Text
Editionsbericht
Literatur
Lyrik oder lyrische Poesie, deren Name von dem griech. Saiteninstrument Lyra (s.d.)
entlehnt ist, heißt diejenige Gattung der Poesie, die zum unmittelbaren Ausdruck des subjektiven
Gefühlslebens einer Person oder eines Kreises dient. Es ist nicht zu bezweifeln,
daß L. infolgedessen Ausgangspunkt aller Poesie war. Die Beobachtung der Naturvölker lehrt,
daß lyrische Gesänge, verbunden mit Musik und Tanz, die älteste poet. Produktion
bilden, und dazu stimmt auch bei den Indogermanen das hohe Alter ihrer hymnischen Dichtungen (Rigveda).
Die Schnadahüpfl des bayr. Gebirges, die auch von Gesang und Sprüngen begleitet sind,
mögen ein Bild einfachster L. geben. Die Verbindung mit dem Tanz hat sich längst, die mit der
Musik noch bis heute nur zum Teil gelöst; in ältern
[422] Zeiten war der Lyriker zugleich Komponist und Dichter, und das
Volks- und Gesellschaftslied ist bis jetzt ohne Gesang undenkbar, ein
recitiertes lyrisches Gedicht ist im Grunde nicht viel besser als ein
Lesedrama. Die früher herrschende Ansicht, das Epos, das die Begebenheiten der
Außenwelt meldet, sei älter als die L., beruhte auf der sehr begreiflichen Thatsache, daß die
Mehrzahl unserer ältesten Dichtungen Epen sind; subjektive Eingebungen des Moments
schrieb man eben nicht auf, während das Epos schon als
Vertreter der Geschichte und durch seinen Umfang die Aufzeichnung begünstigte.
Unter den Gattungen der L. unterscheidet man im Anschluß an die antike Terminologie die kunstvoll ausgestaltete, meist dem Gottesdienst geweihte Hymne, die feierliche Ode, die frei dahinstürmende Dithyrambe, die Reflexion und Gefühlsleben verbindende Elegie, dann das einfachere Lied (s.d.), das geistlich und weltlich, für Chor und für Einzelne bestimmt sein kann. Dagegen ist es nicht richtig, wenn man das Epigramm, die Epistel, das Lehrgedicht und ähnliche rein gedankliche Dichtungen zur L. rechnet. — Vgl. Du Prel, Psychologie der L. (Lpz. 1880); Jacobowski, Die Anfänge der Poesie (Dresd. 1891); R. M. Werner, L. und Lyriker (Bd. 1 der "Beiträge zur Ästhetik", Hamb. 1890).
Erstdruck und Druckvorlage
Brockhaus' Konversations-Lexikon.
Vierzehnte vollständig neubearbeitete Auflage. In sechzehn Bänden.
Elfter Band: Leber – More.
Leipzig / Berlin /Wien: Brockhaus 1894, S. 421-422.
Ungezeichnet.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Brockhaus online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Brockhaus_Enzyklopädie
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