentlichste Moment sei: er gewinnt nämlich das ausgleichende Positiv und giebt dem, was der anderen Anschauungswelt Zweck ist, die Bedeutung nur des Mittels. Wohl weiß er wie kein Anderer von dem schweren Zwang dieses Schicksals, dem in der Schöpfung Alles unterthan – aber der leichte, lebensfreudige Optimismus seines Willens zum Dasein fühlt auch tief, daß er wie jedes Lebewesen diesem Zwange danken muß: danken wie ein Kind den Eltern, ohne die es Nichts wäre, als ein todter wertharmer Keim. Darum besser: unter dieser Herrschaft, mit ihr, sie selbst ausübend sein, sie in sich und sich in ihr fühlen, als überhaupt nicht sein und nicht fühlen. Nur dadurch, daß er sich völlig mit ihr identificirt, wird er, wenn er es überhaupt vermag, über sie hinauswachsen können. Und mit ihm die Menschheit! In dieser Anschauung der Urverhältnisse unserer Geschlechter liegt eine Culturnaivität, die man nur dem glauben kann, der, wie eben Dehmel, die sichere Empfindung hat, nicht in der Zeit eines Niederganges, sondern einer aufwärtssteigenden Entwicklung und des Beginnes einer culturellen Neugeburt, einer Renaissancezeit zu leben – wie sie die Geschichte der Menschheit in größeren oder kleineren Abständen ja immer wieder zu verzeichnen hat. Geschehen aber kann sie nur eben dann, wenn die betreffende, Anstoß gebende Generation die natürlichste Klarheit über die Erscheinungen gewinnt, d. h. auf die Natur der Erscheinungen zurückgeht und in sich wieder Etwas von jenem Chaos, jenem ersten Entwickler allen Seins fühlen lernt. Aus dieser Erkenntnis strömt dann die Kraft hervor, die den Willen zum Neuen schafft und sich nicht mehr mechanisch vom Dasein leiten läßt, sondern dessen Ausgestaltung wirkt. Für Dehmel war diese Erkenntnis des Geschlechtlichen und seiner weitesten und tiefsten Beziehungen das Bad, aus dem er zum starken Gefühle seines Ich und der Aufgabe, die diesem Ich zu lösen beschieden war, gekräftigt erstand. Seinen Culturberuf hatte er gelernt und hatte erfahren, wie er ihm gewachsen sein könnte. In dem "Gebet der [167] Sättigung", das den ganzen Venuscyklus, diese von unendlicher Phantasie zeugende Variirung des eines Themas, beschließt, heißt eine sehr bezeichnende Stelle:
Nach der Nacht der blinden Süchte
seh ich nun mit klaren bloßen
Augen meine Willensfrüchte:
denn ich bin wie jene großen
Tagsraubvögel, die zum Fliegen
sich nur schwer vom Boden heben,
aber, wenn sie aufgestiegen,
frei und leicht und sicher schweben.
Mit diesem Gefühl eines Willensbewußtseins wandelt sich das Menschenthier zum Gottmenschen – zu jenem Individuum, das zu allen Zeiten und bei allen Völkern gelebt und diese Zeiten und Völker stark und groß gemacht hat, und das nur heute, in den Tagen einer klar erkannten individualistischen Weltanschauung, zum phantastischen Uebermenschen auswuchs.
Dehmel that in der Erkenntnis dieses Individuums den seither weitesten Schritt, indem er ihm alles Utopische nahm und dafür den natürlichen schweren Mutterboden der Zeit gab. Wie über Schopenhauer, der noch mißtrauend abseits und neben dem Leben stand, schon Nietzsche dadurch herauswuchs, daß er sich mißachtend und nur sich selbst trauend darüber stellte, so kämpfte sich Dehmel von diesem Letzteren wieder los, kehrte mit und trotz den Erkenntnissen der beiden in das Leben zurück und wagte den Versuch, diesseits und jenseits zugleich zu stehen. Das Geschlechtliche war es, das ihm den Werth des Augenblickes und der Gegenwart unentrinnbare Macht gelehrt und ihn sehr nachdrücklich unterwiesen hatte, daß alles Vergangene und alles Zukünftige nur in diesem einen Spiegel von Bedeutung sei. Denn des Menschendaseins großer Zweck war ihm ja damit offenbar geworden: das bewußte Genießen des individuellen Lebens intensiver auszugestalten und in immer größere Formen zu bringen. Gerade: weil das Wissen um alle Vergänglichkeit so fraglos, so schmerzhaft fraglos geworden und die schönen Träume einer bewußten Ewigkeit, die Jahrtausende die Menschheit getröstet hatten, in das Nichts zeronnen waren! Denn an die Stelle war ja nun der Gedanke einer ewigen Gegenwart getreten – für alle Zeitgemäßen wenigstens, in denen das Gefühl der organischen Zusammengehörigkeit aller einzelnen Schöpfungstheile und Zeiten, das Gefühl der großen Selbstverständlichkeit alles Seins wachgeworden und die nur Vergehen und Werden, Tod und Leben, Schmerz und Glück, Gut und Böse fortwährend als Einklang empfinden. Und dieser "Einklang" wurde das neue Maß der Dinge und der die Dinge erwirkenden Menschen; jeder muß es finden, dem dieses Gefühl, eins zu sein mit der Natur, auch wirklich bewußte, Hirn und Neven gleichermaßen durchdringende Empfindung geworden ist. Und dahin führt ja so Vieles in unserer Zeit: Darwin, die neue Descendenzlehre u. s. w. Aus der Wesenehit alles dessen, an das da zu denken ist, die weiteren Schlüsse zu ziehen, diese vor Allem auf die anderen ferneren Gebiete umzusetzen, das [168] ist die große Aufgabe, die alle die in ihrer Weise lösen müssen, die da gelernt haben, daß der Mensch, "dieses heiße Pfündchen Fleisch", wie ein anderer moderner Lyriker, Alfred Mombert, einmal sagt, nichts weiter ist, als ein armes Stück bewußt gewordener Natur. Sein Werth ist nichtig, wenn dieser Mensch sich von der Erkenntniß seiner vergänglichen Kleinheit niederdrücken läßt – aber er wird groß, riesengroß, wenn es gerade diese Erkenntniß ist, die ein Individualitätsgefühl zur Folge hat. Bei Nietzsche wollte dieses sogar noch über sich hinaus. Bei Dehmel will es wieder zu sich zurück, um sich als Mittelpunkt der Welt, als Mittelpunkt aller Erscheinungen zu fühlen, sich an den "Anderen" und diese Anderen an sich zu bemessen. Irgend eine moralische Bewerthung war schon vorher ausgeschlossen, aber ihre Negation wurde jetzt noch dadurch gestärkt, daß Dehmel sich auch nicht mehr mit der Bewerthung "stark" und "schwach" begnügte, die das alte "gut" und "böse" ersetzen sollte. Nur noch als Thatsachen und in ihrer Wirkung sollten die Erscheinungen genommen werden – und die Gesammterscheinungen in der Einheit ihrer Gesammtwirkungen. Gott müssen wir gerade so wie den Teufel in uns überwinden, das ist Dehmels Lehre . . . und wir können es, wenn wir es gelernt haben, Beides zu sein!
Der Kampf um diese Anschauungswelt war das Dichten der Jugend Dehmels – ihre künstlerische Verkündigung ist die Aufgabe seiner Mannheit, die er jetzt in der erwähnten "Lebensmesse" dadurch am machtvollsten löste, daß er ihr das machtvollste Symbol fand. Ich meine, daß er den Typus schuf, der ihr Träger ist: den Menschen, der dem Schicksal gewachsen ist," um die Formel anzuwenden, in die ihn Dehmel gebracht hat. Oder psychologisch definirt: den Menschen, dem diese Art der Anschauung alles Seins so sehr zur natürlichen Empfindungswelt geworden ist, daß er sich nur noch als individuelles Stück von ihm fühlen kann. So sehr ist er mit der ihn umgebenden cultivirten Natur verwachsen, daß er nicht mehr über, nicht mehr unter ihrer Macht stehen, vielmehr selbst Wille zu ihrer Macht sein will! d. h. sich als Leben, als lebendige Gegenwart fühlen, und nicht vor dem Dasein verzagen, das zum Positiven, wie zum Negativen nun doch einmal sein Schicksal ist.
Von diesem Gesetz, dem die Generationen aller großen Zeiten mehr oder weniger unbewußt gehorchten, redet in dieser "Lebensmesse" die Erfahrung der Greise, der Glaube der Väter und die Hoffnung der Mütter. Seine ewige Währung aber preist der Kinder zukunftenthüllendes Ahnen. Und der "Held", dieser aller Sinn, deutet die Thaten seines Lebens, die die der Menschheit sind, also nach ihm:
"Ich hatte Freunde, ich gab Gelage,
und manches Weib war mir zu Sinn;
aber an einem Sommertage
zeigte sich mit einem Schlage
wozu ich gewachsen bin.
[169] Das Spiel der Hörner und der Geigen
verstummte plötzlich wüst und irr:
mitten durch den Erntereigen
kam ein fortgeriss'ner Stier.
Und da riß mich mein Herz vom Platze,
und man griff nach mir vor Schreck,
aber mit einem Satze
schlug ich dem Freund in die Fratze,
stieß ich das Weibsbild weg!
Und jetzt reit' ich von Sieg zu Siege
bahnfrei auf meinem Stier dahin,
bis ich dem Schicksal erliege,
dem ich gewachsen bin."
Und alle "Großen" des Erdengeschlechtes, die da die Heldenwerke der Menschheit schaffend vollendeten und zu einem Ausbau, ewig reich für unsere armen begrenzten Begriffe, führten – sie fragen dieser Menschheit Seele in erkennender Weisheit:
Warum suchen wir Dich,
die Du in uns bist? – –"
Dehmel will mit diesem aller großen starken Cultur sinnbildlichen Menschen seiner Gegenwart und Mitwelt ins Zeitgewissen reden, will ihr eine Perspective eröffnen, in deren Gründe die frohen Tage des Hellas und des italienischen Mittelalters in lockender Erinnerung auferstehen. Denn er hat selbst den sicheren Glauben, daß all die Schwächen unserer letztvergangenen Epoche schon in ihrem Wesen überwunden sind, daß sich jetzt eine Zeit vorbereitet, in der Leben und Menschheit wieder ein proportionales Ganzes bilden können. Und er darf diesen Glauben haben, weil er, der Dichter, dieser denkende Seher und Prophet werdender Zeiten, für seine Person jene innere Klarheit über die Gründe bereits gewann, die das Dasein in diesem Sinne zur Renaissance wieder gebären müssen. Das Erzieherische an ihm aber geht dahin: allen verwandten Naturen die ungeschriebenen Gesetzestafeln neuer Ethik und Aesthetik zu zeigen und sie zwischen den Zeilen die Rückblicke und die Ausblicke lesen zu lehren, die der modernen Zeit den Stil geben.
Was dem Dichter nun diese Aufgabe künstlerisch ermöglicht, was ihn zu ihr erst berechtigt und ihn selbst thatsächlich zum Culturfactor werden läßt, das ist jenes zweite Moment, das bei der Beurtheilung seiner – wie jeder – starken Persönlichkeit noch in Frage kommt:
Seine Form!
Ohne sie wäre Dehmel Nichts . . . vielleicht ein Theoretiker, ein Phantast unsicherer Träume, der mit Rednertalent zu sagen versuchte, was er seiner Zeit zu sagen hätte. Aber gewiß kein Dichter in dem reinen Sinne dieses hohen Wortes! Dazu macht ihn erst das künstlerische Ausdrucksmittel, das seine Individualität sich gefunden, und das ihn so befähigte, Alles, was er an Subjectivem geben mußte, zu objectiviren, es [170] subjectiv seiner Mitwelt aufzudringen und sich selbst organisch in ihren Entwicklungsgang einzureihen, indem er ihr eben durch sich und mit sich ihren neuen lyrischen Kunststil schuf. Der aber muß, wie jeder Kunststil einer Zeit, nach denselben Gesetzen gebildet sein, nach denen der entsprechende Culturstil erstand. Denn was sich in beiden offenbart, ist ja nur der besondere Rhythmus des Lebens, wie er sich in einer Epoche unter den Einwirkungen aller Großen, gleichgültig ob Künstlern oder Nichtkünstlern, zu langsamerem oder schnellerem Tempo entwickelt. Daher versucht denn auch Dehmel nicht, wie es Arno Holz, der kritische Begründer der neueren deutschen Dichtung, etwa möchte, die Kunst mit bewußter Absicht dadurch zu revolutioniren, daß er ihre Mittel ganz schematisch revolutionirt; vielmehr finden sich ihm diese "neuen" Mittel einfach und naiv wie aus einer Selbstverständlichkeit heraus, weil der "neue" Inhalt in ihm so übermächtig stark ist – jene besondere Art der Lebensanschauung, von der zuvor die Rede war, und die Fähigkeit, alle Eigenthümlichkeiten unserer Tage in ihrer inneren Einheit zu nehmen. Dehmels Form steht denn auch niemals in einem Gegensatze zum Stoff, sondern ist stets die Auflösung aller Gegensätze desselben in eine Harmonie. Dazu mußte er ganz nothwendig das seitherige Kunstprincip der Modernen, die analysirende Auflösung selbst des Details in Nüancen, in das gerade Gegentheil wandeln. Alles wurde bei ihm zur Synthese – und zwar zur Synthese von Analysen, von Nüancen, die aber als solche durchaus nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zur Erschöpfung des Stoffes, nur Mittel zur zureichenden Form waren. In einem großen geschlossenen Bilde, zu einer einheitlichen Wirkung mußten die Linien zusammenströmen – wie überall, wo es wirklich ein überschäumender menschlicher Empfindungsgehalt ist, der die suggestive Form schafft, die Praxis des Lebens und nicht ein sogenanntes ästhetisches Bedürfniß des Dichters nach bloßem musikalischen Klang, wie bei Stefan George heutzutage, oder ein mehr theoretisches wie eben bei Arno Holz. Es klingen daher bei Dehmel denn auch die einzelnen Töne als solche durchaus erst in zweiter Linie. Das Wesentliche an ihnen ist ihre Conception zu einer sinfonischen Wirkung. Und dabei spürt man an ihnen niemals jenen "geheimen Leierkasten" des regulären Reimes und der regulären Strophe. Denn sie sind nach keiner vorgeschriebenen Structur aufgebaut, sondern durchaus frei und ungehört – meinetwegen unerhört. Aber nur Kühnheit darf ja im Leben wie in der Kunst auf Sieg, auf Ausgleich mit schon Ueberwundenem und noch zu Ueberwindendem zählen und sich so in die Harmonie des Weltganzen einfügen, d. h. auf Ewigkeit Anspruch erheben. Novalis hat von dieser künstlerischen Harmonie gesagt, daß sie der "Ton der Töne, genialischer Ton" sei. Dehmel hat ihn, weil er seine Form zu zwingen vermag, die letzten schwer sichtbaren Adern bloßzulegen, die irgend einen Complex von Gefühlen, also einen lyrischen Stoff, durchziehen. Er begnügt sich nie damit, die Empfindungen in ihren rohen Umrissen, ihrer äußeren Einfachheit zu geben. Ueberall spürt er [171] ihren ersten Gründen nach, sucht ihre Zusammenhänge mit den Empfindungswelten überhaupt zu fassen und so das, was eigentlich nur Theil der großen Einheit aller Erscheinungen ist, im Sinne dieser Einheit, als diese Einheit selbst zu geben. Es ist dies Dehmel möglich, weil er seine Gedichte einem so intensiven Erleben, namentlich des Sexualen, verdankt. Ihr Chaotisches, das sich ja in der primitivsten Natur gerade so ursprünglich zu äußern vermag, wie in der raffinirtesten Cultur, ist ihr Echtes. Sieht man von nicht allzu vielen Ausnahmen, die auch hier nur die Regel bestätigen, einmal ab, so kann man wohl sagen: bei Dehmel ist jedes Wort, jedes Bild, jede Vorstellung absolut herausgeboren aus der Situation eines jeden Stoffes – gerade so wie diese aus der Situation des entsprechenden Erlebens. . .
Und jedes Wort, jedes Bild, jede Vorstellung hat nur den Sinn, den Hintergrund zu geben, aus dessen schwerer dunkler Nothwendigkeit diese Situation wieder heraussprang: jenes Schicksal, das in gleicher Weise über der Einzelcreatur, wie über dem Weltganzen ist.
Eines der schönsten suggestivsten Gedichte mag hier in seiner Ganzheit folgen, um einen kleinen Beweis dafür zu erbringen. Es heißt "Unsere Stunde" und steht in den "Lebensblättern".
"Es dunkelt schon, komm, geh nach Haus,
komm! Das Kastanienblattgewühl
streckt sich wie Krallen nach uns aus.
Es ist zu einsam hier, zu schwül
für uns.
Denn sieh: die Linien Deiner Hand,
sieh, sind den meinen viel zu gleich,
du scheinst mir plötzlich so verwandt,
so vorbekannt,
vielleicht aus einem andern Reich.
Ich hatt'ne Schwester, die ist todt:
Sei nicht so stumm, als wärst du taub!
die Abendwolke dampft so roth
durch's junge Laub,
als ob sie uns Blutschande droht.
Horch! Ja, so wild und unverwandt,
wie jetzt die Nachtigall da schlug,
zittert Dein Herz in meiner Hand.
Wir wissen es, das ist genug
für uns.
In früheren Zeiten hätte ein solcher Stoff, vorausgesetzt, daß er in einer Dichterpsyche überhaupt möglich geworden wäre, zu seiner inneren Begründung und äußeren Gestaltung wohl einen ganzen Roman, zum mindesten eine Novelle erfordert. Dehmel macht ihn jetzt der Lyrik dadurch zugänglich, daß er [172] ihn auf sein Wesentliches zurückführt und dann das psychologische Resultat zur höchsten Einfachheit des Ausdrucks condensirt: daß er trotzdem noch Atmosphäre um sich behält – die Atmosphäre des Lebens, das ja oft in einer einzigen Geste mehr ausdrücken kann, als durch tausend erklärende Worte: das ist es, was das Gedicht zum Kunstwerk macht!
Man hat damit wohl überhaupt das neue Mitteilungsvermögen, durch das die Wenigen ihre Künstlerexistenz rechtfertigen können die in unseren Tagen jenen schmerzhaften Kampf um der Menschheit Zukuft kämpfen, von dem ich zu Anfang sagte; wenigstens vollzieht sich in ihnen Allen dieser gleiche Proceß: mit weniger Äußerlichem mehr Innerliches geben zu wollen! Unablässige Arbeit ist dazu erforderlich und ein Schöpfermuth, wie man ihn nur in den großen Epochen der Kunst findet, in denen verwandte Ziele scheinbar spielend unter den größten Mühen erreicht worden sind. Daß die Künstler von heute nun wiederum von diesem Ernst ihrer Aufgabe wissen, ist das beste Zeichen ihrer Größe! Man denke nur an Klinger . . ! Und wie speciell Dehmel an sich, an seinen Stoffen und deren immer prägnanterer Wirkung arbeitet, das kann man so recht aus der erwähnten Neuauflage der "Erlösungen" sehen: wohl kein Gedicht ist in der alten Fassung stehen geblieben; aus allen liest man das unablässige Bemühen, zum letzten Ausdruck zu gelangen und jene proportionale Vereinigung des Inneren und des Äußeren, des Stofflichen und des Formlichen zu erreichen, durch die Dehmel zum Vollkünstler wird. Die Stürmer und Dränger unserer jungen Dichtung ließen sich noch von ihrem Stoff überrumpeln. – Er dagegen zwingt die aufbegehrende Wildheit seiner Affekte, indem er diese darstellt, ringt sie so lange nieder, bis sie nicht mehr in ihm sind und sie ihm selbst nicht mehr, sondern der Menschheit gehören.
Erstdruck und Druckvorlage
Nord und Süd.
Eine deutsche Monatsschrift.
Bd. 88, 1899, Heft 263, Februar, S. 162-172.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Nord und Süd online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Nord_und_Süd
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/011920118
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URL: http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/Zs-9826
Werkverzeichnis
Verzeichnisse
Schwierskott, Hans-Joachim:
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The Early Writings of Arthur Moeller van den Bruck.
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Schlüter, André: Moeller van den Bruck.
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In: Das Magazin für Litteratur.
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[PDF]
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Berlin und Leipzig: Schuster & Loeffler 1902.
URL: https://archive.org/details/diemoderneliter01brucgoog
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001190468
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Lyriktheorie » R. Brandmeyer