Max Halbe

 

 

Lyrik?

[Auszug]

Text
Editionsbericht
Literatur

 

Solange es wahr bleibt, daß selbst bei der größten Kraftconcentration nach außen, nach der Wirklichkeit hin, Stunden im Leben kommen, wo der Mensch das Bedürfniß fühlt, sich wieder, wie in seiner Kindheit u. Jugend in sich selbst zurückzuziehen u. über das Geheimniß seines Ich nachzugrübeln, so lange wird es wahr u. darum auch naturalistisch bleiben, daß die Gefühle u. Stimmungen, die aus solchen dunkeln Stunden hervorquellen, in dichterische Form gegossen werden. Hier liegt der berechtigte, weil im innersten Wesen des Menschen, in der Mischung von Subject u. Object, begründete Kern der Lyrik, über dem man nicht vergessen darf, daß seine Erscheinungsformen veränderlich u. dem Wechsel der Zeit unterworfen sind. Lyrik also, auf das Bleibende u. Unzerstörbare an ihr untersucht, ist weiter nichts als die dichterische Wiedergabe subjectiver Gefühle u. Stimmungen, gleichgiltig, in welche Form dieselben gegossen werden.

Weder der Rhythmus noch der Reim sind also integrirende Bestandtheile der Lyrik oder bilden "Grundgesetze" derselben (auch eins von den famosen "Grundgesetzen"!), wie unsere Aesthetikbücher glauben machen wollen. Rhythmus u. Reim sind die Erscheinungsformen, in denen die heutige Menschheit die Lyrik zu erblicken gewohnt ist, die sie darum mit dem Kern selbst verwechselt. Sie stammen aus der Kindheit der Menschheit, u. es ist alle Wahrscheinlichkeit, daß sie mit dieser Kindheit verschwinden werden.

Der naive Kindheitsmensch fühlt das Bedürfniß, den wörtlichen Ausdruck seiner Stimmungen durch Klang u. Tanz zu veranschaulichen. Hier wurzeln Reim u. Rhythmus. Sie bleiben wahr u. berechtigt, solange der Mensch sich eben jenes Bedürfniß wach erhält, u. beginnen allmählich ihre innere Wahrheit u. Grundlage einzubüßen, je mehr jenes Bedürfniß einschläft.

[63] Es ist die Verbindung von Wort u. Klang, von Poesie u. Musik, die dem Kindheitsmenschen als der einzig erschöpfende Ausdruck seiner Stimmungen erscheint. Jede der beiden Künste ist noch zu stammelnd, zu unentwickelt, um der andern entbehren zu können. Erst ihre Vereinigung vermag, eine Wirkung hervorzubringen. Aber je weiter die Entwicklung vorschreitet, je ausdrucksfähiger das Wort wird, desto energischer sucht es, sich auf eigne Füße zu stellen (andrerseits wird auch die Musik sich vom Wort emancipiren).

Der Mann gewordene Mensch verlangt nicht mehr nach süßem Klang und wiegender Bewegung, wenn er seine Gefühle dichterisch wiedergiebt, sondern er genügt sich an der einfachsten Form, die sich seiner Stimmung am zwanglosesten anschmiegt. Die tiefste Wirkung ist immer die anspruchsloseste. Die Prosaform ist die Zukunft der Lyrik, wie jeder dichterischen Wirkung.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Walter Hettche: Max Halbes Berliner Anfänge.
Mit unveröffentlichten Texten aus dem Nachlaß.
In: Textgenese und Interpretation. Vorträge und Aufsätze des Salzburger Symposions 1997.
Hrsg. von Adolf Haslinger u.a. Stuttgart 2000, S. 46-65.

Unser Auszug; S. 62-63.

Entstanden: 1890.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

 

 

 

Literatur

Althaus, Thomas u.a. (Hrsg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Tübingen 2007.
Vgl. S. 129-130.

Bies, Michael: Der europäische Naturalismus. Zur Bestimmung einer literaturgeschichtlichen Kategorie. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 67 (2023), S. 359-374.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Cabanès, Jean-Louis: Poésie naturaliste. In: Dictionnaire des naturalismes. Hrsg. von Colette Becker u. Pierre-Jean Dufief. Bd. I-Z. Paris 2017 (= Dictionnaires & références, 43), S. 751-760.

Chevrel, Yves: Naturalisme et modernité. In: The Turn of the Century. Modernism and Modernity in Literature and the Arts. Hrsg. von Christian Berg u.a. Berlin u.a. 1995 (= European Cultures. Studies in Literature and the Arts, 3), S. 101-118.

Durkin, Rachael (Hrsg.): The Routledge Companion to Music and Modern Literature. London u. New York 2022.

Hettche, Walter: Otto Julius Bierbaums Briefe an Max Halbe.
Beiden Autoren zum 150. Geburtstag.
In: Freunde der Monacensia e.V.
2015, S. 99-118.

Lamping, Dieter: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. 3. Aufl. Göttingen 2000.
Vgl. S. 182-191.

Schuhmann, Klaus: Lyrik des 20. Jahrhunderts. Materialien zu einer Poetik. Reinbek bei Hamburg 1995 (= rowohlts enzyklopädie, 550).

Schutte, Jürgen (Hrsg.): Lyrik des Naturalismus. Stuttgart 1982 (= Universal-Bibliothek, 7807).

Stöckmann, Ingo: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880 – 1900. Berlin u.a. 2009 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 52).

Stöckmann, Ingo: Naturalismus. Stuttgart u.a. 2011 (= Lehrbuch Germanistik).

Völker, Ludwig: "Alle Erneuerung geht von irgendeiner 'Prosa' aus". Die lyrische Moderne und der Naturalismus. In: Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Hrsg. von Robert Leroy u.a. Bern u.a. 1991, S. 203-235.

Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart u.a. 2010.

 

 

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