Wilhelm Weigand

 

 

Charles Baudelaire.
Eine Studie.

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Weigand
Literatur: Magazin

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Texte zur Baudelaire-Rezeption
Texte zur Theorie und Rezeption des Symbolismus

 

Es giebt zwei Dichtergeschlechter auf Erden: die Einen sind Hochgestalten der Menschheit, welche das ganze Leben einer Zeit in gewaltigen Werken festhalten, und noch in späteren Zeiten, wenn ihre Werke auch nicht mehr das ursprünglich quellende Leben besitzen, den Enkeln als Männer einer bestimmten Epoche vorleuchten und uns dieselbe in der schönsten Gestalt, der Persönlichkeit, nahe bringen. So Goethe, Shakespeare, Dante. Allgemeine Bewunderung zollt die Welt diesen Geistesheroen; aber noch glühendere Verehrer zählt oft das Geschlecht der liebenswürdigen Dichter, wie Horaz, wie Musset, die den ganz bestimmten Herzschlag einer Zeit in ihre Werke gebannt haben. Auch der große Lyriker Charles Baudelaire hat in Frankreich, und zum Teil in England, eine solche Gemeinde von Bewunderern, die ihn über alle Dichter stellt mit einer ganz fanatischen Ausschließlichkeit. Niemand hat wie dieser rätselhafte Mann einen Zauber auf die moderne französische Jugend auszuüben verstanden, selbst nicht der Kraftmann Zola, der in seinen kritischen Schriften der Jugend das Evangelium der neuen Kunst durch die Wissenschaft predigte; niemand unter den französischen Schriftstellern besaß eine solche dämonische, eigenartige Natur, als dieser rätselhafte Geistesaristokrat, welcher doch treu das ganze Leben des zweiten Kaiserreiches in sich aufgenommen hat und ein so durchaus moderner Poet ist. Viele schwächere Naturen können sich dem Zauber, den dieser Mann ausstrahlt, nicht entziehen, sich zu keiner selbständigen Weltanschauung durcharbeiten, und es giebt falsche Baudelaires, wie es einst Karrikaturen Heines und Byrons gab. Ich werde versuchen, das Wesen dieses Mannes, der auch seinen Freunden teilweise ein Rätsel blieb, zu analysieren, soweit seine Werke und nachgelassenen Schriften es erlauben *).

Charles Baudelaire wurde am 9. April 1821 in Paris geboren als der Sohn eines schon bejahrten Vaters; in seinem späteren Lebensalter zeigte er denn auch jene Grämlichkeit, welche meist den Kindern eigen, deren Eltern schon in reiferen Jahren standen. Sein Vater, ein Bauernsohn aus der Champagne, hatte eine sorgfältige Erziehung genossen und eine Erzieherstelle bei dem Duc de Choiseul-Praslin bekleidet. Seine Geistesrichtung zog ihn zu den Revolutionären, und so konnte er der herzoglichen Familie während der Schreckenszeit große Dienste leisten, welche sie ihm noch unter dem Konsulat dadurch vergalt, daß sie ihm eine angesehene Stellung in der Verwaltung verschaffte. François Baudelaire, der Vater des Dichters, soll auch dem Philosophen, [709] Condorcet das Gift geliefert haben, welches denselben vor der Guillotine rettete. Er war einer der liebenswürdigen Franzosen des "Ancien Régime", welche mit den Jahren immer höflicher und nachsichtiger werden, wahre Moralphilosophen und vorzügliche Gesellschafter, wie man sie im modernen Frankreich kaum mehr findet. Die Feinheit seiner Manieren, seine Urbanität und Herzensgüte erwarben ihm, nachdem seine erste Frau 1817 gestorben war, die Liebe eines noch jungen Mädchens, Madelaine Dufays, deren Abstammung aus dem alten, aber herabgekommenen normannischen Geschlecht gleichen Namens, wahrscheinlich, aber nicht erwiesen ist. Der Dichter selbst glaubte an diese Abstammung, gedenkt aber seiner Vorfahren in eigener Weise: "Meine Ahnen, Narren oder Troddel, in ihren feierlich steifen Gemächern, sind alle als Opfer ihrer stürmischen Leidenschaften gefallen." Die bescheidene Wohnung der Eltern Baudelaires, in der Nähe des Luxembourg, hinterließ in dem Knaben tiefe Eindrücke; die verschnörkelten Möbel, die Pastelle aus der Zeit Ludwig XVI., die antiken Gypsabgüsse, weckten seinen malerischen und plastischen Sinn, und so konnte er später sagen, daß seine erste Leidenschaft die Bilder gewesen. Frau Baudelaire heiratete nach dem Tode ihres Mannes, dem sie fortwährend ein gerührtes Andenken bewahrte, den Obersten und nachmaligen General und Gesandten Aupick, was ihr aber der Dichter, der in dem General den Nachfolger seines heißgeliebten Vaters haßte, lange nicht verzieh. Er äußerte sich einmal: "Wenn man einen Sohn hat wie mich, heiratet man nicht wieder."

Schülererfolge trug der Dichter nicht davon, wie eine Menge begabter Jünglinge in Frankreich. Das Versemachen hinderte ihn am Arbeiten; als Muster galten natürlich die blühenden Romantiker, besonders Sainte-Beuve, als Dichter sonst wenig gekannt, dem der Dichter Zeit seines Lebens eine bewundernde Freundschaft entgegenbrachte. Beide besaßen viele Charakterzüge gemeinsam: die Vorliebe für unbarmherzige Analyse und einen gewissen Mystizismus der sie zum Katholizismus in ein gewisses freundschaftliches Verhältnis setzte. Nach notdürftiger Beendigung seiner Gymnasialstudien sprach der Dichter in seiner Familie den bestimmten Wunsch aus, homme de lettres, Schriftsteller zu werden. Natürlich war die bürgerliche Familie gegen diesen Plan, den er aber eigensinnig aufrecht erhielt. Sein Stiefvater hatte gewünscht, er solle in die diplomatische Carriere eintreten. Auch Baudelaire kannte von früher Jugend an das Einsamkeitsgefühl großer Naturen: "Gefühl der Einsamkeit, von meiner Kindheit an, trotz der Familie, und besonders inmitten meiner Kameraden, – Gefühl, daß es mein Schicksal, ewig einsam zu sein. Und doch lebhafte Lust am Leben und Vergnügen." Sonderbare Träume hegte das junge Dichterhirn; bald wünschte er ein Papst, beonders Militärpapst, bald ein Komödiant zu sein. Drei Jahre kämpfte der Dichter gegen den Entschluß seiner Familie. Er schloß die ersten Jugendfreundschaften mit poetischen Genossen, machte die Bekanntschaft Balzacs, der damals im Zuge war, ein berühmter Mann, oder, wie der vierschrötige Romandichter selbst glaubte, ein Genie zu werden. Aber nicht allein ein Dichter wollte Baudelaire werden, sondern auch als Dandy glänzen. Einer meiner Freunde, der ihn damals kennen lernte, erinnert sich noch genau des Eindrucks, den die vornehme Erscheinung des jungen Poeten auf ihn machte. Er war braun, von Mittelgröße, mager, und glich etwas einem englischen Gesandtschaftsattaché; inmitten des litterarischen Zigeunertums, das damals allerdings noch poetisch sein konnte, behielt er seine Würde und seinen ausgezeichneten Geschmack, und mancher, der den satanischen Dichter kennen lernen wollte, war erstaunt, in ihm einen äußerst höflichen, ja etwas förmlichen Mann zu finden, welcher der Legende durchaus nicht entsprach. Da das Vermögen des Dichters sich nur auf etwa 75000 Frcs. belief, so suchten ihn seine Eltern von Paris zu entfernen. Er mußte eine Reise nach Indien antreten, das Verhältnis zu seinem Stiefvater war unerträglich geworden. Aber er blieb nicht lange in Indien; zwei Monate nach seiner Rückkehr war er volljährig. Das Schauspiel des Meeres, der Anblick der überschwellenden Tropennatur, der südliche Himmel, befruchteten seine Phantasie; ihnen verdanken wir einige seiner schönsten Gedichte. Im Besitze seines Vermögens, begann er nun ein freies Schriftstellerleben; da sein Erbteil aber durch die vornehme Lebensweise, welche er zunächst führte, rasch auf die Hälfte zusammengeschmolzen war, so stellte ihn die Familie unter Curatel, zu seinem großen Glücke, da der Vermögensverwalter ihm ein treuer Freund wurde. Unter den jungen Zeitgenossen erkannte man ihn bald als ein vielversprechendes Talent an; lange bevor sein berühmtes Buch "Les Fleurs du Mal" erschienen war, galt er unter der poesieliebenden Jugend als eine Art Berühmtheit, welche den Offenbarer einer neuen Schönheit mit sicherem Jugendblick erkannte. Eine schöne Seite des französischen Charakters ist die gänzliche Abwesenheit des Neides unter Gleichstrebenden. Seinem malerischen Sinne genügte er durch eingehende Kunststudien; wie sein Meister, der olympische, farbentrunkene Gautier, liebte er die Malerei, als deren lebenden größten Meister er den Farbendichter Delacroix verehrte, von ganzer Seele. Später wurde er ein begeisterter Verehrer Wagners, dessen Tannhäuser er in herrlicher Prosa seinen Landsleuten analysierte; die kleine Broschüre ist das Geistreichste, was über den Tannhäuser und besonders über die berühmte Ouvertüre geschrieben worden.

Aber während Gautier hauptsächlich durch seine schildernde Kritik, durch seinen plastischen Stil zu wirken suchte, ging Baudelaire davon aus, die ewigen Ideen in den Bestrebungen der Meister heraus zu finden; er betrachtete die Gemälde nicht mit den Augen eines Malers, wie Gautier, sondern mit dem Auge des Dichterdenkers, dem die Moden nur aus dem Drang nach einer absoluten, nie erreichten Schönheit zu wechseln scheinen. Die Freude am göttlichen Unvorhergesehenen, am "divin imprévu", war auch die Ursache, daß er sich eine Zeit lang mit Politik beschäftigte, im stürmischen Jahre 1848 [710] was seine Freunde zum Staunen brachte. In seiner Verachtung des Spießbürgers war der Dichter durchaus Romantiker. Endlich im Jahre 1857, trat Baudelaire mit seinen Gedichten vor das Publikum, das schon aus der Revue des deux Mondes einzelne Proben seines Talentes kennen gelernt hatte; er war 36 Jahre alt. Der Erfolg war, was man in Paris einen "succès de scandale" nennt, und das Kaiserreich, welches damals anfing, eine gewisse Sittenstrenge zu heucheln, konnte nicht dulden, daß ein Dichter die öffentliche Moral beleidigte; einige der freiesten Gedichte der Sammlung mußten gestrichen werden. Erst später ward man dem originellen Buche gerecht; der Dichter veröffentlichte später noch kritische Studien über den Romantismus und seine eigenartigen Gedichte in Prosa, poetische Stimmungsbilder von marmorner Formvollendung und echtester Stimmungsgewalt. Diese Gedichte entsprangen aus dem Gefühl, daß die französische Sprache in dem Alexandriner kein geschmeidiges Instrument besitze, um gewisse poetische Stimmungen auszudrücken. Der Lebensabend des Dichters war düster. Seine Schuldenlast hatte sich vermehrt, er wurde, zum Teil wegen seines unregelmäßigen Lebens, krank, und floh nach Brüssel, wo er in einem geistigen Exil dahinlebte, von einer rohen Gesellschaft als Sonderling angestaunt, trotz seiner korrekten Haltung. Sein einziger Freund war sein Verleger Malassis, der sich wegen Bankrotts nach Belgien geflüchtet hatte und dort einen Handel mit Büchern trieb, welche den Lebemännern und Bücherfreunden unter dem Namen "livres belges" bekannt sind. Einsam schrieb der Dichter an einem Buche über Belgien, das er nicht günstig beurteilte. Er hatte geglaubt in Brüssel Ruhe zu finden, aber sein Nervensystem war zerrüttet. Von seiner Mutter, die, Witwe geworden, ein kleines Haus in Honfleur an der normännischen Küste bewohnte, nach Paris zurückgebracht, starb er im Hospital daselbst, am 30. November 1866, im Alter von 45 Jahren, zwei Jahre jünger als Musset.

Man wird seinen Namen nicht vergessen, so lange es eine französische Poesie giebt; er gehört zu den Erziehern des gegenwärtigen Geschlechts in Frankreich, und ist eine ganz eigentümliche Gestalt der Weltlitteratur. Er steht als Dichter und als Denker über seinem Meister Gautier, zu dessen Schule man ihn zählt.

 

      II.      

 

Ich habe Baudelaire eine der originellsten Gestalten der Weltlitteratur genannt; er ist es aber nicht allein als Dichter, sondern überhaupt auch als Vertreter einer alten, künstlich gewordenen, überreifen Gesittung. Er ist der erste bewußte Vertreter jener Geistesströmung, welche man in Frankreich "la décadence" genannt hat, nicht ohne einen gewissen Stolz, der einer Erklärung bedarf. Ähnliche Gestalten bringt jede gealterte Litteratur hervor, und auch uns kann einmal ein solcher Mann, natürlich unter andern Lebensbedingungen, erstehen.

Als Baudelaire die bestimmenden Jugendeindrücke empfing, war der Romantismus in Frankreich gerade daran, sich zu überstürzen. Natürlich war die gesamte Jugend romantisch, wie uns auch Flaubert in der Vorrede zu den Gedichten eines Freundes erzählt; aber da sie die Romantik schon im Jünglingsalter ausgenoß, war zu erwarten, daß sie später andere Wege gehen werde, wie es denn auch geschah. Der durch und durch romantische Flaubert wurde Schöpfer des realistischen, streng künstlerischen Romans mit seiner "Madame Bovary", und Baudelaire entdeckte eine neue geistige Welt, die Nachtseite des modernen Lebens einer großen Stadt, das Häßliche der Überkultur, verschieden von dem Häßlichen, wie es der apokalyptische Victor Hugo in seinem Roman Notre Dame de Paris und in seinen Dramen geschaffen hatte. Hugo war vor allem ein großer Formkünstler, ein genialer Rhetoriker, der sich im Ausdruck nicht beschränken konnte; der Strom seiner glänzenden Alexandriner läßt sich nicht leicht eindämmen; er hat keinen Geschmack, trotzdem er sonst ein guter Lateiner ist. Baudelaire reinigte die Hugosche Form und erfüllte sie mit einem neuen Inhalt. Ihm auch war die Gabe der Unzufriedenheit mit allem Bestehen in die Wiege gelegt worden. Victor Hugo hatte sich mit einem manchmal lächerlichen Selbstvertrauen seinen Gefühlen überlassen; er hielt sich zuletzt für einen Propheten, dem eine soziale Mission zugefallen. Mussets Gedichte entsprangen einem ekstatischen Zustande, und seine Manuskripte ekelten ihn an, wie er uns in dem blitzenden Prolog zu seinem Drama: "La coupe et les lèvres" erzählt. Baudelaire dagegen wollte mit Bewußtsein schaffen, wie Edgar Poe, jede einzelne Schönheit eines Gedichtes sollte berechnet werden. Das Unerwartete in den Wendungen erschien ihm echt poetisch. Daß er jeden einzelnen Vers auf die Klangfarbe hin prüfte, ist natürlich. Seine Verse erkennt man aber auch unter Tausenden. Sonst Spiritualist, erkannte er in der Dichtkunst nur die materielle Schönheit an. Seine Reime klingen prächtig aus. Er besitzt ein wunderbares Auge für die Außenwelt, wie die ganze Generation, welche bei Gautier hatte in die Schule gehen können. Dies lebhafte Gefühl für die Wirklichkeit ist ein guter Tröster für die Künstler einer prunkvollen Zeit, welche dem Auge tausend Schauspiele bietet.

[728] Schon die alten französischen Romantiker unterscheiden sich von unsern deutschen Blaublümlern durch die scharfe Auffassung und Zeichnung der Außenwelt; ihr Katholizismus war daher nur äußerlich. Sie suchten das Mittelalter nicht seiner Lebens- und Glaubenseinheit wegen auf, sondern um seiner Farbenbuntheit willen. Im übrigen waren sie formklare Lateiner mit ihrem Feldgeschrei nach "Lokalfarbe". Man hat Unrecht, die französische Romantik von vornherein pessimistisch zu nennen. Hugo, der Führer, war durch und durch ein Optimist, wie die meisten Franzosen der juste-milieu-Zeit. Er ist ein Menschheitsapostel, für den das Göttermahl hier auf Erden in der Zukunft lacht. Musset weint, zweifelt, stürmt wie ein Jüngling; aber die Liebe kann ihn trösten. Erst die Söhne des Romantismus sind bewußte Pessimisten: Taine, Flaubert, Baudelaire. Die Träume der Väter waren Schäume. Die Söhne sind Geistesaristokraten, welche auf die begeisterungsfähigen Väter mit einer Art Verachtung herabsehen; mit kritischem Herzen treten sie ins Leben. Als Taine im Jahre 1849 wählen sollte, schloß er sich nicht etwa einer politischen Gruppe an, sondern suchte sich die Entstehung des modernen Frankreichs klar zu machen, und aus seinen Studien ging die vielgelästerte Geschichte der französischen Revolution hervor. Die andern seiner Zeitgenossen sind politisch lau und schließen sich in eine Welt der ästhetischen Genüsse ein, indem sie den "bourgeois" verachten und eine immer ausschließlicher aristokratische Kunst der reinen Form anstreben. Man war der aufgeblasenen romantischen Gemeinplätze müde. Béranger, einst der Abgott der Grisetten und Commis voyageurs, erschien wie ein Mann aus einer andern Welt, mit seinen leichtfüßigen, echt gallischen Liedern, welche das Ausland als echte Kinder der französischen Muse bewunderte; seine Weltanschauung galt als philisterhaft. Das junge Geschlecht wollte andere Lieder als diese lüsternen Spottlieder in leichter Sprache. Sie waren eben doch auch Erben einer ganzen flammenden, leidenschaftlichen Litteratur, und konnten dies Erbe nicht los werden, wie Zola, der in bitterem Jammer darüber klagt. Die Kunst veraristokratisierte sich indessen immer mehr. Die Schriftsteller nannten sich in romantischer Art Künstler. Die einzelnen Künste beinflußten einander; fast alle jungen Schriftsteller verkehrten mit Malern und lernten die Natur mit deren Augen betrachten. Man will auch noch "fühlen", wie die Väter, aber nicht mehr mit jedem Gefühl, mit jeder Groschenidee vorlieb nehmen; man wurde wählerisch vor der Schönheit und widmete der Sensation einen unaussprechlichen Kultus. Von Naivetät war keine Rede mehr, und das wußte man und rühmte sich dessen, da ja mit der Naivetät gar leicht ein bißchen Dummheit verbunden sein konnte. Das Wort Dandy nimmt in Baudelaires Munde eine ganz eigene Bedeutung an; ihm ist der Dandy vor allem ein Gentleman, der, aller Gemeinheit der Lebensanschauung fern sich durchaus in einem verständigen Kultus der Schönheit gefällt und sehr intelligent ist. Wie Heine fürchtet Baudelaire immer "düpiert" zu werden; darum liebte er es, die ungeheuerlichsten Paradoxen mit der ruhigsten Stimme vorzutragen. Nichts demütigte ihn tiefer, als die Ansicht der Richter, welche ihm pornographische Absichten zuschrieben. In seiner Reifezeit haßte er das Laster, weil es ästhetisch unschön ist. Auch die Sentimentalität haßte er: "Was das Herz und das Gefühl, nebst anderen weiblichen Schmutzereien, angeht, so denken sie an das tiefe Wort N....s: "Tous les élégiaques sont des canailles!" Das ist der satanische Zug in seiner Natur, der verdorbene Romantismus, der uns hier höhnisch angrinst.

 

      III.      

 

Die Poetik Baudelaires ist die Edgar Poe's, dessen paradoxale Ansichten wir aus einem Essay: "The poetic principle" kennen. Poe behauptet, daß es kein langes Gedicht giebt. Die Seele soll durch Stimmungen erregt werden, und jede Stimmung ist vorübergehend, kann nicht durch die Lânge einer umfangreichen Dichtung bewahrt werden. So besteht das verlorene Paradies nur aus einer Reihe kleinerer Gedichte; nach Stellen, die den Namen Gedicht verdienen, folgen platte, prosaische. Mit der epischen Dichtung ist es aus in unsern Tagen, kein längeres Gedicht wird je wieder populär werden. Ein Gedicht muß nach der Stimmungsgewalt beurteilt werden, nicht nach seiner Länge oder Kürze; doch kann ein Gedicht auch zu kurz sein, wie manche Lieder Bérangers, welche eine einheitliche Stimmung nicht aufkommen lassen. Das poetische Prinzip ist nur die menschliche Sehnsucht nach überirdischer Schönheit, und die Manifestation des poetischen Prinzips wird immer in der Stimmungserregung der Seele gefunden, ganz unabhängig von der Leidenschaft, welche das Herz berauscht, oder der Wahrheit, welche die Vernunft befriedigt. –

Das sind die wesentlichen Ansichten Poes, und [729] Baudelaire erkennt sie ohne Umstände an. Früher, zur Zeit der Romantiker, glich das Gedicht einer riesigen Vase, darum die Hand des Meisters allerlei Gestalten gemeißelt: Volksmassen, Landschaften, Bacchantenzüge, gotische Dome, spanische Granden, Moscheen, niederländische Wirtshausszenen. Bei Baudelaire gleicht es einer kleinen, aber kunstvoll ciselierten Phiole, in der ein berauschender Extrakt verschlossen ist, süßer als der Nektar, welcher aus der Vase überquoll. Baudelaire, der mit den feinsten Sinnen für das leibliche und geistige Genußleben ausgestattet war, trat als Dichter in das moderne Leben mit dem festen Entschlusse, die Poesie da zu suchen, wo sie noch keiner gesucht hatte. Die Väter hatten alle Rosen, Lilien, Veilchen auf dem Parnaß gepflückt, eine reiche Blütenernte; aber sie hatten die Giftpflanzen stehen lassen, deren Blüten doch in Farbenpracht leuchteten. Das fühlte Sainte-Beuve heraus, der auch in seiner Jugend das allen jungen Dichtern bekannte Gefühl der Ratlosigkeit gekannt hatte. Der geniale Musset, der sich seinem Schöpferdrange wie ein Kind überließ, schrieb doch den berühmten Vers:

Je suis venu trop tard dans un monde trop vieux.
                                                                (Rolla.)

In dem Bestreben, neue Bilder zu schaffen, erkrankt Baudelaires Phantasie. Er träumt von einer prächtigen Landschaft, die aber ohne Leben, nur aus Marmor bestünde. Auch der sinnliche Gautier hatte solche Träume. So ist auch Sehnsucht, Weltflucht, der Grundzug dieser Poesie, welche doch die Gegenwart so herrlich in Bildern festhalten kann.

Die "Fleurs du Mal", ein Buch ohnegleichen in der Weltlitteratur, ist kein Buch für naive Seelen. Gautier hat in seinem Albertus die oft zitierten Verse geschrieben:

Et d'abord, j'en préviens les mères de familles
Ce que j'écris n'est pas pour les petites filles
Dont on coupe le pain en tartines.

Das Buch Baudelaires ist ein Werk für Feinschmecker, für Phantasieschwelger, welche das moderne Leben kennen. L'Art pour l'Art ist der Wahlspruch des Dichters, der nichts von einer sozialen Mission wissen wollte. Die äußere Welt ist schön, sie füllt das Herz mit Glanz; aber wenn er die schöne Zeit des Menschenfrühlings emporruft, so geschieht es nur, um sie in Kontrast mit dem modernen Leben zu stellen, wie in dem Gedicht, das so beginnt:

J'aime le souvenir des époques nues
Dont Phoebus se plaisait à dorer les statues.

Vor der Schönheit der äußern Welt vergißt er seinen satanischen Groll. Die Visionen der Tropennatur, die vor seinem Auge auftauchen, hält er in einem herrlichen Sonett fest. Eines seiner vollendetsten Gedichte ist Don Juan in der Unterwelt, eine Gruppe aus schwarzem Marmor. Das Gedicht besteht nur aus fünf vierzeiligen Strophen. Ein wildes Geheul der sich unter dem dunkeln Firmament windenden Fauen folgt dem Helden auf seiner Überfahrt, nachdem er dem Charon den Obolos ausbezahlt. Don Louis weist auf den Sohn, Sganarelle fordert seinen rückständigen Lohn, Elvire, in Trauer, fleht um ein letztes Lächeln; am Steuer sitzt der steinerne Gast, ein Bettler rudert; aber der "Heros", geneigt auf sein Rapier, schaut in die Flut, voller Ruhe, und gewiß, nichts zu bemerken. So geht es zum Gericht! – Diese Don Juangestalt hat noch alle französischen Dichter beschäftigt, von Molière an, und Musset hat seine berühmte Don Juanapostrophe geschrieben, die unsterbliche. Mussets Don Juan ist ein Idealsucher, das er im Weib zu finden wähnt; er ist nicht kalt, wie der satanische Don Juan Baudelaires. Baudelaire ist kein Sänger der Liebe in landläufigem Sinne; er hat vielleicht kein einziges hohes Weib gekannt, er ist ein bitterer Weiberhasser, ironischer noch als der alte Mephisto Schopenhauer, der es so gut verstand, den jungen Leuten die Illusionen zu rauben. Die Frauen spielten keine große Rolle in diesem Dichterleben, das zuletzt voller Not und Elend. Baudelaire verehrt die plastische Schönheit des Weibes. Wie Balzac besaß er einen ausgeprägten Sinn für das Moderne der Frauentracht; er liebte prachtvolle Toiletten; aber nicht sowohl in der Vollblüte als in der herbstlichen Reife oder in der Aurora liebt er die Frauenschönheit. Nur einmal ist es ihm gelungen, den Reiz des Zusammenseins mit der Geliebten zu besingen, in dem Gedicht "Der Balkon", das der Italiener Emilio Praga nachahmte. Heyse hat dessen Gedicht aus dem Italienischen ins Deutsche übertragen. Solche Stimmungen sind selten bei ihm. Er verachtete das Weib, wie er es kannte, als Sumpfblüte der Überkultur, wie er seine eigene Natur verachtet. Als junger Mann hatte er alle Genüsse der lasterhaften Stadt Paris ausgenossen, die Erinnerungen, die verkannten Ideale bedrängen ihn, er schildert diesen Geisteszustand in seinen Gedichten, und so ist auch seine objektive Poesie in diesem Sinne persönlich. Er glaubt an die Sünde, in seinem katholisierenden Mystizismus. Er ist darin durchaus kein Durchschnittsfranzose, aber ein echter "fanfaron de son vice" und somit doch ein echter Gallier. Er ist der aristokratische Juvenal einer faulenden Zeit, wie Zola der demokratische, und er spricht die Sprache eines Virtuosen. Er ist sinnlich, aber nicht von einer gesunden Sinnlichkeit, wie ein schöner, gesunder Heide. Er ist sinnlich wie ein kranker Katholik, der weiß, daß er verdammt ist, und aus diesem Gefühl die schneidende Wonne der Gewissensqual schöpft. Seine Phantasie ist, wenn ich mich dieses Ausdrucks bedienen darf, durchaus katholisch, und seine Bilder rufen gern den ganzen Pomp des katholischen Kultus herauf. Die Blumen verstreuen ihren Duft wie ein Weihrauchfaß, die Sonne ist eine leuchtende Hostie. Er singt in einem Gedicht in spanischem Geschmack: "Dir, meine Madonna, meine Gebieterin, will ich in den Gründen meines Elends einen unterirdischen Altar bauen, und im dunkelsten Winkel meines Herzens, fern allem weltlichen Verlangen und dem Spottesblicke, eine Nische höhlen, ganz umhüllt von Azur und Gold, wo du dich erheben sollst, verwundertes Gebild. Aus meinen Versen, dem reinen Metallgitter, künstlich bestreut mit Rhythmen von Krystall, werde ich für dein Haupt eine Riesenkrone schmieden. Und [730] aus meiner Eifersucht, o meine herrliche Madonna, werde ich dir einen Mantel schneiden, einen Barbarenmantel, steif und schwer, mit Verdacht gefüttert, der wie ein Schilderhaus deine Reize umschließen wird, nicht gestickt mit Perlen, wohl aber mit Thränen. (Fleurs du Mal, p. 174.)

Auch der Natur steht er mit überfeinerten Sinnen gegenüber. Da glüht und leuchtet alles, der berauschende Duft legt sich auf alle Sinne. Der Dichter besaß einen ausgebildeten Geruchssinn; er schwelgte in Düften. Von ihm rührt der Ausspruch her: "Mein Geist schwebt auf den Düften wie der Anderer auf der Musik." Aber sonderbare Empfindungen weckten die Düfte oft in ihm:

Il est des parfums frais comme des chairs d'enfants,
Doux comme les haut-bois, verts comme les prairies.
Et d'autres corrompus, riches et triomphants,
Ayant l'expansion des choses infinies
Comme l'ambre, le musc, le benjoin et l'encens,
Qui chantent les transports de l'esprit et des sens.

Vor allem war es das Moderne, was in diesen Gedichten die Jugend anzog. Denn für jedes neue Geschlecht, das mit frischen Sinnen ins Leben tritt, ist es eine Lebensfrage, wie es sich zur lebendigen Gegenwart, besonders in einer reichen Welt voll mächtiger Eindrücke, verhalten soll. Der Wirklichkeitssinn stumpft sich zumeist ab, wenn die fortschreitende Bildung, das Ansammeln der Geistesschätze, zu denen wir uns eben in ein bestimmtes Verhältnis setzen müssen, überwiegenden Einfluß gewinnen und sich das innere Leben mehr dem geistigen Blicke erschließt. Daß bei einer krankhaft verfeinerten Natur, wie es die Baudelaires war, alle Eindrücke von besonderer Schärfe sein mußten, ist klar, und er verstand es, sie auch festzuhalten. Es giebt wenige Bücher, die einen tieferen Eindruck auf ein jugendliches Gemüt machen, als diese "Fleurs du Mal", besonders wenn man sie in geeigneter Umgebung liest. Alle jungen Leute sind Modernisten. Ich erinnere mich genau der Zeit, da mir das Buch zum erstenmal in die Hände fiel. Es war in Brüssel, das so viele Ähnlichkeit mit Paris hat; ich war zwanzig Jahre alt, und trat bei der Lektüre in eine ganz neue Welt ein. Nicht die offenbaren Paradoxe, die gesuchten Bilder, die Pose, der haut-goût der Gefühle, zogen mich an, sondern die leuchtende Auffassung des modernen Städtelebens, die Stimmungsgewalt, der Landschaftsmaler. Aber wenn diese Poesie auch eine Stimmungspoesie genannt werden muß, so gleicht sie doch durchaus nicht unserer sogenannten Stimmungslyrik, welche mehr Musik giebt als Farbe. Und welch' ein Zauber der Sprache! Der Vers glich durchaus nicht dem Victor Hugos, der ihn doch gleichsam gemeißelt hatte, er war in seiner Wirkung ganz einzig. Ich habe später Gelegenheit gehabt, die Wirkung des Buches auf junge Gemüter zu beobachten, und immer übte es den gleichen Zauber aus; besonders waren es Nordfranzosen und Belgier, welche dem Mystizismus, dem teilweise Geheimnisvollen dieser Poesie mehr Verständnis entgegenbringen konnten, als die Söhne des Südens.

Das Buch wird ein Dokument bleiben für das zweite Kaiserreich. Auf dem Sumpfboden von Paris, in einer Verfalllitteratur, mußten ähnliche Blüten früher oder später aufschießen. Man fühlt bei der Lektüre etwas von dem jagenden Genußleben, der Überreizung des Nervensystems, der Verachtung überlegener und doch ohnmächtiger Geister, welchen alle einfacheren Gefühle wie Wasser zerrinnen, und die sich an die stärksten anklammern müssen. Es liegt eine falsche Atmosphäre über dieser Welt, wie in einer heißen Sommernacht ein rötlicher Dunstkreis von tausend emporzuckenden Lichtern über einer Riesenstadt.

 

      IV.      

 

Es ist schwer, sich die geistige Entwickelung eines Mannes genau vorzustellen, der uns aus seinen Werken nur einseitig und nach dieser Seite hin ganz gereift entgegentritt. Baudelaire ist nicht naiv, nie hat er sich auch nur einem Genusse in naiver Weise überlassen. Er war ein echtes Pariser Kind, und früh in das überhetzte Leben der Großstadt eingeweiht. Nur ihm konnten seine "Tableaux Parisiens" so gut gelingen; es fehlte ihm ein leuchtender Kindheitsmorgen auf heiter-landschaftlichem Hintergrunde; er war nie ein Naturkind, wie die Sand, die kleine Wilde aus der Provinz Berry. Gautier hat uns allerdings einen Essay über den Dichter geschrieben; aber wir erfahren da wenig über sein inneres Leben und sein Werden; er erzählt uns in seiner pittoresken, bilderreichen Sprache, daß Baudelaire als Jüngling schön war und dem Humoristen Sterne glich. Baudelaire bewahrte dem Freunde und Meister Gautier eine treue Freundschaft; mit ihm nahm er eine Zeit lang an den Sitzungen der Haschischesser teil, so daß sich bis heute die Legende erhalten konnte, der Dichter habe sich durch Haschischgenuß das Nervensystem verdorben. Gautier tritt dieser Auffassung entgegen und beweist seine Ansicht aus der Baudelaireschen Schrift, "Die künstlichen Paradiese", einem interessanten Buche, das auch die Bekenntnisse eines Opiumessers von dem bekannten englischen Schriftsteller de Quincey einschließt.

Suchen wir uns die Weltanschauung des Dichters klar zu machen. Sein Tagebuch, welches mir vorliegt, "Mon cœur mis à nu", läßt tiefe Blicke in diese Natur thun, welche durchaus modern und romantisch war.

In keinem Lande giebt es, auch heute noch, so viele Bekenner der Beyleschen Glücksmoral. Der geistreiche erste französische Kosmopolit definierte den Charakter eines Menschen als seine Art und Weise, das Glück zu suchen. Kein Volk erzeugt mehr bewußte Epikuräer, als das französische, und vielleicht ist das System des griechischen Weisen am allerpassendsten für den Charakter des reinen unverfälschten Galliers, wie er, infolge moderner, besonders germanischer Ideen immer seltener wird. Die liebenswürdigsten Epikuräer lebten ohne Zweifel vor der französischen Revolution, als man die soziale Frage in den "petites maisons", bei einem Souper, oder vor einer Orgie, in geistreichen, natürlich philosophi[731]schen Gesprächen behandelte, und mit den gefährlichen Ideen sein Kurzweil trieb, ohne zu bedenken, daß man eines Tages auch daran denken könnte, sie in Thaten umzusetzen. Jene ganze Gesellschaft, die Grandseigneurs und schönen Frauen, lebten in einer Welt, deren Lakaien und Kammerzofen sogar "galante Tournüre" besaßen, und von dieser Welt aus warfen sie selten einen Blick in die Tiefe des Elendes. Vielleicht gehört ein gewisser Grandseigneurleichtsinn und ein hoher Stand dazu, um heute ein echter Epikuräer, de grege porcorum, zu sein. Jedenfalls sind die modernen französischen Epikuräer verbürgert. Baudelaire war kein Epikuräer. "Sie müssen tief gefallen sein, um sich glücklich zu fühlen," schrieb er einst dem seichten Feuilletonpascha Janin, als derselbe Heine angegriffen hatte. Der Dichter geriet über diesen Angriff auf einen Poeten, den er nicht liebte, weil er zu viel lachte, in eine grenzenlose Wut, in der er seine Worte durchaus nicht wählte, er, der sonst ein erklärter Gentleman war und in seiner letzten Zeit an die liebenswürdigsten Gestalten des 18. Jahrhunderts erinnerte. Nur der Schmerz findet in der modernen Poesie einen gewaltigen Ausdruck, nicht die Freude. Der Parnaß ist umwölkt, und aus seinen Wolken zucken Blitze, welche Abgründe erhellen.

Baudelaire ist ein Pessimist, aber nicht wie Schopenhauer; er ist ein Christ. – Er glaubt an die Erbsünde, und meint, er sei ein Katholik, obgleich ein verdächtiger Katholik. Sein eigenes Jugendleben, die Abgründe des Lasters, in die er geschaut, der Zustand der Gesellschaft, lassen ihn die Rettung nur in einer Art aristokratischen Katholizismus erblicken. Wie die deutschen Romantiker endet er auf dem Wege nach Rom. Aber der Dichter besaß keine Nächstenliebe; er verachtete die Menschheit von der Höhe seiner aristokratischen Überlegenheit und zeigte dies in himmelschreienden Paradoxen. Er glaubte nicht an den Fortschritt; er war, wie alle Männer vor 1850, ehe Schopenhauer in Frankreich gelesen wurde, durch Beobachtung einer Welt voll Utilitariern zu seiner Weltanschauung gekommen, wie auch der Dichter Leconte de Lisle. Zu einem Pessimismus, welcher das Mitleid als die köstlichste Errungenschaft betrachtet, konnte und wollte er sich nicht neigen. Wie viele Franzosen, welche sich in der Litteratur auszeichnen, besaß Baudelaire keine eigentliche philosophische Bildung. Er gehört zum Geschlecht der Renés, welche aber in einer demokratischen Zeit leben, wo man wenig Aussicht hat, sein Leben nach einem Schönheitstraum zu gestalten. Wenn Gautier auf Reisen ging, so bewunderte er die Schönheit der äußeren Welt, ohne daß ihn die Menschen viel bekümmerten. Der farbentrunkene Orient, das leuchtende Meer, die Städtebilder an grünen Hängen, alles genoß er mit seinem unvergleichlich organisierten Auge.

Baudelaire hat andere Reiseeindrücke:

Pour ne pas oublier la chose capitale
Nous avons vu partout, et sans l'avoir cherché
Du haut jusques en bas de l'échelle fatale
Le spectacle ennuyeux de l'immortel péché,

La femme, esclave vile, orgueilleuse et stupide,
Sans rire s'adorant et s'aimant sans dégoût.
L'homme, tyran goulu, paillard, dur et cupide
Esclave de l'esclave et ruisseau dans l'égoût.

Als einzige Zuflucht bleibt dem Weisen der Tod, Nirvana oder – die Kunst. An Mephistolachen und Ironie steht Baudelaire dem Frankfurter Philosophen durchaus nicht nach.

[745] So schließt der Dichter sich in das Reich der Schönheit ein; Dichtkunst, Musik, Malerei können ihn allein trösten. Kritiker wird er; es ist unmöglich daß in einem Dichter kein Kritiker stecke, meint er. Er, der arm war, blieb ein Schwärmer für die Schönheit, obwohl er sonst keine Illusionen besaß und an wenig in der Welt glaubte. Er liebte den alten Dandy René-Chateaubriand, der auch nicht in diese Bürgerkönigszeit seiner Jugend paßte. Auch Chateaubriand war eine satanische Natur, wenn er das Leben eine Manie nannte und seine Individualität bis zum Wahnsinn steigerte. Byron ist naiv gegen diese satanischen Lateiner, welche doch so wenig Talent zum Spleen haben, im Besitz einer schönen Erde und einer milden Natur. Byrons Satan ist ein Lichtbringer der Menschheit; Byron endet als Thatmann, nach den Orgien Venedigs. Er will in Thaten dichten, die einzige Dichtungsart, welche heroische Geister für würdig halten, in einer streitlosen Zeit, welche die Geister ermattet und verkleinert hat. Aber Chateaubriand war noch eine naivere Natur als Baudelaire, der in einer ältern Zeit lebte. Aber es giebt Stunden, wo er ein – Heiliger werden möchte, ein Held. Er zitiert das Wort Emersons, des großen Essayisten, des gottestrunkenen, weltverlorenen Pantheisten: The hero is he, who is immovably centred. Aber Baudelaires Energie ist geschwächt; er kann nur zu gewissen Stunden schaffen, an Tagen, deren Reiz er in beredten Wor[746]ten geschildert: "Es giebt Tage, wo der Mann mit einem kräftigen Geiste (Baudelaire schreibt Genie) erwacht. Kaum hat der Schlaf die Augenlider, welche er versiegelt hielt, verlassen, so tritt ihm die Außenwelt mit erstaunlichem Relief, in wunderbarer Klarheit der Umrisse, in wunderbarem Reichtum der Farben entgegen. Die sittliche Welt eröffnet ihm ungeheuere Fernsichten voll neuer Klarheit. Der Mann, den diese Seligkeit unglücklicherweise zu selten und zu flüchtig beglückt, fühlt sich zugleich jünger und mehr Künstler, edler, um es mit einem Wort zu sagen. Aber das Sonderbarste in diesem Ausnahmezustande des Geistes und der Sinne, den ich ohne Übertreibung paradiesisch nennen darf, im Vergleich zu dem schweren Dunkel des Alltagslebens, ist, daß er durch keine wohl sichtbare und leicht erklärbare Ursache hervorgebracht wird."

Ja, er war eine von den Naturen, die das Recht haben, zu sagen: Verachtet nicht die Feinfühligkeit eines Menschen. Die Feinfühligkeit des Einzelnen ist sein Genie. Zum Stoiker hat er kein Talent; er nennt den Stoizismus die Religion, welche nur ein Sakrament kennt, den Selbstmord. Er weiß, woran die Elite des modernen Frankreichs krankt, am Willen. Die Gebildeten sind Genüßlinge geworden, welche vom Geistesmahle nicht das Wissen tragen, welches die Kraft giebt, sondern die Weisheit, welche an allem zweifelt und das bekannte: A quoi bon?! im Munde führt. Immer die gleichen Leidenschaften, die gleichen Bedürfnisse, die gleichen Menschen! "Der Glaube an den Fortschritt ist eine Doktrin für die Faulen, für die Belgier" (die der Dichter ihres praktischen Materialismus wegen bitter haßte). Die Welt besteht aus Leuten, welche nur gemeinsam, in Haufen, denken können. "Groß sind unter den Menschen nur der Dichter, der Priester und der Soldat: der Mann des Sanges, der Mann, der segnet, der Mann, der opfert und sich selbst opfert. Der Rest für die Peitsche." So weit führt ihn die Verachtung der Masse. In diesem Sinne ist er ein Romantiker, wie die Deutschen, welcher mit den Mitteln der Bildung die Reaktion herbeiführen will. Nur neigte er nicht zu einem Lebensgenuß, wie der gastronomische Katholik Friedrich Schlegel; er <endigte> als ein Asket, dessen Tagebuch eine erschütternde Beichte für jedermann ist, welcher das menschliche Herz versteht.

Wie ich erwähnt habe, hat der Dichter die Frauen hart beurteilt, härter noch als Schopenhauer; er glich darin seinem Freunde Delacroix, der, in seiner Jugend ein eleganter Lebemann, sich in späterem Alter ganz in seine Arbeit einschloß, froh, der Stürme entronnen zu sein. Die Liebe erschien dem Dichter zuletzt als Sünde, und die Sand, ein weiblicher Prudhomme der Unsittlichkeit, ist ihm zuwider, weil sie durchaus Französin, eine begeisterte Prophetin der Zukunft, welche nicht einmal das Lächerliche fürchtet, in einem Lande, wo es einst tötlich schien. Sie, die nie einen selbständigen Gedanken hegte, sondern nur die Gedanken des Mannes, welcher gerade ihr Geliebter war, mußte ihm als sein eigener Antipode erscheinen. Schon ihre Poetik, das planlose Schaffen, die behagliche Weitschweifigkeit, der naive Köhlerglaube an den Fortschritt mußten dem Schüler Edgar Poes ein Gräuel sein. Die Natur Sainte-Beuves sagte ihm am meisten zu; er nannte sich des Kritikers litterarischen Sohn, und dieser behandelte ihn wie ein nachsichtiger Vater und nannte ihn: Mein teures Kind. Auch Sainte-Beuve hatte seine Periode glühender Sinnlichkeit hinter sich: "Sie haben Recht, meine Dichtungen gleichen den Ihrigen; ich hatte von derselben bitteren Frucht genossen, die immer voller Asche," bekannte der mystisch-sinnliche Sainte-Beuve, der bis an sein Lebensende dem Ewig-Weiblichen einen intimen Kultus widmete. Baudelaire gehörte zu den Männern, welchen die Herzensneigungen durch den Geist kommen, und er wußte es.

Baudelaire langweilte sich unter den Franzosen, weil alle Voltaire glichen; dieser und die Sand sind die Schriftsteller, die er herzlich haßte. "Emerson hat Voltaire unter seinen "representative men" vergessen. Er hätte ein hübsches Kapitel schreiben können mit dem Titel: Voltaire oder der Antidichter, König der Maulaffen, Fürst der Oberflächlichen, Antikünstler, der Prediger der Thürhüter." Solch eine Strenge für den großen Kämpfer, den allerdings auch der große Carlyle den "poor philosopher" nennt!

Voltaire ist in der That ein "representative men" der französischen Nation, genau wie Molière, der seines gesunden Menschenverstandes wegen auch nicht die uneingeschränkte Bewunderung des Dichters besaß. Voltaire ist allerdings kein Dichter, und, wie das französische Volk im allgemeinen, kein Philosoph. Er ist der größte Litterat, der je gelebt hat, und dabei gerade genug Geschäftsmann und Weltmann. Er ist Erbe einer Epoche, nicht ein Prophet, wie Rousseau, und, um mit einem Erbe aufzuräumen, braucht man Geist und wieder Geist, und Witz, welcher aber, wie aller Witz selten in die Tiefe gehen kann. Es fehlt ihm der historische Sinn, wie dem ganzen Jahrhundert, wie auch unserem Goethe. Voltaire ist nüchtern, wie die ganze optimistische Gesellschaft, la bonne compagnie, für welche er schrieb, und deren Kammerzofen oft das galanteste Französisch schreiben können. Er ist ein Fortschrittsmann, der die Schönheit vielleicht nur in einer Konversation hervorzuzaubern versteht, denn die Konversation ist sein Kunstwerk. Noch nie war eine Welt so poesielos, wie die Voltaires; man begreift den Enthusiasmus, mit dem der herzensjunge Rousseau begrüßt wurde. Voltaire ist der Gallier par excellence, spitzig, Weltmann, liebenswürdig für die Damen, seicht, resignierter Optimist quand même, und er mußte dem Pessimisten Baudelaire ein Greuel sein. Und Voltaire war eine Religion in Frankreich! Der Weise lacht nie, war eines der Baudelaireschen Paradoxe. Aber alles hätte er dem Schöpfer der "<Pucelle>" verziehen, wenn er nur ein Dichter, ein Offenbarer der Schönheit gewesen wäre. Was ist nun schön für Baudelaire! In seinem Tagebuch "Fusées" schreibt er: "Ich habe die Definition des Schönen, meines Schönen, gefunden. Es ist etwas Glühendes und Trauriges, etwas ein wenig Unbestimmtes, das der [747] Konjektur Spielraum läßt. Ich werde, wenn man will, meine Ideen auf einen sichtbaren Gegenstand anwenden, z. B. auf den interessantesten einer Gesellschaft, auf ein Frauenantlitz. Ein verführerischer und schöner Frauenkopf ist etwas, das uns zugleich Träume von Lust und Wonne erweckt, aber in unbestimmter Weise, der uns die Idee der Melancholie, der Müdigkeit, ja der Sattheit, nahe bringt, oder auch die Idee des Gegenteils, das Verlangen nach dem Leben, mit einer zurückströmenden Bitterkeit verbunden, wie wenn sie von Entbehrung oder Verzweiflung käme. Das Geheimnisvolle und das Bedauern sind ebenfalls Charakterzeichen des Schönen. Ein schöner Männerkopf hat nicht nötig, vielleicht in den Augen ausgenommen, diese Idee der Lust zu wecken, welche bei einem Frauenantlitz eine um so anziehendere Herausforderung, als er im allgemeinen melancholischer ist. Aber in diesem Kopf wird sich auch etwas Glühendes und Trauriges, geistige Bedürfnisse, dunkel zurückgedrängter Ehrgeiz, die Idee einer grollenden unbeschäftigten Macht, manchmal die einer rächenden Stumpfheit (Glätte), denn das Ideal des Dandy ist bei dem Gegenstand nicht zu vernachlässigen, manchmal auch – und dies ist eines der interessantesten Charakterzeichen der Schönheit – das Geheimnisvolle, und (damit ich den Mut habe zu gestehen, bis zu welchem Punkte ich mich modern in ästhetischen Dingen fühle), das Unglück ausdrücken. Ich behaupte nicht, daß die Freude sich nicht der Schönheit einen könne; aber ich behaupte, daß die Freude eine der gewöhnlichsten Zierden, indes die Melancholie gewissermaßen die glorreiche Genossin derselben ist, bis zu dem Grade, daß ich kaum (wäre mein Hirn ein Zauberspiegel?) einen Typus der Schönheit begreife, <in dem> sich nicht die Idee des Unglücks ausdrückte. Gestützt auf diese Idee, andere würden sagen davon besessen, wird man begreifen, daß es mir schwer würde, nicht zu schließen, daß der vollendetste Typus männlicher Schönheit Satan ist, wie ihn Milton schuf."

Man denke sich neben einem solchen Ideal die griechischen Götter, die heiter in sich Ruhenden, mit den friedensvollen weißen Gliedern, und man hat zwei Welten vor sich, die unruhige moderne, und die leuchtende Frühlingswelt der Menschheit.

Wie er die moderne Frauenschönheit auffaßte, beweist folgende Stelle: Zwei Frauen wurden mir vorgestellt, die eine eine bäurische Matrone, widerwärtig durch Gesundheit und Tugend (sic), ohne Haltung und Blick, kurz, welche nur der einfachen Natur alles schuldet; die andere eine der Schönheiten, welche die Erinnerung beherrschen und bedrücken, ihrem tiefen eigenartigen Reiz die Beredsamkeit der Toilette einend, Herrin ihres Ganges, bewußte Herrscherin ihres Selbst, mit einer Stimme, wie ein gestimmtes Instrument, und Blicken, die nur das ausdrücken, was sie wollen. Meine Wahl dürfte nicht zweifelhaft sein, und doch giebt es pädagogische Sphinxe, die mir vorwerfen würden, ich verfehlte mich gegen die klassische Ehre."

Ich habe diese beiden Stellen erwähnt, weil sie die Ansichten eines großen Teils der französischen Gebildeten des 19. Jahrhunderts ausdrücken. Auch Balzac zog der Venus von Milo eine Pariserin vor, elegant, fein, kokett, die Schultern in einen langen Shawl gehüllt, wie durch eine Bewegung des Ellenbogens, eine Pariserin, welche mit flüchtigem Fuß zu einem Stelldichein geht, den Spitzenschleier von Chantilly über die Nasenspitze gezogen, und das Haupt neigt, daß man zwischen Hut und Shawl den elfenbeinernen Hals bemerken kann, auf dem sich, im Lichte, anmutig zwei oder drei rebellische Löckchen winden. So erzählt Gautier in seiner pittoresken Studie über Baudelaire, und fügt als alter Heide hinzu, daß er für sein Teil die Venus von Milo, welche nach neuesten Forschungen gar eine Nike sein soll (eine Siegesgöttin ist sie jedenfalls!) vorziehe. Baudelaire verehrte Balzac als den Meister des modernen Romans; aber von den Realisten der Malerei wollte er nichts wissen, und er verteidigt sich unwirsch gegen den Vorwurf, den man ihm oft machte, auch er gehöre zu den Realisten, er, der doch sein ganzes Buch nach einer vorgefaßten Idee gleichsam komponierte und das Häßliche nur schilderte, um das Böse zu zeigen. In dieser Anschuldigung sah er einen neuen Beweis für die Unwissenheit seiner Landsleute auf ästhetischem Gebiete.

Bevor ich jedoch mein Urteil über den Dichter und sein Verhältnis zur französischen Jugend abschließe, will ich einige seiner Gedichte in Prosa anführen, wenn auch eine Übersetzung der marmorschönen Seiten kaum eine richtige Idee von deren Vollendung geben kann.

                                                          Das Confiteor des Künstlers.
      Wie durchdringend sind die Dämmerungen der Herbstestage, ach, durchdringend bis zum Schmerze. Denn gewisse köstliche Gefühle giebt es, deren Unbestimmtheit nicht die Tiefe ausschließt, und kein schärferer Stachel, als der des Unendlichen. Welch' große Wonne, seinen Blick in die Weite des Himmels und des Meeres zu versenken. Einsamkeit, Schweigen, unvergleichliche Keuschheit des Azurs! Ein lebendes Segel am Horizont, das durch seine Einsamkeit und Kleine mein unheilbares Sein nachahmt; eintönige Melodie der Flut; all diese Dinge denken durch mich, oder ich durch sie (denn in der Größe der Träumerei verliert das Ich sich schnell!); sie denken, sag' ich, aber in musikalischer, pittoresker Weise, ohne Spitzfindigkeiten, ohne Syllogismen, ohne Schlußfolgerungen. Und dennoch werden diese Gedanken, ob sie von mir ausgehen oder sich von den Dingen losreißen, bald zu tief. Die Energie der Lust schafft Unbehagen und wirkliche Qual. Meine übermäßig gespannten Nerven geben nur noch mißtönige schmerzliche Schwingungen.
      Und nun schlägt mich des Himmels Tiefe nieder; seine Klarheit erbittert mich. Die Gefühllosigkeit des Meeres, die Wandellosigkeit des Schauspiels empören mich. Ach, man muß ewig leiden, oder ewig das Schöne fliehen. Natur, Zauberin ohne Mitleid, immer siegreiche Rivalin, laß mich. Hör' auf, mein Verlangen, meinen Wunsch zu versuchen. Das Studium des Schönen ist ein Zweikampf, wo der Künstler vor Schrecken aufschreit, ehe er besiegt!"

Welch' ein durchaus lateinischer Pantheismus, klar, ohne jedes Geheimnis. Die Franzosen sind eben nicht umsonst Erben einer südlichen Zivilisation!

                                                                    Der Hafen.
      Ein Hafen ist ein reizender Aufenthalt für eine Seele, die der Lebenskämpfe müde. Die Weite des Himmels, der bewegliche Bau der Wolken, des Meeres wechselnde Färbungen, das Schimmern der Leuchttürme sind ein wunderbar geeignetes Prisma, um die Augen ohne Ermüdung immer zu erfreuen. Die schlank[748]aufstrebenden Formen der Schiffe, mit wirrem Tauwerk, denen sich in harmonischen Schwankungen die Woge andrängt, dienen dazu, den Geschmack des Rhythmus und der Schönheit zu unterhalten. Und noch besonders giebt es eine Art geheimnisvollen und aristokratischen Genusses für den, der keine Neugier und keinen Ehrgeiz mehr besitzt: die Betrachtung all der Bewegungen Kommender und Gehender, derjenigen, welche noch Kraft und Wunsch des Willens haben zu reisen oder sich abzumühen, indes man auf der Veranda liegt, oder am Damme angelehnt steht.

 

      V.      

 

Fassen wir das Urteil über Charles Baudelaire zusammen: Er ist ein Romantiker, aber weit mehr im deutschen Sinne, als seine geistigen Väter es waren, welche durchgehends echte Lateiner sind und deshalb fremden Einflüssen ziemlich oberflächlich gegenüberstehen, aber deswegen eine große Originalität entfalten konnten. Selbst Musset, der französische Byron, ist hiervon nicht ausgenommen; auch er ist ein durchaus nationaler Poet, seine Sentimentalität durchaus französisch – weinerlich, und sein Witz, sein Weltmannstum erinnern manchmal geradezu an die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, obgleich seine Phantasie durchaus modern im Sinne des 19. Jahrhunderts ist. Wie die Romantiker trat Baudelaire in das Leben mit dem festen Entschluß, es in poetischer Weise auszuleben, sich ein Leben zu dichten. Wie jene wollte er alle Genüsse kennen, ehe er sie schilderte. Er war und blieb was wir einen Märtyrer der Phantasie nennen, trotz seiner Absichten kein Lebenskünstler, wie es deren in Frankreich, dem klassischen Land der Renten und gesellschaftlichen Formen, wohl immer geben wird. Nach dem Schönen im Leben trachtend, mußte er mit dem Leben in Widerstreit geraten, von dem er sich nur dadurch rettete, daß er sich in eine ästhetische Einsamkeit verschloß und seine Empfindungen und Gefühle hegte und pflegte, wie Schätze, ohne darauf zu achten, daß dieser schwelgerische Genuß ihn vereinzeln und krank machen mußte. Wie in eine Wolke gehüllt ging er durchs Leben, und seine Verachtung der Utilitarier, welche damals gerade von sehr abstoßender Art waren – die Abenteurer des andern Kaiserreichs herrschten in Staat und Gesellschaft – besaß kein Gegengewicht. Er mußte, wie Flaubert, den ganzen Fluch der Übergangszeit tragen; während geistige Neigungen und die Überlieferung auf romantische Bahnen wiesen, konnte er sich doch dem herrschenden Geiste der Analyse nicht entziehen. Da er nicht fruchtbar war, ein Grübler, der jedes Sonett immer wieder umschmiedete, so wurde er zu einem jener Selbstquäler, welche sich mit geheimer Wonne kreuzigen, um nur das aristokratische Vergnügen der Selbstbeobachtung ganz ausgenießen zu können. Das romantische Feuer, welches einst in Massen dichten Rauchs bei den Vätern emporgeloht war, schwillt bei diesem Geschlecht zu einem kleinen, diamantklaren Feuerlein zusammen. Er kann nie, auch in seinen heitersten, schönheitsatmenden Gedichten populär werden, wie Victor Hugo, der, auch ein großer Künstler, sein langes Leben hindurch ein Optimist von fast offiziellem Gepräge blieb. Selbstquäler sind fast immer Ausnahmenaturen, und Baudelaire ist der Typus des Heautontimorumenos. Wenn andere Dichter die Gefühl- und Denkweise einer ganzen Gesellschaftsgeschichte, ja eines Volkes, auskünden, so ist er, und mit ihm ein ganzes Dichtergeschlecht, der Sänger überfeiner, etwas verdorbener Naturen, welche vor allem zu sehen vermögen, eine Eigenschaft, welche hohe Kultur fast immer verleihen wird. Sein Ideal der Schönheit ist, wie wir gesehen, durchaus aristokratisch; es gleicht dem Kopf der Mona Lise des göttlichen Leonardo, der auch unter den Meistern der Renaissance der modernste war, und grübelte, wo die andern sich ihrer unvergleichlichen Natur überließen. Er trägt jenes geheimnisvolle Lächeln um die Lippen, welches so viele Gedanken erweckt. Baudelaire ist angekrankt, weil er einer Verfallzeit angehört; er weiß es; er ist der erste bewußte Vertreter der "décadence" in Frankreich, und rühmt sich dessen, weil eine solche eben viel reicher an eigentümlichen Geisteszuständen.

An ihm können wir beobachten, wie germanische Ideen immer nur unter gewissen Bedingungen in Frankreich gedeihen können. Der französische Geist ist ausgezeichnet im Anordnen von Ideen, im Verschwenden eines Geisteserbes, aber mißtrauisch nach außen, und fremde Theorien werden immer eine ganz eigene Anwendung bei dieser Nation finden. Sonderbar bleibt es immerhin, daß Baudelaire bei dem rhetorischen Sinn der Nation, welche Rhetorik gar leicht für Poesie nimmt, wenn nur ihr Ausdruck voll und gerundet, so viele Schüler finden konnte. Vielleicht wirkt hier das allgemeine Ergänzungsgesetz, nach dem eben eine Nation die Mängel ihrer geistigen Begabung durch eine übertriebene Anerkennung der entgegengesetzten Werke zu verdecken sucht. Baudelaires Katholizismus ist ein ähnliches Phänomen, wie der Liszts, des musikalischen Schönheitsbacchanten. Ein französischer Kritiker hat hervorgehoben, daß der Vers Baudelaires manchmal an den Dantes erinnere; er hat Recht. Sainte-Beuve hat einmal bemerkt, Goethe habe sich in seiner Jugend schon darauf vorbereitet, ein Mann von 82 Jahren zu werden. Daran dachte dieses ganze Geschlecht, dessen Vertreter der Dichter ist, nicht; es wollte leben, leben! Der Venusdienst schlägt natürlich in Verachtung des Weibes um, von dem er nur die Hetäre kennt, welche im modernen Paris gar oft die Rolle einer athenischen spielen konnte, bis der Einfluß der Finanz ein geistiges Niveau der Dirne schuf. Baudelaire verachtet das Weib, weil es intellektuell niedriger steht, als der Mann, und von seiner moralischen Größe will er nichts wissen, weil gerade diese es verhindert, immer ästhetisch zu sein. Er ist ein Verfechter der Individualität à outrance, und darin durchaus nicht Franzose, den er ein gezähmtes Hühnerhoftier nennt. Die allgemeine Anerkennung der Modeautorität, des Tagesschriftstellers, der Tagesmodedame, wie sie in Frankreich auftritt, ist ihm ein widerwärtiges Schauspiel, ein Zeichen geistigen Tiefstandes.

Sein Einfluß auf das gegenwärtige Geschlecht ist übergroß gewesen, und besonders wares es die dich[749]terisch veranlagten Köpfe, welche diese zusammengedrängte Poesie mit Entzücken genossen. Der haut-goût seiner Gefühle erschien den jungen Köpfen nicht nur ein Zeichen der geistigen Überlegenheit, sondern einfach der Genialität, und Baudelaire gehört zu jenen geheimnisvollen Naturen, welche wirklich einen unerklärlichen Zauber ausüben und schwächere Geister für ein ganzes Leben zeichnen. Er ist schon ein Manierist, wie schon seine Kunstanschauungen beweisen, und seine Nachfahren haben seine Manier noch übertrieben und eine Gallimathiaspoesie geschaffen, welche entweder Musik oder Malerei sein will, aber ja keine Gedanken ausdrücken darf. Auch die Heinischen Nachahmer verdarben die Litteratur, indem sie die kleinen Lieder, welche aus gewissen Gründen eben so leicht zu kopieren waren, nur so aus dem Ärmel schüttelten. Baudelaire ist durchaus ein Kind seiner Zeit; sein Pessimismus ist nur anderer Färbung als der ironische Renans, des geistigen Jongleurs. Alle seine Zeitgenossen teilen seine Vorliebe für die Analyse: Taine, Flaubert, und später Emile Zola. Wie Stendhal ist er eine durchaus zusammengesetzte Natur: Romantiker, Realist, ein Stück Philosoph, und dies giebt seiner Physiognomie mit dem eigentümlichen Munde, einen geheimnisvollen Zug. Er ist modern, weil er, als Erbe einer reichen, dem Verfall geweihten Zivilisation, viele Geistesströmungen in sich vereinigt und sie abwechslungsweise sein Herz befruchten läßt. Sein Kultus des Schönen, oder dessen, was er als schön betrachtet, und seine würdige Haltung in den Tagen seiner Armut nach seiner stürmischen Jugend, weisen ihm unter seinen naturalistischen Zeitgenossen allein schon einen hohen Platz an, auch wenn er nicht der unfehlbare Künstler und große Poet gewesen wäre.

 

 

[Fußnote, S. 708]

*) Baudelaires Werke sind, außer seiner meisterhaften Übersetzung Poes: Fleurs du Mal.   Poèmes en Prose et Les Paradis Artificiels.   L'Art-Romantique.   Curiosités Esthétiques.   Oeuvres Posthumes.   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Das Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes.
Jg. 58, 1889:
Nr. 45, 2. November, S. 708-710
Nr. 46, 9. November, S. 728-731
Nr. 47, 16. November, S. 745-749.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Magazin für die Literatur des Auslandes   online
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Zeitschriften-Repertorien

 

Stark überarbeitet in

 

 

 

Literatur: Weigand

Bourget, Paul: Psychologie contemporaine. Notes et portraits. Charles Baudelaire. In: La Nouvelle Revue. Bd. 13, 1881, 15. November, S. 398-416.
URL: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/cb34356973m/date1881
URL: https://archive.org/details/lanouvellerevue02unkngoog

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Desmarais, Jane / Weir, David (Hrsg.): The Oxford Handbook of Decadence. Oxford 2022.

Heitsch, Dorothea: Wilhelm Weigand's Montaigne. In: Montaigne Studies An Interdisciplinary Forum 20.1-2 (2008), S. 79-89.

Kafitz, Dieter: Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2004 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 209).
Vgl. S. 347.

Keck, Thomas: Der deutsche "Baudelaire". 2 Bde. Heidelberg 1991.

Kuhn, Irène: La naturalisation d'un "fanfaron du vice". Les débuts de Baudelaire en Allemagne. In: L'Année Baudelaire 8 (2004), S. 21-38.

Kuhn, Irène: Wilhelm Weigand und das erste Confiteor de l'artiste in deutscher Sprache. Ein dekadenter Dichter wird salonfähig. In: Baudelaire und Deutschland – Deutschland und Baudelaire. Hrsg. von Bernd Kortländer u.a. Tübingen 2005 (= Transfer, 19), S. 194-206.

Reents, Friederike: Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert. Göttingen 2015.

Vouilloux, Bernard: Le tournant "artiste" de la littérature française. Écrire avec la peinture au XIXe siècle. Paris 2011 (= Collection "Savoir lettres").

 

 

Literatur: Magazin

Berbig, Roland: Theodor Fontane im literarischen Leben. Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine. Berlin u.a. 2000 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, 3).
S. 266-272: Magazin.

Hellge, Manfred: Der Verleger Wilhelm Friedrich und das "Magazin für die Literatur des In- und Auslandes". Ein Beitrag zur Literatur- und Verlagsgeschichte des frühen Naturalismus in Deutschland. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 16 (1976), Sp. 791-1216.

Kafitz, Dieter: Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2004 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 209).
Kap. III.2: "Das Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes" / "Das Magazin für Litteratur" (S. 318-348).

Kuhbandner, Birgit: Unternehmer zwischen Markt und Moderne. Verleger und die zeitgenössische deutschsprachige Literatur an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2008.

Rosenstein, Doris: Zur Literaturkritik in deutschsprachigen Zeitschriften zwischen 1870/71 und 1881/82. In: Deutschsprachige Literaturkritik 1870 – 1914. Eine Dokumentation. Hrsg. von Helmut Kreuzer. T. 1: 1870 – 1889. Frankfurt a.M. 2006, S. 5-26.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer