Maximilian Bern

 

 

Deutsche Lyrik seit Goethe's Tode

Vorwort.

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Bern
Literatur: Anthologie

 

[III] Dieses Werk, das sich in seiner äußeren Form sehr schlicht, wenn auch würdig präsentirt, ist nicht bestimmt, irgend welcher goldglänzenden Buchbinderarbeit Concurenz zu machen, um als eine Art Zimmerschmuck zwecklos unter anderen Nippsachen vieler Salons und Boudoirtische herumzuliegen, sondern soll als ächtes Volksbuch das Beste vom Besten Jedermann leicht zugänglich machen. Ja, ich hoffe sogar, daß es dieser reichhaltigen, billigen Anthologie gelingen werde, auch die neuere Poesie in die Hütten der Armuth zu leiten, die keines der kostbaren Einzelwerke und ebenso keine der theueren Chrestomathieen anzukaufen in der Lage ist.

Was die Auswahl der Gedichte betrifft, so war ich, indem ich zumeist die noch weniger bekannt gewordenen bevorzugte, in erster Linie darauf bedacht dem Leser ein Bild von den Stoffen, Stimmungen und Formen zu geben, in denen sich die Dichter der nachklassischen Periode ergehen. Ich biete – wie gar kein ähnliches Werk – eine geradezu imponirende Reihe von Namen. Mancher Schriftsteller, den ich vielleicht übergangen hätte, ist in diesem Buch vertreten, weil irgend eines seiner Geidchte einem bestimmten, für unsere Zeit charakteristischen Accord, der meiner Sammlung sonst gefehlt hätte, den wirksamsten Ausdruck verleiht. Es war mir darum zu thun, dem Leser von der Mannigfaltigkeit der neueren Lyrik eine Vorstellung zu geben, damit er nicht nach wie vor in die ungerechtfertigten absprechenden Urtheile einiger blasirter Literarhistoriker einstimme und Diejenigen Epigonen schelte, deren Schöpfungen die Liederdichtung des vorigen Jahrhunderts nach jeder Richtung hin weit überragen.

Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt hat die deutsche Lyrik an originellen Anschauungen, an Ideenfülle, an ächter Empfindung und Formvollendung gewonnen. Zwischen der Zeit, in der Ludwig Tieck ausrief: "Süße Liebe denkt in Tönen, denn Gedanken stehn zu fern", und den Jahren, in welchen Hieronymus Lorm selbst seinen Liebesliedern die tiefsten Gedanken zu Grunde gelegt hat, ist manches eigenartige herrliche Talent entstanden, auf das die unsterblichen Heroen der classischen Literatur mit Stolz herabzusehn irgend welche Ursache hätten.

Trotzdem auch das eigentliche Lied sich wunderbar weiterentwickelt hat – ich brauche wol auf Rückert, Heine, Uhland, Th. Storm, Mörike, Jul. Sturm, Eichendorff, R. Hamerling, H. Lingg, Betty Paoli, Rodenberg, Martin Greif, Ada Christen u. s. w. nicht erst hinzuweisen [IV] – hat sich, wie die Zeit, in der wir leben, auch die Poesie immer ernster gestaltet. Sie ist männlicher, gedankenvoller geworden, indem sie innigere Fühlung mit dem wirklchen Leben gewonnen hat . . . .

Da im vorliegenden Sammelwerk auch die jüngsten, ihrer Eigenart halber beachtenswerthen Talente vertreten sind, kann sich der Leser aus den Belegen selbst das klarste Urtheil über die deutsche Lyrik seit Goethe's Tode bilden. Er wird sich überzeugen, daß die moderne Wissenschaft und Philosophie, daß alle Errungenschaften der letzten Jahre auch an der Poesie nicht spurlos vorübergegangen sind. Manchem schönen Gedicht merkt man es an, daß es zu einer Zeit entstanden, in welcher der Dichter am Waltrande außer dem uralten Geflüster der Bäume auch das geheimnißvolle Klingen windbewegter Telegraphendrähte vernimmt und in der an den Gärten, die "überm Gestein verwildern" und an Brunnen, die "verschlafen rauschen", nicht mehr der Hornschall des Postillons, sondern wie ein Weckruf das hastige Dampfroß vorüberzieht.

 


 

 

Zur zehnten, verbesserten Auflage.

 

Der ungewöhnliche Erfolg dieses seit 1877 erschienenen, so rasch populär gewordenen Buches hat mich veranlaßt, dasselbe aus Dankbarkeit für die glänzende Aufnahme, die ihm überall zu Theil geworden, wesentlich umzugestalten und zu verbessern. – Die vorgenommenen Veränderungen sind so groß, daß die nun vorliegende Ausgabe dem Werk selbst für den Besitzer einer der früheren Auflagen fast den vollen Reiz einer ganz neuen Anthologie verleiht.

Manchem mir persönlich befreundeten Collegen mußte ich beim Neudruck leider selbst ein bescheidenes Plätzchen verweigern. Der beschränkte Raum, schwerwiegende lyrische Novitäten der letzten Jahre und die gebotene Rücksicht für hervorragende Talente, die durch Hinzufügung neuerer Beiträge schärfer charakterisirt werden sollten, sowie für geniale halb verschollene, verstorbene Poeten – wie Herm. v. Gilm, J. E. Hilscher, Aug. Wolf etc. – nöthigten mich dazu.

Ich durfte bei der Umarbeitung des vielgerühmten Sammelwerkes nur den literarischen Werth desselben im Auge haben. Mein redlicher Wille, mein künstlerisches Gewissen, mein redactionelles Gerechtigkeitsgefühl und die innige Wärme, mit der ich mich in meine Aufgabe vertieft, bürgen mir dafür, daß ich niemand absichtlich Unrecht gethan. Kein Einsichtsvoller – und mag er selbst dabei zu Schaden gekommen sein – wird mir einen Vorwurf daraus machen, daß in meinem Buch, wie im Leben beim Kampfe ums Dasein, der Stärkere den Schwächeren verdrängt.

Im October 1886.                                                 Maximilian Bern.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Maximilian Bern: Deutsche Lyrik seit Goethe's Tode.
Neue Ausgabe. Zehnte, verbesserte Auflage.
Leipzig: Reclam o.J. [1886]. S. III-IV.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015014853652
URL: https://www.google.de/books/edition/Deutsche_Lyrik_seit_Goethe_s_Tode/MDCLA6kvIB8C   [14. Aufl.]

 

 

Bibliographie der deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 – 1914

 

 

 

Literatur: Bern

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Felten, Georges: Diskrete Dissonanzen. Poesie und Prosa im deutschsprachigen Realismus 1850-1900. Wallstein Verlag 2022.
Vgl. S. 297-334.

Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a.M. 2001 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1510).

Häntzschel, Günter: Lyrikvermittlung durch Anthologien im Jahr 1890. In: Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Hrsg. von Robert Leroy u.a. Bern u.a. 1991, S. 147-169.

Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Bd. 2. München 1993, S. 213-224 (Art. Maximilian Bern).

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u.a. 2004.

Stockinger, Claudia: Paradigma Goethe? Die Lyrik des 19. Jahrhunderts und Goethe. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 11), S. 93-125.

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysedimensionen. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer