Fritz von Ostini

 

 

Anti-Fin de siècle

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Fritz von Ostini
Literatur: Jugend

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Texte zur Theorie und Rezeption des Symbolismus

 

Nun aber muß einem dringenden Bedürfniß abgeholfen werden: Wir wollen einen neuen Bund gründen, einen Bund mit zwei Fronten.

Zweck des Vereins ist erstens, diejenigen auf's – Haupt zu schlagen, die mit verlogenem Gezeter und frechem Hohn unsere Zustände am Ende des Jahrhunderts als die schlimmsten seit der Sinthfluth oder seit der Erschaffung des Ichthyosaurus ausschreien.

Zum Zweiten aber wollen wir den Jammermenschen an den Kragen, die mit dem Schlagwort vom Jahrhunderte alle geistige, sittliche und körperliche Versunkenheit und Verkommenheit, alle ihre phrasenreiche Hohlheit verbrämen wollen.

Wir wollen zu Felde ziehen gegen die Fin de siècle-Philister und die Fin de siècle-Gecken. Wir lassen uns weder so, noch anders unsere Zeit schmutzig machen, denn sie ist zum mindesten nicht schlechter, als irgend eine andere war. Lumpen und Hanswurste hat es immer gegeben; nur ihre Spezialitäten wechseln und ihre Schneider.

Wird die Welt überhaupt um ein Titelchen anders aussehen am nächsten Säkulumsmorgen? Was ist das für ein inferiorer Gedanke, daß die Spannkraft des Menschengeschlechts immer gerade nach dem Kalender ein Jahrhundert aushalten, dann erlöschen und wieder von neuem anheben soll, daß der Perpendikel der Weltuhr immer 100X365 Tage zu einer Schwingung braucht?

Es wird gar nichts verändert sein mit dem neuen Jahrhundert, als vielleicht das, daß die vorgedruckten Quittungs-, Wechsel- und Akten-Formulare mit 18... entwerthet sind, daß etliche Contrakte ablaufen und daß ein entsetzliches Quantum von Jahrhundert-Wende-Gedichten und blödsinnigen Postkarten verbrochen werden wird. Sonst soll Alles beim Alten bleiben, soweit das Alte gut ist.

Und darum lassen wir den Philistern ebenso wenig das Recht, was ihnen nicht zusagt mit dem Namen "fin de siècle" zu brandmarken, als die Dekadenten sich unterstehen sollen, zu thun, als sei nun schon so wie Alles eins und verlohne es sich nicht mehr der Mühe, wegen des schäbigen Rest's vom Jahrhundert noch einmal die Dinge kräftig in die Hand zu nehmen. O die Feinen! Da die Schwefelwolken nun doch schon einmal über Sodom und Gomorrha stehen, meinen sie, sollte man sie nur ruhig noch die Sehenswürdigkeiten und Zerstreuungen dieser liebenswürdigen Ortschaften weiter genießen lassen!

Nein! Nieder mit Allen, die das Wort vom Jahrhundertende zum Schwindel mißbrauchen! Wir haben die Erhaltung der Energie über die Sylvesternacht 1899 hinaus verdammt nöthig, denn die Weltgeschichte wird mit der Aenderung der drei letzten Ziffern der Jahreszahl nicht das Tausendstel einer Sekunde still stehen. Und um 100 Jahre später, wenn auch noch die erste Ziffer wechselt, wird das auch nur im allerhöchsten Falle eine Curiosität sein und im Uebrigen nicht einmal eine Cäsur in dem ungeheuren Streckvers von Klio's Lied.

Wir lassen uns unsere Zeit nicht verekeln! Ein anständiger Vogel besudelt das Nest nicht, das ihn warm hält, und ein anständiger Kerl ist auch mit seiner Zeit solidarisch, nicht blos mit seiner Familie, seiner Stadtvertretung, seinem Wahlverein und seinen Vereinsbrüdern der "Harmonie". Er ist eins mit seiner Zeit und paßt in sie. Höchstens ein Stück vorausgehen darf er ihr – wenn er weiß, wie man das macht.

Klägliche Dunkelmenschen, die immer auf's Ende des Jahrhunderts schmähen, wenn irgend ein Gräuel im Tagblatt steht, wenn irgendwo irgend eine kolossale Dummheit oder wenn gar einmal eine kolossale Gescheidheit passirt! Die Sorte meint Wunder was für ein Heldenwerk gethan zu haben, wenn sie jeder Aenderung der Dinge ihr Jammergeschrei entgegenzetert und ihre Knüppel Jedem zwischen die Beine schmeißt, der was Neues sagt oder thut. Sie meint, Wunder wie witzig sie ist, wenn sie jede Lächerlichkeit der Streber in Kunst und Leben als "modern" und "fin de siècle" brandmarkt.

Und welche böse versteckte Lüge spricht daraus: Modern ist Jener, der sehend und reif in seiner Zeit steht, nicht der, welcher ihr Affe ist!

"Moderne Trachten!" höhnen sie, sobald sie einen großen Damenhut sehen, oder weite Aermel – als ob es nie Reifröcke, Pluderhosen, Schnabelschuhe, oder spanische Mieder gegeben hätte. Moderne Ehe! – Natürlich. Von der Aufführung biblischer Patriarchen ganz abgesehen und der verewigten Majestäten Messalina und Faustina, es hat früher keine Cicisbei gegeben und im Mittelalter keine Ritter, die dem einkehrenden Gastfreund ihre Hausehre leihweise als kleine Aufmerksamkeit mit ins Schlafzimmer gaben. "Moderne Malerei!" schreien sie, wenn Einer recht schmiert. Es hat ja nie eine neu auftauchende künstlerische Richtung ihre Narren mit im Gefolge gehabt, nur heutzutage kommt das vor! "Moderne Sitten" – Natürlich! Und die ärgste Verkommenheit in großstädtischen Lasterhöhlen ist kaum ein blasser Schatten von dem Sündenraffinement vergangener Zeiten! "Echt modern!" schreien sie, wenn ein Schwindler seine Gimpel auf recht kräftigen Leim lockt! Tetzel, Cagliostro, Pater Gaßner und tutti quanti haben ja nicht gelebt. Und so weiter mit Grazie! Das Uralte heißt fin de siècle! Wie thöricht! Im Punkt des Schlechten ist Nichts mehr originell. Nicht einmal eine findesiècle-Dummheit gibt's, die nicht schon anticipando überboten wäre: wenn heute ein deutscher Standesherr gen Trient auszieht, um den Freimaurerteufel zu fangen und Scheiterhaufen für die Logenbrüder zu errichten, so ist er schließlich auch nicht ärger, als die alte Dame in Constanz, die zu Hussens Scheiterhaufen Holz herbeischleppte, um dem lieben Gott ein Vergnügen zu machen.

Nein! "Modern" ist kein Schimpfwort!

Aber es soll auch kein Prahlwort sein im Munde jener Rückenmärker der Cultur, die sich was darauf einbilden, wenn sie ihre Kniee nicht mehr strecken können. Die große, allgemeine Müdigkeitsbruderschaft der Dekadenten verunglimpft unsere Zeit fast noch mehr als die Gesellschaft der Schimpfer und Nörgler. Die da nichts sind und nie was werden können, thun so, als hätten sie aus geheimen Quellen eine solche Nichtachtung alles Bestehenden geschöpft, eine so tiefe Verneinungsweisheit, daß sie sich der Menschheit gar nimmer annehmen mögen, ob sie's auch könnten! Ihre von der großen Ermüdung und Erschütterung gefaßten Seelen gehen im saloppen Schlafrock einher, weil's ja doch Abend ist und nimmer Tag werden wird; und sie thun so matt, als könnten sie nur mit Mühe und Noth das Maul aufmachen zum Gähnen. Diejenige Hälfte an ihnen, die fröhlich darauf loslumpt, bis Sardanapals Palast niederbrennt, ist noch die Bessere. Drollig genug übrigens. Auch das vollkommen schweingewordene Laster hat sich das gleiche Schlagwort ausgesucht: "fin de siècle!".

Der Teufel hole jene lustigen Lebegreise und traurigen Sterbejungen – aber ich glaube nicht, daß er sie mag! Sie sind nicht einmal so recht herzhaft schlecht und Gott sei Dank, sie werden auch nichts Schlimmes anrichten; sie werden sammt ihrem Schlagwort aus der Cultur verschwinden. Jetzt nehmen sie sich freilich spaßhaft genug aus, die Virtuosen des Unzulänglichen, die aus der Noth ihrer Jämmerlichkeit eine Tugend machen möchten: Stimmung! Stimmung. Nicht zugreifen, nichts anpacken! Nur andeuten! Können ist eine Schande, Schaffen ist schon viel zu grob, Vollenden ist eine Gemeinheit. Nur Empfinden! Hier ein orangenbelber Fleck und dort hinten ein süßlilamattgraugelber Strich – das ist ein Bild! Oben links ein "O weh", dann eine Seite voll Gedankenstriche und unten rechts ein "O jeh"! – Das ist Poesie! Andeuten, ahnen lassen, nicht Mehr! Solch ein Männlein hat Nerven wie Parmesankäsfäden. Vibrirten sie ein bischen zu stark, so gingen sie entzwei. Und nicht lachen: lachen ist roh! Lächeln sogar ist banal. Höchstens ein schwächerer Grad von Leiden ist erlaubt und das ist schon das excessivste Maß von Heiterkeit, das sich ein Fin de siècle-Nerven-Empfindungs-Kunstmensch pur sang leisten darf. Und Phantasie muß er haben, Phantasie, wie man sie nach starkem Nasenbluten oder nach einer Morphiumeinspritzung hat, mit Ohrensausen und krankhaften Farbenempfindungen, Traumdelirium des im tiefsten Schlummer liegenden Intellekts! Denn das Unbewußte, das ist das ganz Große in der Kunst! Je größer der Dusel und das Ohrensausen, je dicker der Nebel, desto gewaltiger der Mann!

Um wie viel angenehmer ist die einfache, glatte Dummheit, die nichts prätendirt, weil sie nichts kann! Und um wie viele Siriusmeilen steht das wirkliche Talent höher, das sich etwas absurd gebärdet in Jugendgährung!

Und dazu der Größenwahn jener Helden! Statt vor Katzenjammer umzukommen, frisiren sie sich noch als Götter. Die Götter des Nirwana. Sie haben das Nichts entdeckt! Sie sind wie die letzten zitternden Harfengänge, welche die Hand des Weltgeist's noch aus den Saiten ruft. Immer leiser und leiser – und jetzt schnarcht es schon, das Jahrhundert.

Weg auch mit diesen Kerls! Unsere Zeit ist nicht alt, nicht müde! Wir leben nicht unter den letzten Athemzügen einer ersterbenden Epoche, wir stehen am Morgen einer kerngesunden Zeit, es ist eine Lust zu leben!

Und es ist auch eine Lust zu kämpfen, mit denen, die uns das lachende Leben nicht gönnen wollen!

Jung ist die Welt! Dem Starken gehört sie und dem Guten. Dem Guten auch und mehr denn je; denn die gewaltigen Dinge, die wir in der Zukunft zu thun haben, wollen zum großen Theile mit dem Herzen gethan sein. Und dem Frohen gehört die Welt; gerade der, dem das Herz voll ist von der Sorge um die, welche mit ihm auf Erden wandeln und leiden, der darf auch wieder aus vollem Herzen lachen über das Lustige. Ein Lump hat kein Recht auf das heilige Lachen. Und dem Klugen gehört die Welt, dem Klugen, der Wege findet und den vor Wegen nicht schwindelt, die Kluge fanden vor ihm. Und dem Tapfern gehört sie, der sich vorwärts schlägt durch Dick und Dünn und nichts fürchtet, als den Gott in sich, mag er ihn nun Gewissen nennen oder anders. Vorwärtsgehen, Mitkommen heißt es. Wer hinten bleibt, erstickt im Sumpfe. Und die Pikelhäringe, die mit ihrem Narrengeschrei einherhüpfen und meinen, sie führten den Zug, die bleiben ja doch liegen, wenn ihnen der Athem ausgeht und verenden am Wege. –

Und wenn wir jetzt einen Bund gründen, um Alle die auf's Haupt zu schlagen, die im Namen des "fin de siècle" so oder anders sündigen wider den heiligen Geist der Zeit, so wird sich dabei Eins zeigen: Daß dieser Bund auf's Haar ein Bund der anständigen Leute ist!

Und ein Bund der Jugend!

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Jugend.
Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben.
Jg. 3, 1898, Nr. 1, 1. Januar, S. 2.

Gezeichnet: O.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Jugend   online
PURL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:16-diglit-35654
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/012504734

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

 

 

Literatur: Fritz von Ostini

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Dahlke, Birgit: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900. Köln u.a. 2006.

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Fromm, Waldemar u.a. (Hrsg.): Literaturgeschichte Münchens. Regensburg 2019.

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Ostini, Fritz von: Arnold Böcklin. Bielefeld u. Leipzig 1904 (= Künstler-Monographien, 70).
URL: https://archive.org/details/bcklin00ostigoog
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PURL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:16-diglit-35654
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Literatur: Jugend

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Trilcke, Peer: Diesseits des "Gesamtkunstwerks". Das "Pan"-Paradigma und die Widerständigkeit der "Jugend" am Beispiel von Gedicht-Bild-Kombinationen. In: Illustrierte Zeitschriften um 1900. Mediale Eigenlogik, Multimodalität und Metaisierung. Hrsg. Von Natalia Igl u. Julia Menzel. Bielefeld 2016, S. 313-340.

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Wende, Waltraud: Der Jugendstil der Jugend. Eine literarisch-künstlerische Zeitschrift der Jahrhunderwende. In: Philobiblon 37.3 (1993), S. 258-272.

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Lyriktheorie » R. Brandmeyer