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Editionsbericht
Literatur: Lemmermayer
Literatur: Anthologie
Literatur: Blätter für literarische Unterhaltung
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Anthologien: Moderne Lyrik
1. Aus einsamen Stunden. Dichtungen von Richard Koehlich.
Großenhain, Baumert u. Ronge. 1892. 8. 1 M. 50 Pf.
Koehlich's Gedichte haben einen inneren Gehalt, sie haben Farbe
und Klang. Es finden sich keine leeren Reimereien, kein unnützes
Wortgepränge. Der Dichter hat etwas zu sagen, und was er sagt, ist poetisch.
Am schönsten sind die Naturbilder aus Helgoland und aus dem
Riesengebirge, dem Revier Rübezahl's. Der Verfasser knüpft an Concretes an
und weiß dabei zu bleiben, ohne ins Bodenlose zu verfallen.
Daß ihm auch Balladenartiges gelingt, beweisen die Cyklen
"Ragnarök" und "Die Vestalin". Mit der Prosodie nimmt er es nicht
immer genau. Doch das verzeiht man ihm um so leichter, als auf diesem
Gebiete nach wie vor in Deutschland eine große Verwirrung
herrscht.
2. Symphonie. Ein Gedichtbuch von C. Busse, F. Evers, G. E. Geilfus,
V. Hardung, J. Vanselow.
Herausgegeben von Franz Evers.
München, Münchener Handelsdruckerei und Verlagsanstalt, M. Poeßl 1892.
Gr. 8. 4 M.
Die fünf Verfasser, deren Gedichte das vorliegende Buch ausfüllen, geben sich ausdrücklich als "modern". Das ist jetzt so Brauch, aber es lockt nicht mehr, im Gegentheil, es macht bedenklich, seidem man weiß, wie viel Schwulst und Phrase, wie viel Geschmacklosigkeit und Talentlosigkeit unter dieser Fabrikmarke sich anpreist. Auch ist es Sache des Lesers zu entscheiden, ob ein Dichter den Geist der Gegenwart erfaßt, ob er dem Gehalte der Zeit eine unzerbrechliche Form verliehen hat. Ferner: was ist modern? Wenn man die dichtenden Herren, die sich diese Bezeichnung beilegen, aufforderte, den Begriff endlich einmal zu definiren, was würde man nicht alles zu hören bekommen: gewiß das Widersprechendste in einer Zeit, der jede geistige Einheit fehlt, deren Geist zerstückt und zerrissen ist. Modern ist noch immer ein verwildernder Materialismus, welcher den Geist hinter dem Stoffe leugnet und für welchen die Materie allein ewig ist, und modern ist ein Spiritualismus, der nach einer höhern Weltanschauung ringt, für den es auch einen unzerstörbaren Geist und eine unsterbliche Seele gibt. Modern ist die ein außermoralisches Zeitalter ankündigende Herrenmoral Nietzsche's, die in dem Individualismus ihr Heil sucht; und modern ist die Lehre Schopenhauers, die von der Ichsucht befreien und von dem Weltschmerz erlösen will. Damit in Verbindung ist modern die Pflege des alten Buddhismus, das Verlangen nach einer Wiedererneuerung des Christenthums, die Sehnsucht nach einem reinern, idealeren Dasein. Auch dieses mystische Evangelium wird gepredigt, auch solche Stimmen in der Wüste gibt es. Modern ist die prunkende Entartung, das üppige und wuchernde Laster, und modern ist der herzhafte Ruf nach der Rückkehr zur Natur, zu einer einfachen Lebensweise. Modern ist es zu speculiren, die Menschenkraft schamlos auszubeuten durch Kapital und Maschine und auf diesem Wege das Eigenthum zu bereichern, und modern ist der Wunsch, das Eigenthum abzuschaffen und mit Dynamitbomben gegen das Eigenthum zu wüthen. Alle diese Richtungen, und daneben noch manche andere, haben ihr Echo gefunden in der Literatur. Modern ist es, in dem Schutte Aegyptens und Griechenlands zu graben, und nicht minder, sich von der Phantasie ins 20. Jahrhundert tragen zu lassen und das utopische Bild eines socialistischen Zukunftsstaates zu entwerfen. Modern ist es, im Erdensumpfe zu waten, und modern ist es, zu den himmlischen Lichtern emporzuschweben. Modern ist eine Afterpoesie, die von wollüstig erregten Nerven stammt und wieder auf die Nerven wirken soll, und modern ist Gottlob auch eine Dichtung, die den Geist bewegt und das Herz erhebt. Modern ist – doch genug! Wer würde fertig? Man könnte so fortfahren in infinitum.
Die sich "modern" nennen, lieben selbstgefällig ein Nebenschlagwort. Sie nennen sich oder ihr Werk naturalistisch, psychologisch, symbolistisch u. s. w. Der Unsinn springt in die Augen. Sie wollen sich vergrößern, aber sie verkleinern sich. Denn der echte, der große Dichter umfaßt und ist alles, er kennt die Erde, und er kennt [454] auch Hölle und Himmel, er ist "der allgemeine Mensch". Doch hat er es nicht noth, das erst ausdrücklich zu sagen. Er ist naturalistisch; denn die Natur und das Leben sind die Quelle, aus der er in unerschöpfter Fülle Gestalten und Motive holt und die er mit so reiner und reicher innerer Wahrheit zu verkörpern trachtet, als er nur immer vermag. Er ist psychologisch: denn das Seelenleben der Menschen in seiner unendlichen Mannichfaltigkeit ist ein beständiger Gegenstand seiner Betrachtung und Beschreibung. Er ist symbolistisch: denn jedes seiner Gedichte hat neben dem menschlichen Gehalte auch einen sinnbildlichen – und wieder hat er es nicht noth, das erst prahlerisch zu verkünden oder gar, wie etliche Moderne wollen, mit Lärm und Geräusch sinnlich zu vergröbern.
Auch die fünf Modernen in dem Buche "Symphonie" lassen es in einer rhapsodischen Vorrede und in einleitenden Gedichten an einer Art Programm nicht fehlen. Klug wird man daraus nicht; es ist sehr verschwommen. Aber Schlagworte wie neue Tage, Kampf, modern, befreiende Kunst, Zukunft, Freiheit u. dgl. sind reichlich vorhanden. Sie verfangen nicht mehr; man ist daran gewöhnt; durch häufige Wiederholung sind sie trivial geworden. Auch weiß man nicht, was die Verfasser dabei denken, denn auf eine logische Begriffsbestimmung lassen sie sich nicht ein. "Freiheit" z. B., seit der Französischen Revolution wird das große Wort zu Tode gehetzt. Wenn die Leute nur sagen möchten, was sie darunter verstehen. Doch nicht, daß jeder thun kann, was er will. Das wäre nicht Freiheit, sondern Willkür, Gewaltthätigkeit, Neronismus. Wie dem immer sei, eins fällt an diesen Vorreden wohltuend auf: die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach etwas Unaussprechlichem, vielleicht nach Liebe, nach Glück, nach Frieden, nach guten Menschen, nach dem verlorenen Paradiese. Das ist's! Diese Modernen sind Idealisten, gleich den geschmähten Alten, die nur nothgedrungen im Erdenschmuze wandeln und sich mit ahnungsvollem, begeistertem Herzen nach einem schönern Dasein sehnen. Diese Sehnsucht ist immer poetisch, wenn sie echt menschlich ist, und macht sie zu Dichtern, darum beschäftige man sich mit ihren Gedichten, ohne ihre jugendlichen Theorien besonders ernst zu nehmen, und man wird merken, daß sie etwas können.
Noch einmal: sie haben Sehnsucht und Begeisterung, und das sind prächtige Dichtereigenschaften. Sie haben aber auch Kraft, hin und wieder eine Fülle des Ausdrucks, ohne in Schwulst zu verfallen; sie wissen eine Stimmung zu erregen und festzuhalten. Auch daß sie viel Modernes nicht besitzen, ist höchlichst anzuerkennen. Sie thun nicht protzig mit pathologischen und erotischen Excessen; sie prunken nicht mit einer unnatürlichen Lasterhaftigkeit; es findet sich in dem Buche nichts Gemeines.
Ihre Streitgedichte, mit denen sie einen Kampf der Vernichtung führen gegen das, was ihnen morsch und todreif scheint, sind die schwächsten. Sie sind einerseits unklar und bombastisch, andererseits zu lehrhaft, zu programmatisch, aber sie stammen aus einem erregten Gemüthe und sind darum eines Antheils würdig. Jedoch die schönsten, mitunter wahrhaft symphonischen Accorde erklingen dort, wo sie dichten ohne Tendenz und Absicht, aus lauterer Schönheitsfreude, wo sie, wie die Poeten zu jeder Zeit gethan haben, einem Gefühl, einer Stimmung Wort und Ausdruck zu verleihen. Da haben sie Schwung, Phantasie, eine oft rauschende und packende Sprache. Besonders die Naturstimmungen, das Wesen der Jahreszeiten wissen sie mit gesättigten und präcisen Farben und Tönen zu vergegenwärtigen. Hier zeigen sie sich als Talente, die man beglückwünschen muß. Einige kleine Proben seien mitgetheilt:
Frühlenz umwallt die Berge,
Und steigt ins tiefe Land;
Goldduft flirrt in den Thälern,
Es dampft die Felsenwand.
In leuchtend goldnen Wogen
Der Sonne Athem glüht,
Und Funken neuen Lebens
Die alte Erde sprüht.
Julius Vanselow.
Der Sonntagswind streichelt das Binsenmeer,
Darüber huschen Libellen her.
Ein alter Fischer im Kahne ruht,
Und glänzend und gleißend dehnt sich die Flut.
Ein Rohrspatz schreit im Binsenmeer,
Vom Kloster läuten die Glocken her.
Sie wandeln die Weiten hinauf und hinab,
Der Alte nimmt betend die Mütze ab:
Der Sonntag geht über die Felder.
Karl Busse.
Die Luft steht über dem Wasser
Lauwarm und schlummert ein,
Und blasser, immer blasser
Leuchtet der Abendschein.
Flugmüde durch die Lüfte
Einsam ein Reiher kreist –
Ueber die Höhn und Klüfte
Wandert der Dämmergeist . . .
Franz Evers.
Aehliche hübsche Stimmungsbilder, von einer echt poetischen Stimmung Zeugniß gebend, enthält die Sammlung viele. Wenn Uhland, Mörike, Storm und andere Lyriker ersten Rangs anregend gewirkt haben, um so besser!
Andere charakteristische Beiträge lauten:
Die Himmelsrose will glutend
Den goldnen Kelch erschließen,
Ein Strom sich purpurflutend
Voll auf die Welt ergießen.
Sterne des Traumes sinken
Ins Dämmergrau.
Lebenssonnen blinken
Im Himmelsthau.
Goldstäubend rieseln die Wellen
Des Himmelslichtes nieder,
Aus ewigen Lebensquellen
Schöpfet das Weltall wieder,
[455] Freiheitsbanner sich bauschen
Im Frührothdrang,
Morgenwinde rauschen
Den Lichtgesang.
Victor Hardung.
Ich möchte wandeln, wo die Schönheit waltet –
Erhabne Göttin, segne mich, segne mich,
Auf daß sich schaffend meine Kraft gestaltet,
Wenn sich mein sinnend Herz versenkt in dich!
Zu dir empor will ich die Hände heben
Anbetend neigt vor dir mein Antlitz sich,
Verklärt von deinem Lichte will ich leben,
Erhabne Göttin, segne mich, segne mich!
Laß mich im Spiel des Kindes dich verehren,
In einer Jungfrau heimlichsüßer Lust,
Und in den Klagen auch, den trüben, schweren,
Die sich entringen einer Mutterbrust.
Anbeten will ich dich in Jugendtagen,
Anbeten noch, wenn längst mein Haar erblich,
Nie soll mein Mund vor deinem Throne klagen –
Erhabne Göttin, segne mich, segne mich!
Georg Geilfus.
In einer Sammlung, die sich als "modern" gibt, solche "altmodische" Töne! Man möchte sie nicht suchen und freut sich, sie zu finden. Es ist das alte und ewig neue Sehnen und Drängen von der Erde zum Himmel, das Ringen der Dichterseele nach innerer Vollendung und Befreiung, der Schrei nach Schönheit, welche das Erdenleid überwinden möchte. Unsere fünf Poeten wissen nicht, wie so gar nicht modern sie dort sind, wo sie Poeten sind. Sie haben den hoffnungsfröhlichen Optimismus der Jugend, sie haben den erhebenden Glauben an ein ideales Zukunftsleben, sie schwärmen, wie einst Victor Hugo schwärmte, von einem kommenden Jahrhundert, in welchem das Lamm ungefährdet liegen werde neben dem Wolfe. Kurz, sie sind Idealisten vom reinsten Wasser. Einem solchen jungen Deutschland kann man aus vollem Herzen Glück auf! zurufen.
3. Natur- und Lebensbilder. Ein Spätherbststrauß
von Heinrich Zeise. Hamburg, O. Meißner.
1892. Gr. 8. 3 M.
Der Verfasser ist weit herumgewandert in der Welt; er kennt manche Meere und Länder, den Rhein, das Friesenland, die Steiermark, Schweden und Norwegen. Und überall hat er seinen Psalter gestimmt zu schwungvollen Weisen. Seine Gedichte haben mehr den Reiz einer bewegten Sprache als den eines tiefen Gehalts. Sie sind der Hauptsache nach beschreibender Art und zeigen überall von einem warmen, kräftigen Naturgefühl und einem beflügelten Geiste. In den Gedichten, welche das Menschenleben zum Gegenstande haben, weiß er auch innige Gemüthstöne anzuschlagen. Etwas Gewinnendes und Edles ist in dem Buche. Hier ein Beispiel:
Du sollst mit liebevollen Händen
Stets lindern deiner Brüder Noth,
Du sollst vom Ueberflusse spenden,
Den dir die Huld der Götter bot.
Und brichst du dankend beim Gebete
Dein Weizenbrot zur Mittagszeit,
Dann auch zu den Verlassnen trete
Und schnell zur Hülfe sei bereit.
Wenn du mit innigem Erbarmen
Stets liebreich deine Hand gereicht,
Den Tiefgeschlagnen und den Armen,
Wie wird dir dann das Herz so leicht.
Du hörst der Pulse lautes Beben,
Und fühlst beglückt zu jeder Frist,
Daß alles, was du hingegeben
Auch Dir ein Quell des Segens ist.
4. Junker Quirin. Ein Jahr seines Lebens. Dichtung von
J. Tandler. Herausgegeben von Alexander Engel.
Leipzig, Literarische Anstalt August Schulze.
1892. 8. 1 M. 60 Pf.
"Junker Quirin" ist das letzte Werk des im Vorjahre in hohem Greisenalter verstorbenen Dichters Joseph Tandler, der zu den vorzüglichsten Geistern gehörte, welche Deutsch-Oesterreich in den letzten Jahrzehnten aufzuweisen hatte. Die liebenswürdige, warme Natur des Dichters offenbart sich vollauf in dem vorliegenden Buche, das Alexander Engel mit einigen Worten begleitet und herausgegeben hat. Junker Quirin sieht sich eines Tages allein in der trügerischen Welt. Sein Geschlecht ist untergegangen und mit ihm alles Hab und Gut. Nichts ist ihm geblieben als ein fröhlicher Sinn und ein gutes Gemüth. Er ist ein Jüngling ohne Arg und Falsch, weder die Welt noch die Menschen kennend. Darum ist er so unklug, sein Herz nicht zu verschließen, sondern in naiver Vertrauensseligkeit offen zu halten vor jedermann. Die Folgen stellen sich alsbald ein. Quirin wird hintergangen und betrogen an allen Ecken und Enden. Er müßte vergrämen und zu Grunde gehen, wenn ihn nicht ein flinkes und kluges Frauenwesen errettete und mit ihm gemeinsam die Pfade des Lebens wandelte. So kommt alles nach einem schweren Lehrjahre zu einem glücklichen Ende. Die Geschichte ist in zierlichen, romantisch angehauchten Versen erzählt, hübsch und glaubwürdig. Sie ist ein Ehrenkranz auf dem Grabe des Todten.
5. Das Buch der Eva von Alexander Engel.
Dresden, Pierson.
1892. 8. 2 M.
Obwol dieses Büchlein weder der Epik noch der Lyrik angehört, so werde es doch als Anhang hier zur Anzeige gebracht. Es gehört ein gewisser Muth dazu, über die Frau ein Buch zu schreiben; denn seitdem es eine Literatur gibt, haben sich die großen Denker mit diesem Thema beschäftigt. Aber es ist unerschöpflich wie das Meer und verlockend wie die Sirenen, die es bewohnen. Engel fischt manche Perle heraus. Wenn sich hin und wieder eine falsche findet, so macht das nichts, die echten treten nur um so deutlicher hervor. In aphoristischer Form gibt er eine Menge alter und neuer Gedanken und Einfälle über das Evakind, sein Wesen und sein Verhältniß zum Manne, Ernstes und Heiteres, Anerkennendes und Verurtheilendes. Laune und Witz kommen der Sammlung gut zu statten.
Erstdruck und Druckvorlage
Blätter für literarische Unterhaltung.
1892, Nr. 29, 21. Juli, S. 453-455.
Gezeichnet: Fritz Lemmermayer.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Blätter für literarische Unterhaltung online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Zeitschriften_(Literatur)#BflU
PURL: http://digital.slub-dresden.de/id390927252
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100319397
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008697234
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/501569-8
Blätter für literarische Unterhaltung inhaltsanalytische Bibliographie
Alfred Estermann: Inhaltsanalytische Bibliographien deutscher Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts - IBDK.
Band 9; 5 Teile: Blätter für literarische Unterhaltung (1826-1850 [-1898]).
München u.a. 1996.
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer