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Texte zur George-Rezeption
Texte zur Theorie und Rezeption des Symbolismus
Ein junger Dichter wünscht, daß ich sein Erstlingswerk in die Litteratur einführe. Ein solches Vertrauen zu mir kann ich nur rechtfertigen, wenn ich mich nicht auf ein bloßes Wort der Ermunterung beschränke, sondern auch zu erfassen suche, ob die Eigenart des Dichters eine Zukunft verheißt, ob sie krank oder gesund und wie sie in die Entwicklung unsres poetischen Lebens einzureihen ist. Ein flüchtiger Blick in das poetische Skizzenbuch schafft die Ueberzeugung, daß die Seele des jungen Poeten sich noch in gährender Wallung befindet, aber schon deutet dieses und jenes Gedicht, dieser und jener Zug darauf hin, daß wir es mit Zeugnissen für eine längere Entwicklung zu thun haben, eine Entwicklung, die aus rohem Durcheinander, wenn auch nicht stetig, wie mir scheint, zu stillerer Geklärtheit fortschreitet. Vom ästhetischen Standpunkt aus hielte ich es für gut, wenn die Sammlung um die Hälfte ärmer wäre, unser Genuß wäre um ebenso viel reicher, um der Individualität willen [VIII] aber hat eine Vollständigkeit, wie sie der Verfasser bietet, ihr volles Recht, sobald die Individualität sich als irgendwie bedeutsam darstellt. Und das scheint mir hier der Fall zu sein.
Unsere Lyrik ist allgemach zum Gespött der Klugen, wie der Narren geworden, ich meine aus dem einfachen Grunde, weil die Epigonen, von ihren großen Vorbildern erdrückt, immer von neuem ausgetretene Pfade einschlagen, statt neue, wenn auch ein wenig unbequemere zu suchen, weil es ihnen leichter dünkt, die Stoffe und Gefühle der Vorgänger immer wieder umzudichten, statt die eigene Seele und die eigene Zeit in Worten auszuleben, weil sie kurzgesagt Buch-, aber nicht Lebensdichter sind. Die Folge davon ist, daß sich eine ständige, bis zum Ekel polirte Form herausgebildet hat, und ein eben solcher Inhalt, daß sich jeder Lyriker immer von neuem an eben dasselbe Publikum wendet, und zwar an das Publikum des Boudoirs und der Töchterschule, und daß nur hier und da ein Charakterkopf aus der Masse der Nichtse hervortaucht. Wie jede andere Kunstform aber muß die Lyrik neue Knospen ansetzen, neue Wurzeln schlagen, wenn sie nicht allmählich zum Rudimente werden will, wie jede andre Kunstform muß sie aktuell sein, das heißt, den Geist der Zeit, der auch der Geist des Einzelnen ist, zum Ausdruck bringen. Nicht minder gewiß ist es, daß eine Kunst, deren Publikum sich mehr und mehr verengt, anstatt daß es sich erweitert, nach und nach aus dem Strom des allgemeinen Interesses hinausgeschoben und als ein Ueberbleibsel einstiger Kultur nur von den [IX] geistigen Feinschmeckern noch beachtet wird. Diese Gefahr droht unserer Lyrik seit geraumer Zeit; will sie wieder Luft und Raum gewinnen, so müssen Dichter erstehen, welche die Männer suchen und deren Sympathie, nicht die Boudoirs, welche der aufstrebenden Jugend der geistlichen und leiblichen Arbeit Genüge thun, nicht dem empfindelnden Backfisch, welche in's Volk hinein rufen, nicht in den Salon, welche mit einem Wort gleich dem Geschlechte, das um sie erblüht, Arbeiter sind und Kämpfer, nicht schwelgende Müßiggänger. Unsre Zeit bedarf der Propheten, sie bedarf keiner neuen Höflinge und Spaßmacher.
In diese Entwicklung, welche ich wünsche und voraussehe, tritt der Dichter des
Skizzenbuchs ein. Es ist noch manches Unfertige an ihm und noch viel
Unreifes, aber es lodert doch aus seinen Versen jene siegende Flamme, welche Talent heißt, und
aus seinen Worten spricht ein Geist, welcher das Sehnen unsrer Zeit tief
und immer tiefer erfaßt. Ein Charakter steht schon vor uns in bestimmter Abgrenzung seines
Wollens und Ringens, aber der Dichter läßt sich erst ahnen. Dichter waren jene großen
Propheten Israels, welche nicht nur das brennende Wort des Zornes und des Fluches,
sondern welche auch das sonnige Wort der künftigen Verheißung, der Versöhnung, der Liebe fanden. Bei Henckell tritt
fast ausschließlich jenes in den Vordergrund und ebenso hat er es nicht immer
verstanden, seine Bilder und Gedanken aus der Prosa dürrer Anschauung und bloßen
Abscheus in Poesie und Plastik umzusetzen, sie zu verklären. Das offene Wort
[X] des Bußpredigers ist nicht immer das zündende des Poeten. Immerhin! poetische Kraft und Tiefe,
Ernst und zielbewußtes Wollen sind reichlich und nochmals reichlich vorhanden,
mit jugendlichem Ueberschwang freilich gemischt, es ist also nichts Weiteres
nöthig, als daß Henckell nicht nur dann und wann, sondern beständig
ein Künstler zu sein sucht, und er wird ein Dichter sein, ein bedeutender,
wie ich glaube. Schon aus dieser ersten Lese jedoch wird Mancher Kraft
und Leben trinken, denn es schäumt viel quellende Frische,
viel lebendige Gluth darin.
Berlin, im September 1884.
Heinrich Hart.
Erstdruck und Druckvorlage
Karl Henckell: Poetisches Skizzenbuch.
Mit einem Vorwort von Heinrich Hart.
Minden i. Westf.: Bruns 1885, S. VII-X.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://archive.org/details/bub_gb_Zzk9AQAAMAAJ
PURL: https://hdl.handle.net/2027/coo.31924026243075
Werkverzeichnis
Verzeichnis
Sudhoff, Dieter: Die literarische Moderne und Westfalen.
Besichtigung einer vernachlässigten Kulturlandschaft.
Bielefeld: Aisthesis-Verlag 2002
(Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, 3).
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PURL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6:1-58101
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URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000536117
Hart, Heinrich: Weltpfingsten.
Gedichte Eines Idealisten.
Bremen: Kühtmann 1879.
PURL: https://hdl.handle.net/2027/njp.32101068387362
Hart, Heinrich / Hart, Julius: Eine neue Presse.
Aufruf und Programm.
Bremen: Kühtmann 1879.
In: Werner Henske:
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hier: S. 167-172.
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Hart, Heinrich: Ein ideales Programm.
In: Kyffhäuser-Zeitung.
Zur Feier des Kyffhäuserfestes der deutschen Studenten am 6. August 1881.
Nr. 1, 6. August 1881, S. *6.
[PDF]
Hart, Heinrich / Hart, Julius: Kritische Waffengänge.
Heft 1.1882 - Heft 6.1884.
Leipzig: Wigand.
URL: https://archive.org/details/kritischewaffen00spiegoog
URL: https://archive.org/details/kritischewaffen00hartgoog
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001782514
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/009956398 [Reprint 1969]
Hart, Heinrich: Auf den Weg!
In: Karl Henckell: Poetisches Skizzenbuch.
Mit einem Vorwort von Heinrich Hart.
Minden i. Westf.: Bruns 1885.
URL: https://archive.org/details/bub_gb_Zzk9AQAAMAAJ
PURL: https://hdl.handle.net/2027/coo.31924026243075
Hier: S. VII-X.
Hart, Heinrich: Die neue Litteratur.
In: Berliner Monatshefte für Litteratur, Kritik und Theater.
Bd. 1, 1885:
Heft 4, Juli, S. 397-399
Heft 5, August, S. 496-499.
URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:6:1-315081
Keine Fortsetzung im 6. Heft.
Hart, Heinrich: Alberta von Puttkamer.
In: Berliner Monatshefte für Litteratur, Kritik und Theater.
Bd. 1, 1885, Heft 6, September, S. 596-597.
URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:6:1-315081
Hart, Heinrich: Ueber Wahrheit und Wahrscheinlichkeit in der Poesie.
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Hart, Heinrich: Das Lied der Menschheit.
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URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008451469 [Bd. 1-2]
URL: https://books.google.fr/books?id=rCcQAAAAYAAJ [Bd. 1-2]
Hart, Heinrich: Die realistische Bewegung.
Ihr Ursprung, ihr Wesen, ihr Ziel.
In: Kritisches Jahrbuch.
Beiträge zur Charakteristik der zeitgenössischen Literatur
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Jg. 1, 1889, Heft 1, Februar, S. 40-56.
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/009792953
Hart, Heinrich: Die Moderne.
Eine vorläufige Betrachtung.
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ohne Titel in der Rubrik "Neues vom Büchertisch"].
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URL: https://archive.org/details/bub_gb_OmEiAQAAIAAJ
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Velhagen_&_Klasings_Monatshefte
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/010310081
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Literatur
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Dokumente zum Kontext
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V: 1886, Nr. 75, 16. März, S. 1098-1099
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Gottschall, Rudolf: Gedichte und Dichtungen.
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Nr. 41, 8. Oktober, S. 645-650.
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In: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
Bd. 29, 1886, Nr. 19, 8. Mai, S. 297-300.
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Gegenwart_:_Zeitschrift_für_Literatur,_Wirtschaftsleben_und_Kunst
URL: mit Lücken https://catalog.hathitrust.org/Record/000059485
Ernst, Otto [d.i. Otto Ernst Schmidt]: Das Elend der modernen Lyrik.
In: Das Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes.
Jg. 55, 1886, Nr. 23, 5. Juni, S.355-358.
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008893442
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Magazin_für_die_Literatur_des_Auslandes
Bulle, Oskar: Die Dichtung der Zukunft.
In: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
Bd. 31, 1887, Nr. 13, 26. März, S. 203-204.
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Gegenwart_:_Zeitschrift_für_Literatur,_Wirtschaftsleben_und_Kunst
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000059485
Fokke, Arnold: Die realistische Strömung in unserer Literatur.
In: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
Bd. 32, 1887:
Nr. 31, 30. Juli, S. 69-71
Nr. 32, 6. August, S. 89-92.
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Gegenwart_:_Zeitschrift_für_Literatur,_Wirtschaftsleben_und_Kunst
URL: mit Lücken https://catalog.hathitrust.org/Record/000059485
Halbe, Max: Moderne Lyrik. [Rezension zu: Karl Henckell: Strophen. Zürich 1887.]
In: Die Gesellschaft. Monatsschrift für Litteratur und Kunst.
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Zolling, Theophil: Deutsche Naturalisten.
In: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
Bd. 32, 1887, Nr. 47, 19. November, S. 324-327.
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Gegenwart_:_Zeitschrift_für_Literatur,_Wirtschaftsleben_und_Kunst
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000059485
Harden, Maximilian: Die Wahrheit auf der Bühne.
In: Der Kunstwart.
Jg. 1, 1887/88, Heft 15, [5. Mai 1888], S. 201-204.
URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kunstwart
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/007925046
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Beiblatt zum "Berliner Tageblatt", 1902, Nr. 312, 23. Juni, S. *2-3.
Der Zeitgeist, Nr. 28;
Beiblatt zum "Berliner Tageblatt", 1902, Nr. 351, 14. Juli, S. *2-3.
Der Zeitgeist, Nr. 31;
Beiblatt zum "Berliner Tageblatt", 1902, Nr. 390, 4. August, S. *3.
URL: zefys.staatsbibliothek-berlin.de/list/title/zdb/27646518
Mahal, Günther (Hrsg.): Lyrik der Gründerzeit.
Tübingen: Niemeyer 1973 (= Deutsche Texte, 26).
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer