Text
Editionsbericht
Inhaltsverzeichnis: Kritische Waffengänge
Literatur: Heinrich und Julius Hart
Literatur: Kritische Waffengänge
» » »
Schack: Ueber lyrische Poesie
Nicht das Publikum, nicht unser Volk und vor allem nicht unsre Jugend ist es,
deren Seele stumpf und lau geworden, wohl aber ist der große Haufen unsrer
Kritiker und Schriftsteller wie abgestandenes Wasser. Fruchtbarer Boden breitet
sich heute wie immer in weiten Strecken aus, wo jedoch ist triebkräftiges Korn,
wo sind Ackerer, wo ist Egge und Pflug? Die Mittelmäßigkeit schafft und die
Mittelmäßigkeit richtet, was ist natürlicher, als daß die Mittelmäßigkeit Orgien
feiert und gegen jeden frischen Luftzug Mauern baut! Wir rufen den Kritikern zu:
Helft uns kämpfen gegen die Tyrannei der Modedichterlinge und Poesiefabrikanten,
denn die spekulative Mache und das Unkraut des Dilettantismus duldet man nicht,
schont man nicht, wenn sie überhand nehmen, sondern man vernichtet sie. Wir rufen:
Laßt uns einig sein, laßt uns jeden Keim, der zu einem Schößling echt moderner
und tief nationaler Dichtung auszuwachsen verspricht, hegen und pflegen, laßt
uns nicht müde werden, das wahrhaft Große zu finden und anzupreisen. Wir rufen es
und die Antwort bleibt nicht aus. Die Einen sind ungehalten, daß man sie aufweckt
aus ihren süßen Dämmerungen, daß man die Kritik nicht gleich ihnen als billigen
Broderwerb auffaßt, sondern als ein heiliges Amt im Dienste des lebendigen Geistes.
Die Andern lachen, murmeln etwas von idealen Träumern und versichern, kein Sterblicher
könne das Schiefgewordene einrenken, noch das Träge in Fluß bringen, das mache sich
alles von selbst, oder es mache sich eben gar nicht. Und die Dritten werden ärgerlich
und fragen: glaubt Ihr etwa irgend etwas Neues und Eigenartiges vorzubringen, alles,
was Ihr hinausruft, schreien auch wir schon seit Jahr und Tag mit
[4] unsrer Spatzenstimme ins Publikum hinein. Nicht die Sache liegt diesen Leutchen
am Herzen, sonst würden sie jeden Mitkämpfer freudig begrüßen, ihr einziges Ziel ist
es, das eigene Persönchen in den Vordergrund zu tragen und deshalb fürchten sie die
Konkurrenz. Den Freunden des Laissez faire aber sagen wir, es geschieht in menschlichen
Dingen nichts von selbst, alles will erstrebt, erkämpft und gewollt sein und es wird
sich einst zeigen, daß dieser Idealismus des Wollens das wahrhaft Praktische ist.
Warum? Weil er aus der inneren Zuversicht des Könnens entspringt. Ja, wir wollen eine
große, nationale Literatur, welche weder auf Hellenismus noch auf Gallicismus sich
gründet, eine Literatur, welche, genährt mit den Errungenschaften der gesammten modernen
Kultur, den Quell ihres Blutes in den Tiefen der germanischen Volksseele hat und alles
Beste, was andere Nationen geschaffen, in das eigene Fleisch und Wesen überführt, aber
nicht es nachahmt und in formalen Spielereien verzettelt. Wir wollen eine Literatur,
die eigenartig wurzelt und wipfelt, die dem Ernste und der Größe dieser Zeit entspricht
und aus ihren Strebungen heraus geboren ist, eine Literatur, welche nicht immer wieder
und wieder den ausgepreßten Ideen und Empfindungen unsrer Väter letzte magre Tropfen
entkeltert, eine Literatur, welche wirkt und nicht spielt. Wir wollen eine Literatur,
welche nicht dem Salon, sondern dem Volke gehört, welche erfrischt und nicht amusirt,
welche führt und nicht schmeichelt. In unsren Tagen des Zweifels und der Unruhe, da
die alte Religion zahllosen Seelen keinen Frieden mehr gewährt, und statt neuen Trostes
nur neue Stürme drohen, in diesen Tagen hat die Poesie mehr als sonst zu leisten. Freilich
nicht an die Stelle treten der Religion, diese ersetzen soll sie, wol aber muß auch sie
eine Führerin sein, ein Gegenpol wider die Genußsucht und den Materialismus, nicht deren
Dienerin; aus dem Leben geboren, muß sie Leben zeugen, harmonisches Leben, Gesundung und
nicht Fieber. Und diesem Ziele gilt es zuzustreben durch Mahnung und That, durch Kritik
und Schöpfung, diesem Ideal gilt es dienstbar zu machen alle Kräfte, so viele ihrer
können und guten Geistes sind. Dieses Ideal muß aber auch, das sagen wir den Freunden,
ohne Schwanken und Zweideutelei, ohne Furcht und ohne Mitleid erstritten werden. Schließt
[5] sich doch jenen Gruppen der Kritik, die in den Eingangssätzen bezeichnet sind,
noch eine vierte an, welche nicht zweifelnd, nicht gleichgültig jedem geistigen
Aufschwunge gegenübersteht, sondern feindlich, hämisch und spöttisch. Dieser Gruppe
wie ihren Schützlingen gegenüber ist jede Schonung eine Flucht, denn ihr gehören an
jene verlebten Alten und jene blasirten Jungen, denen die Worte Tragödie, Poesie, Ideal,
national, naturalistisch ein Gräuel sind, deren Stumpfheit jede Aufregung, jede Weihe
verabscheut und deren immer wiederholte Losung lautet – Nüchternheit, Conversationsschauspiel,
Schlendrian, Moral und Handwerk. Das alles zu einer Formel zusammengefaßt bedeutet: sie
lieben die Masse und hassen das Genie, und weil sie es hassen, darum läugnen sie es, wie
der Maulwurf das Licht, wie die Schnecke den Flug des Adlers. "Die Zeit der großen Tragödie
ist vorüber", sagt Karl Frenzel, ein Typus jener Herzens- und Geistesarmen, "das Sittendrama,
wie es in Gutzkow's "Werner" uns geboren wurde, ist unser Ziel, wenn auch das Publikum wieder
einmal heute in Begeisterung aufflammt für Poesie und Idealismus. Das wird vorübergehn,
so behaupte ich (Karl Frenzel, Schöpfer der "Berliner Dramaturgie", der neue und größere
Lessing), denn ich bin jetzt zwei Jahrzehnte lang berufener Abschlachter der modernen
Dramatik und ich weiß, daß immer die tragische Reaktion gegen die Komödie einen sehr kurzen
Athem hatte." Das ist derselbe Frenzel, der seinem Aerger über die Waffengänge in der
unglaublich dummen, alle Kritik verneinenden Frage Luft gemacht hat: warum schreiben die
Brüder Hart, statt zu kritisiren, nicht lieber bessere Dramen, als Kruse, Bürger u.s.w.?
Lieber Herr Frenzel, wir sind noch nicht ins Schwabenalter gekommen, warten Sie es also ab,
ob wir nicht bessere Dramen, meinethalben auch bessere Romane und Gedichte, als Sie und Ihre
Mithandwerker dichten werden, – vorläufig kritisiren wir besser als Sie. Uebrigens erhöht
es die Lustigkeit jener Frage, wenn man den Fragesteller selbst zum Adressaten macht.
Warum, Herr Frenzel, wühlen Sie nun so lange Jahre gegen das deutsche Theater, bekritteln
in kleinlichster Weise jedes neue Schauspiel und belehren ohne jedes Verständniß die Schauspieler?
Warum schreiben Sie nicht lieber bessere Dramen und treten selbst im Schauspielhause auf,
Kahle, Ludwig
[6] und Keßler zu beschämen? Karl Frenzel als Othello! Bisher ist die Welt ganz im Dunkeln
geblieben über Ihr dramatisches wie mimisches Talent, und Sie sind doch 1827 geboren.
Und dieser Mann, der Nüchternste der Nüchternen, der nirgendwo in der Literatur ein Fest,
eine Weihe, einen Hauch des Ewigen merkt, sondern nur eine "Unterhaltung", ein "Vergnügen",
ein "Amusement", der wagt den Propheten zu spielen und hinauszukläffen, "die Zeit der großen
Tragödie ist vorüber". Weshalb? weil selbst das Jahr 1870, in welchem "die Schranken des
Privilegiums fielen und jeder Bühne die natürliche Freiheit, zu spielen, was ihr beliebt (?),
durch das Gesetz zuerkannt ward" nicht eine große dramatische Literatur eingeleitet hat. Gibt
es ein Wort, das bezeichnender ist, als dieses! Für Herrn Frenzel ist das Jahr 1870 nicht
das Geburtsjahr der nationalen Einheit, eines neuen nationalen Lebens, sondern der
Gewerbefreiheit, er verzweifelt nicht an der deutschen Tragödie, weil die Wiedergeburt
der deutschen Kraft nicht alsbald eine Neugeburt des Geistes gewirkt hat, sondern weil
er ernstlich geglaubt, daß man Kunst und Kneipe nach ein und derselben Façon glücklich
machen könne. Es ist ja klar, wenn die Schenken wie Pilze aus dem Waldboden schießen
dürfen, dann blüht ohne weiteres das Trinken, warum also nicht die Kunst, wenn jedermann
das Recht hat, mit seiner Schenke zugleich ein Theater zu eröffnen! Mit solchen Ansichten
ist nicht zu rechten. Auch uns ist 1870 ein Jahr des Heiles, aber nicht wegen, sondern
trotz der Gewerbefreiheit, uns gewährt es die Hoffnung auf ein großes Theater, weil es
uns zu einer großen Nation gemacht hat und wir an unsrem Volke verzweifeln müßten, wenn
seine Kunst im Sumpfe der Alltäglichkeit stecken bliebe. Aber wir wissen auch, daß das
Große nicht über Nacht entsteht, daß es keimen, wachsen und knospen muß und daß also
nach Verlauf von zwölf Jahren kleinmuthige Ungeduld bloß albern ist. Allerdings, darin
hat Herr Frenzel Recht, "die tragische Reaktion (nicht gegen die Komödie, diese fehlt
uns nicht weniger, als die Tragödie, sondern gegen die theatralische Mittelmäßigkeit)
hat nur einen sehr kurzen Athem", – der Sonntag dauert eben nicht so lange wie die
Woche, die Zeitalter des Perikles und des Augustus waren nur Oasen in der Wüste
[7] geistiger Halbheit und der Moser und Frenzel gibt es mehr, denn der Shakspeare und
Wagner. Aber das schreckt nicht ab, das ermuntert uns, denn wenn wir stets das Höchste
auch nur wollen, das Beste auch nur erstreben, so sind wir doch in der Bannmeile jener
Oasen, und da bildet sich immerhin Größeres, als auf dem Sumpfland, wo sich die faule
Gemächlichkeit der Gegner wohlfühlt. Die große Tragödie ist übrigens kein Gegensatz zum
Sittendrama, auch in ihr soll der Geist der Zeit sich spiegeln; allerdings mein' ich
einen andern Geist, als ihn Herr Frenzel träumt und ein gewaltigeres Sittendrama, als
es Herr Frenzel ersehnt. Doch genug davon, diese Frage mag ein späterer Waffengang
entscheiden! Der heutige soll nicht der Bekämpfung, sondern der Vertheidigung gewidmet
sein, denn unsre Sache vertreten und fördern wir nicht allein, wenn wir die Feinde, die
Afterpoeten entlarven, sondern ebenso sehr, wenn wir eintreten für die Freunde, die
wahren und großen Dichter unsrer Zeit! Einer dieser Großen ist Adolf Friedrich von Schack.
Jene Kritik der Grabeswächter – sie hüten das Todte, das Morsche – trägt vor allem die Schuld
daran, daß unserm Publikum noch immer der Name Schack weniger geläufig ist, als all die kleinen
Tagesgrößen, die auf unsrer Literatur schmarotzen, gleich jener lieblichen Thierspezies,
welche die Blüte des Weinstocks unmöglich macht. Gerade deshalb war es nöthig, den Geist
jener Kritik mit einigen Hieben zu kennzeichnen. Sie hat entweder Schack als Dichter
todtgeschwiegen oder ihn gepriesen als ein anziehendes Formtalent, mit anderen Worten
als ein Objekt für literarische Gourmands. Warum auch nicht? Die Zeit der großen Dichter
ist ja vorüber, bilden wir Dante-, Shakspeare- und Goethegesellschaften und seien wir
zufrieden, wenn die Literatur der Gegenwart in den Namen Lindau, Ebers, Moser gipfelt.
Es ist ja klar, daß unsere Epoche, welche die innersten Kräfte der Natur dem Menschen
dienstbar, welche die Erde gangbar macht von Pol zu Pol, welche die Himmel aufrollt wie
ein Buch mit räthselhafter Schrift, deren Lösung Zeichen für Zeichen tausend Freuden
gewährt, daß unsre Epoche, welche einen ungeheuren Wettstreit der Völker in Frieden und
Krieg geboren hat, welche in Italien, in Deutschland das Sehnen zahlloser Geschlechter
erfüllte, welche drei germanische Weltreiche beruft, daß Höchste der
[8] Menschheit zu leisten, welche nicht müde wird, Wunder um Wunder zu thun, es ist ja
klar, daß eine solche Epoche "jeder Poesie ermangelt", daß sie keine gewaltigen Dichter
zu erzeugen vermag. Warum sollten wir erröthen über der Schmach solcher Verzagtheit, wir
sind ja so klein, so klein!
* * *
Wie viel besser stünde es um mich, wenn ich auch solch ein Kleiner wäre, voller Demuth und froh Epigone zu sein! Aber ich bin ein Ketzer und die Konkurrenz aller Klassiker der Vergangenheit, mit welcher Karl Frenzel den heutigen Dichtern mahnend droht, schreckt mich nicht aus meinem Glauben an die unzerstörbare Schöpfungskraft der Poesie heraus. Was sie auch Herrliches und Göttliches hervorgebracht, die Altmeister von Homer bis Shakspeare und Goethe herauf, wie auch der Hauch des Ewig Menschlichen über ihren Werken ruht, eines fehlt ihnen doch, das Fleisch und Blut unsrer, gerade unsrer Zeit. Mit ihren Dichtungen geht es uns, wie mit der Bibel; zu allen Zeiten ist diese dem Christen der edelste Schatz gewesen, aber dennoch hat sie ihm niemals zu seiner Erbauung genügt, er bedurfte immer neuer Hymnen, Lieder, Gebete und Breviere. Die Poesie ist die Blüthe einer Weltanschauung, und ich meine, unsre Anschauungen von heute treiben einer so neuen, eigenen Richtung zu, daß unsrem Empfinden in seinen letzten Verzweigungen kein Dichter der Vergangenheit voll Genüge leistet. Deshalb sehnen wir uns nach einer modernen, in unserem eigenen Leben wurzelnden Dichtung. Wol werden unsere Dichtungen, – wer wäre so vermessen, anders zu denken, – nicht an absolutem Werth die eines Shakspeare, eines Sophokles erreichen, aber dennoch wird unsere Tragödie an Gewalt der Konflikte dem Drama der Meister gleichkommen, in Form und Sprache ihm nacheifern und an geistiger Idealität es übertreffen. Auch unsere Lyrik ist mit Goethe nicht erschöpft; all die Zweifel, die in uns toben, all die Träume von dem Einssein der Kreatur, all die Stürme, mit welchen das brausende Treiben, Kämpfen und Wandern der gesammten Menschheit uns überrauscht, all die Hoffnungen und Strebungen unserer wiedererwachten Nation, – so wie wir, hat sie noch Nie[9]mand empfunden und also noch Niemand in Dichtung umgegossen. Und das Gleiche gilt von der Epik, vom Roman. Ein moderner Dichter wird zugleich ein Prophet sein, er wird den ringenden und müden Mitlebenden voranschreiten wie ein Tyrtäus, und das Ziel ihnen sichtbar erhalten, damit sie nicht erlahmen und erkalten. Er wird ein Denker sein, der alle Regungen der Zeit in sich zusammenfaßt, ein Charakter, der niemanden fürchtet und dem Gotte seines Inneren unwandelbare Treue hält, ein Helfer, der nicht aufhören wird, von Liebe zu künden und Liebe zu wecken, göttliche Liebe. Wenn die Epoche nach Goethe, welche durch Rückert und Geibel begrenzt wird, ihre hauptsächliche Bedeutung darin findet, daß sie Formen und Sprache ausgefeilt, bereichert und bis zum Zerfließen biegsam gemacht, so haben wir die Aufgabe, diesen Besitz durch großen ideal-realistischen Gehalt zu einem lebendigen zu machen. Das faustische Ringen der Kleist, Immermann und Ludwig, die mitten in ihrer Laufbahn zusammenbrachen, weil sie nur eine Gesellschaft fanden, nicht ein Volk, für das sie dichten konnten, wir müssen es zur Wirklichkeit gestalten, denn wir haben ein Volk, und an uns liegt es, nicht um kleinlicher Mißstände willen an der nationalen Wiedergeburt zu verzweifeln, sondern auf dieser Grundlage fortzubauen, auf die Nation uns zu stützen, damit durch wechselseitiges Vertrauen, wechselseitiges Durchdringen wir uns und sie befestigen. Nur dann wird es uns gelingen, die endlose Mittelmäßigkeit zu überwinden, welche, wie natürlich, in einer Zeit, wo die Form alles ist und die Sprache selbst für den Skribenten dichtet, üppig ins Kraut geschossen, denn ein mächtiger Gehalt gährt nur in mächtigen Geistern, ein gewisses Sprach- und Formtalent jedoch, wenn auch nicht der höchsten Art, wird anerzogen. Diese Anerziehung hat uns nicht allein den ganzen Schwall von Lyrikern, Novellisten und Romanwasserspeiern bescheert, nein, sie hat auch in die Literatur ein widerliches Geschäfts- und Fabrikantenthum verpflanzt. Ihr verdanken wir es, daß das Princip von der Theilung der Arbeit im literarischen Leben die lächerlichsten Verhältnisse herbeigeführt hat, daß es Dichter gibt, welche nur in Spielmannsweisen oder nur in Geschichten aus Byzanz, Memphis, Athen, vielleicht auch aus Italien machen, Lyriker, welche keinen vernünftigen Prosasatz zu Stande [10] bringen und Prosaiker, denen der Vers ein Noli me tangere ist. Ihr verdanken wir überdies die Flut der Phrasenleierei und der hohlen Spielerei mit Worten, ihr schließlich jene Kritik, welche den dürren Leib ihrer ästhetischen Unwissenheit mit den Flittern unverstandener Lektureweisheit oder kindlicher Witze verhüllt. Eine Herzensfreude ist es, solchen Erscheinungen gegenüber auf Männer wie Schack zu blicken, auf Männer, welche eine Welt der Phantasie und der Ideen in sich tragen und deshalb gleich der Allmutter, der Natur, einer Welt von Formen und <Ausdrucksweisen> bedürfen. Und gerade jenen Erscheinungen gegenüber ist es mir ein Bedürfniß, in Schack einen jener Dichter hinzustellen, welche von modernem Geiste erfüllt in nationaler Begeisterung und Zuversicht an unsres Volkes und unsrer Dichtung Triebkraft glauben, welche ebenso allseitig wie ideenmächtig an der Schwelle einer neuen Blütezeit zu stehen scheinen.
* * *
Graf Schack gehört zu jenen Lieblingen Gottes, denen es vergönnt ist, die Keime des Großen,
die in sie hineingelegt sind, stetig langsam, geschützt vor Stürmen und Frost, an der
Sonnenseite des Erdenlebens ausreifen zu lassen. Dieser Vorzug kann freilich für den
Dichter zum Nachtheil werden. Nur zu oft verhindert eine glückliche äußere Lage, die
Menschheit in ihrer Tiefe und Breite kennen zu lernen, die herbsten, bittersten Kämpfe
der Zeit zu verstehen, mit einem Worte, die Seele des Volkes zu erfassen. Und was wäre
ein moderner Dichter, der nicht aus der Seele des Volkes heraus dichtet und schafft.
Gottlob, Graf Schack ist keiner jener Poeten des Salons oder der Akademie, welche unberührt
vom Hauche des Jahrhunderts im Fette ihrer Phantasie ersticken, seine Dichtungen bezeugen
das in jeder Strophe. Entrückt allen äußeren Sorgen und dem kleinen Elend des Alltagskampfes
ums Dasein besuchte er schon früh die Länder des Orients, durchwanderte Italien und Spanien,
lernte allerlei Menschen kennen, den bedeutenden wie den gewöhnlichen Schlag und gewann auf
solchen Wegen wie spielend eine Fülle poetischer Anschauungen, Liebe zur Kunst, Neigung zur
Geschichte und einen tiefen Einblick in das Getriebe der heutigen
[11] Welt. In dieser Lust am Wandern in die Ferne offenbart sich derselbe Trieb, welcher
die Poesien Schacks durchädert, der Trieb nach Abenteuern, Gestaltenfülle, Farbenschimmer
und Mystik, einer Mystik jedoch, welche die Welt verklärt. Es ist, als ob der Dichter, an
den flammenden Sonnen Spaniens und Persiens seine Phantasie zu heißerem Brande entzündet.
Als ob er an den schlanken Minarets der arabischen Kunst, an den Palmen Syriens seinen
Blick für klare, lautere Form gebildet und in den endlosen Wüsten des Sinai, unter den
Trümmern von Ninive und Persepolis das Weben von Natur und Weltgeist belauscht und
nachempfunden habe. Aber die Erkenntniß hat ihm weder Muth noch Glauben geraubt, jener
Blutquell deutschen Humors, den all unsre besten Männer, Kaiser Karl, Luther, König Friedrich,
Goethe, Bismarck in sich tragen, hat auch Schack vor jeder Einseitigkeit und Verknöcherung
bewahrt, hat auch seinen Genius gestärkt zum Ueberflug über alles Kranke, Quälende empor.
Hinter uns liegt jene Zeit des selbstzerstörenden Grübelns, der Blasirtheit, der Genußsucht
ohne Zaum, des nervösen Wollens ohne Ziel, hinter uns jene Zeit der Byron, Musset und Heine,
des jungen Deutschlands und der problematischen Naturen, hinter uns, wenn auch ihr Athem
dann und wann pestbringend von neuem herüberschlägt. Was uns noththut, das ist Gesundheit
der Seele, Gesundheit des Geistes und Gesundheit der Phantasie, nur wenn wir Eisen im Blute
haben, vermögen wir den eisernen Mächten der Gegenwart unsren Platz und unsren Lorber zu entringen.
In Mecklenburg geboren (den 2. August 1815) erwählte Schack nach Beendigung seiner ersten Reisen als Erbe eines bedeutenden Vermögens München zu seinem ständigen Wohnsitz und ward durch Begründung einer umfassenden Gemälde-Galerie einer der eifrigsten Schatzheber moderner Kunst, einer der treuesten Freunde moderner Künstler. Genelli, <Lenbach>, Böcklin und wer weiß wie viele andre haben unter seiner Aegide zuerst ihre Schwingen frei und mächtig entfalten können, und deshalb ist der Name Schack verwoben in die Geschichte der neueren Kunst, gleich unaustilgbar, wie die Namen der großen Adelsgeschlechter Italiens in die Geschichte der Renaissance. Dieser Einfluß, welchen der hochsinnige Mann auf die Entwicklung unsrer Malerei ausübt, diese Förderung ihrer Talente bildet [12] gleichwol nur die geringste Seite seiner Bedeutung, sein eigenstes und innerstes Wirken gehört der Literatur an, auf ihrem Gebiete hat er jene Blütenfülle entfaltet, welche mächtig nach beiden Seiten hin das Einst und das Jetzt der deutschen Dichtung verknüpft. In die Oeffentlichkeit trat er zunächst als Uebersetzer und Historiker. Unerschöpft und unerschöpflich ist die Fluth von Anregungen, welche aus einem Werk wie der "Geschichte des spanischen Dramas" oder aus den Darstellungen über "Kunst und Poesie der Araber in Spanien und Sizilien" dem Lesenden entgegenströmt. Letztere beschwören in glänzenden Schilderungen, welche durchflochten sind mit den Liedern der großen Sänger Ibn Zeidun, Ibn Dschudi, Ibn Chafadsche und Anderer, das goldne Zeitalter herauf, welches Spanien und Sizilien in Vorländer des Orients und der Moslims verwandelte. Die Aecker trugen neue edle Früchte, großartige Bewässerungsbauten durchkreuzten das Land nach jeder Richtung hin, alle Städte von Cordova bis Palermo bedeckten sich mit den schimmernden Palästen und Moscheen maurischer Kunst und die Gewerbe wetteiferten untereinander an Vollendung, Zierlichkeit und Farbenpracht ihrer Erzeugnisse. Am Hofe der omajjadischen Khalifen bildete sich ein Ritterthum, das an Thatenlust wie an Adel der Gesinnung dem abendländischen gleichstand, die Stellung der Frauen war eine freiere und höhere, als in anderen mohammedanischen Ländern, und damit entwickelte sich eine tiefere Innerlichkeit in dem Verhältnisse der Geschlechter, zartere Empfindung und fröhlicher Minnedienst. Auf solchem Boden erwuchs denn auch eine Poesie von eigenartigem Gepräge, der Geist, den sie athmete, hatte theil am Orient wie am Occident, und weil sie demgemäß auf die Literatur der Spanier und Provencalen heilsam einzuwirken vermochte, so ist ihre Nachwirkung eine unverlöschliche geworden. Und selten hat eine Epoche einen solchen Reichthum an Liedern, eine solche Fülle von Poeten aufzuweisen, wie das 11. und 12. Jahrhundert in Spanien; an den Höfen der Kleinkönige von Granada, Cordova und Sevilla, welche über den Trümmern des Omajjadenreiches erblühten, waren Dichter und Gelehrte die gefeiertsten Gäste, und die Fürsten und Feldherrn pflegten selbst der hehren, geistbestrickenden Kunst. Aber auch andere Seiten enthält das Schack'sche Buch, es erzählt uns von den tragischen Verhäng[13]nissen der Geschichte, welche den endlichen Verfall der Moriskenherrschaft herbeigeführt, von dem Sturze der Omajjaden und ihrem letzten Sproß, der schönen geistvollen Prinzessin Wallada, der Geliebten des Dichters Zeidun, von den Bruderkämpfen der Könige und Ritter und von dem unheilvollen Geschick des großen Königs von Sevilla, des Elegiensängers Al Motamid. Nachdem er zwanzig Jahre ruhmvoll und glänzend regiert, wurde er im Jahre 1091 von seinem Bundesgenossen, Jussuf von Marokko, verrätherisch überfallen, gefangen genommen und nach Agmat in Nordafrika geführt; dort im Kerker beklagte er vier Jahre lang sein Unglück und das Unglück seiner Kinder, welche bettelnd oder mit schwerer Arbeit ihren Unterhalt erwarben und träumte von Schwert und Geliebten, bis ihn der Tod erlöste.
Ganz anderen Schlages ist die Geschichte des spanischen Dramas. Verläugnet Schack auch
hier den Dichter nicht, den Hellseher, für den es keine Geheimnisse giebt im Herzen der
Natur und des Menschen, so bildet das Werk doch zunächst und vor allem ein Buch der
strengen Wissenschaft und dazu ein Buch, praktischer und lehrreicher für uns, als die
meisten jener anmaßenden, von "Quellen und Urkunden" strotzenden Geschichtswerke
politischer Art, mit denen die heutige Wissenschaft uns überschüttet. Es führt uns
hinein in jene Epoche spanischen Geisteslebens, welche an Bedeutung für die gesammte
Cultur der Menschheit, und nicht zum mindesten für unsre Nation mit jener Periode
wetteifern darf, die mit dem Namen Shakspeare gesiegelt ist. Welch ein Meer von Poesie,
Ideen und Gestalten, – kaum ein einzelnes Gedicht, das an Bedeutung den Meisterwerken der
Griechen und des germanischen Genius zur Seite steht, aber wie viel Eigenartiges dennoch,
wie viel Erhabenes, wie viel Blendendes! Dort ein reich und klar gegliederter Eichwald,
hier ein tropischer Urwald, dort Leidenschaft und Individualität, hier Typus und Esprit,
dort Leben, hier Kunst. Aber ich gehe weiter. Es giebt eine Seite in dem Schaffen eines
Calderon, die nicht mehr Spiel ist, sondern Leben und Begeisterung, eine Seite, die
Shakspeare verschlossen war, das ist das Streben nach dem Uebersinnlichen, die
Idealität in ihrer höchsten Gestalt. Einen Kampf der Ideen, der über den Tod hinaus
fortwüthet, einen Helden, der sich
[14] selbst bezwingt, sich demüthigt bis zum Martyrium, ein Heer, das dieser todte
Märtyrer zum Siege führt, das ist ein Vorwurf, wie ihn Shakspeare niemals ausgeführt,
nicht ausführen konnte. Und weil ich meine, daß eine große Epoche unserer deutschen
Dramatik nur dann erstehen wird, wenn es mit der alle Tiefen durchwühlenden Charakteristik
Shakspeares, mit der Formvollendung der Griechen die Darstellung nicht nur der sittlichen
Conflikte, sondern auch der großen geistigen Ideenkämpfe verbindet, deshalb habe ich die
Geschichte des spanischen Dramas ein praktisches, ein lehrreiches Buch genannt. Auf welcher
Grundlage dasselbe ruht, darüber klären die Worte auf, in welchen der Verfasser einen
Ausspruch Lope de Vegas deutet und ergänzt. "Das Drama", sagt der große Spanier in seiner
"Arte nuevo de hacer Comedias", "soll die Handlungen der Menschen nachahmen und die Sitten
des Jahrhunderts malen". Hierzu bemerkt Schack: "Das heißt in der höheren Auffassung dieses
Satzes, die sich in Vegas Werken spiegelt, es soll keineswegs die Natur, die gemeine
Wirklichkeit copiren, sondern ein poetisches Abbild des Menschenlebens in seinen Höhen und
Tiefen sein, eine dichterische Darstellung der Erscheinungen, Thaten und Begebenheiten,
welche aus der Fülle der Natur und Geschichte als die bedeutsamsten hervorragen und
zwar muß das Drama die Handlungen und die Vorfälle, die es mit innerer Nothwendigkeit
aus den Charakteren abzuleiten hat, dem Zuschauer unmittelbar vergegenwärtigend vor
Augen führen, so daß dieser die ganze Aktion mit zu erleben glaubt. Die höhere Bestimmung
des Schauspiels, die sich nach solcher Auffassung ergibt, ist, den Menschen durch Aufdeckung
der Quellen und Folgen seiner Handlungen zur Kenntniß seiner selbst zu führen, ihn auf den
ewigen Grund aller Erscheinungen des Daseins hinzuleiten und ihm Einsicht in die
Wechselbeziehungen der menschlichen und göttlichen Dinge zu gewähren. Diese sittliche
Intention allein steht mit der Poesie in Einklang."
Ein Buch, in solchem Geiste geschrieben, vermochte in der thatlosen, phrasengeschwängerten
Zeit, da es zuerst erschien, eine tiefere Wirkung nicht zu üben. Seine Zeit ist erst dann
gekommen, wenn wir selbst in die regsame Epoche einer vielseitigen, nationalen Dramatik
treten, wenn auch Calderon und Vega auf unserem Theater,
[15] wie einst Shakespeare, eine lebendige, keine bloß literarhistorische Auferstehung
feiern. Dann wird es geschehen, daß unsre Dramatiker wie unser Publikum an dem erhabenen
Ideenschwunge dieser Dichter sich begeistern und erheben, jene zu eigenartigem Schaffen,
diese zu einer Theilnahme, welche alles Niedrige von sich stößt.
Der Vermittlung zwischen fremdem und deutschem Geiste durch geschichtliche Darlegung
steht die noch unmittelbarere der Uebertragung gegenüber. Und auch auf diesem Gebiete
hat Schack eine Großthat vollbracht. Allerdings geht er als Uebersetzer auf einem Wege,
den Hammer-Purgstall und Rückert bereits gebahnt, aber diese beiden haben nur mehr,
nicht Besseres geleistet. "Nal und Damajanti" ausgenommen hat Rückert fast nichts von
seinen literarischen Orientreisen mitgebracht als Spielereien und culturhistorische
Raritäten, das Löwenstück der Beute, die in Asien zu erringen war, ist Schack anheimgefallen.
Dieses Löwenstück ist kein anderes, als Firdusi's Riesengedicht, das Schach-Nameh.
Firdusi wird der Homer des Orients genannt, ich aber stehe nicht an zu sagen, daß
uns der Perser in mehr als einer Richtung näher steht als der Hellene. Ich spreche
nicht von der Zeit der Schöpfer (Firdusi blühte zwei Jahrtausende später als Homer),
sondern von dem Character und von der Tendenz ihrer Dichtungen. Woran es liegt, – ob
die germanischen Völker später (oder auch früher) aus der arischen Heimath ausgewandert
sind als die Griechen und Italer, ob sie in innigerer Blutgemeinschaft mit den Persern
gestanden haben, als mit diesen, – ich weiß es nicht, aber ich habe oft in der persischen
Dichtung tieferen germanischen Geist, ein uns verwandteres Empfinden gefühlt, als in der
altklassischen. Nur das "Maß", die Abneigung gegen orientalische Ueberschwänglichkeit,
theilen wir mit den Griechen. Vor allem aber hat Firdusi tausend Züge, die ein deutscher
Dichter annehmen könnte, ohne seinem Wesen Gewalt anzuthun. Die Recken des Schah-Nameh
unterscheiden sich nur in Nebendingen von unsren Siegfrieds, Dietrichs, Etzels, ihre
Empfindungen sind ganz die unsern, die landschaftliche Schilderung athmet jenes brünstige
Naturgefühl, das uns Modernen eigen ist, und über dem Ganzen ruht der Geist wahrhaft
poetischer Mystik, und einer Weltanschauung, welche der christlichen und
deutsch-philosophischen nahesteht. Durchsichtige
Klar[16]heit und Harmonie der Form hat ohne Zweifel Homer vor dem Perser voraus,
dieser übertrifft ihn jedoch seinerseits an Größe der Tendenz, an Phantasie und
Erfindungskraft, sowie an Zartheit. Eine solche Mannigfaltigkeit der Kampfscenen,
gehoben durch die Anschauung, daß der Krieg zwischen Iran und Turan den Krieg des
Lichtes gegen die Finsterniß bedeutet, findet sich in der Ilias nicht, ebensowenig
eine Tragödie, wie sie der Kampf zwischen Rustem und seinem Sohne bildet,
ebensowenig eine Episode, wie das Liebesabenteuer des turanischen Königskindes
oder gar ein Kapitel, wie der mystische Untergang des Kai Kawus mit seinen
Paladinen. Die Ilias ist ein griechischer Tempel, das Schah-Nameh ein Dom. Freilich
denke ich hierbei an den Firdusi, wie ihn uns Schack zum Freunde gemacht, an den
Dichter, nicht an den Historiographen. Die Uebertragung ist einfach ein Werk der
Meisterschaft, mit nie erlahmender Sorgfalt ausgefeilt, ein Werk hingebender Liebe,
des Fleißes und der Geduld, vor allem jedoch das Werk einer großen selbstschöpferischen
Dichterkraft. Der Vers, den Schack zu seiner Umdichtung erlesen hat, ist der jambische
Fünfer, je zwei sind zu einem Reimpaare verbunden, dadurch ist eine Form zu Stande
gekommen, breit, ausgedehnt, flüssig und biegsam, mannigfaltig und doch einfach, eine
Form, welche dem Hexameter nicht unebenbürtig erscheint und die ich daher für große
epische Gedichte deutscher Sprache die geeignetste nennen möchte. Weder Nibelungenstrophe
noch Stabreim haben sich bewährt, sie reichen nicht für die ganze Fülle des Lebens aus,
der reimlose Blankvers ist kein episches Maß, sondern ein dramatisches, höchstens für
epische Dichtungen passend, welche wie Hamerlings "Ahasver in Rom" oder Miltons
"Verlorenes Paradies" eine enge Handlung dramatisch-lyrischen Inhalts wiedergeben.
Dazu kommt, daß das jambische Reimpaar (allerdings ein vierfüßiges) bereits die
Form der mittelalterlichen epischen Gedichte bildet. Also sowohl des Geistes wie
der Form halber gehört die Uebertragung des Schah-Nameh zu jenen literarischen
Thaten, deren Einfluß erst nach Generationen gemessen werden kann, denn sie hat
einen Strom neuen, kräftigen Blutes in den Organismus unsrer Literatur hinübergeführt.
* * *
[17] Wie bedeutend aber auch der Historiker, wie bedeutend der Uebersetzer Schack
sein mag, das Höchste an ihm ist dennoch nicht die Kraft, uns Fremdes anzueignen,
sondern die eigenschaffende Kraft. Mit jener hat er für die Literatur gethan, was er
durch seine Kunstsammlungen für die Kunst gewirkt, nämlich tausendfache Anregung
und Förderung ausgestreut, sein eigenes Dichten aber gehört uns wie ein Fundament,
auf dem wir weiterbauen sollen, ohne das wir nicht weiterbauen können. Die
Literaturgeschichte hat ja Recht! Trotz aller Anläufe, ein Neues zu erringen, trotz
knorriger Eigenart im Einzelnen, stehen die Dichter, welche der ersten Hälfte dieses
Jahrhunderts angehören, fast ganz im Banne der Formen und Ideale ihrer großen Vorgänger.
Geistig wie zeitlich sind sie Epigonen der Romantik Goethe's, der formalen Klassik Lessings
und Schillers, des Pathos Klopstocks; der Versuch, die tiefsten nationalen und modernen
Anschauungen zu erfassen und einen nationalen Stil zu begründen, bleibt Versuch und haftet
nur an einzelnen Werken, erfüllt niemals den ganzen Dichter. Das "Junge Deutschland",
dessen Kritik und Reflexion hier in Betracht kommen möchte, besaß keinen echten Poeten.
Erst gegen Ende der 50er Jahre wird das Streben ein allgemeineres, zielbewußteres, in den
Dichtungen eines Freytag, Spielhagen, Hamerling mehren sich die Züge modernen Sonderwesens;
wenigstens erzeugen sie die Gewißheit, daß die Periode Goethe-Schiller keineswegs all die
großen Ideale, die in uns ringen, erschöpft hat, daß sie weder im Drama noch in der Epik
Früchte gezeitigt hat, die uns zum bloßen Nachahmen verdammen müßten, daß sie ein Blütejahr
des deutschen Geistes bildet, welches seither durch manchen Regentag unterbrochen wurde,
das aber noch immer nicht zu Ende gegangen ist, sondern neue Blüten verspricht. Und wenn
nicht Blüten, so doch Früchte. Graf Schack ist der Erste, dessen – ich möchte fast sagen
gesammte – Thätigkeit den Stempel eines neuen, großen Geistes trägt, er ist der umfassendste,
nationalste und modernste Dichter unsrer gegenwärtigen Epoche. Dies im einzelnen zu erweisen,
ist der Kern meiner Aufgabe, um es zu können, muß ich zunächst die Dichtungen Schacks
analysiren, untersuchen und nach Inhalt und Form zur Anschauung bringen, diese Dichtungen,
welche alle Weisen des poetischen Gestaltens umfassen und welche den
[18] Dichter wiedergeben wie er ist, nicht wie er scheinen will. Schack liebt sein Volk,
aber er buhlt nicht um die Gunst desselben, sein Werk ist er und er ist sein Werk, er
schraubt sein Können und sein Ideal nicht herauf noch herunter, je nach der Verdauungskraft
des Publikums, er dichtet, was und wie er dichten muß, nicht was die Mode, die jährlich
wechselnde, heischt. Er ist eben ein Dichter, nicht ein Macher. Ganz erklärlich, daß ihn die
landläufige Kritik als einen poetischen Aristokraten, als ein Genie bezeichnet schroff und
erhaben, dem es "natürlich" verwehrt sei, populär zu sein. Schack ist allerdings kein Dichter
für den Pöbel, weder für den rohen der Straße noch für den blasirten des Salons, Schack ist
ebensowenig ein Dichter für die unreife Jugend, er schreibt keine Colportage-, er schreibt
überhaupt keine Romane (wenigstens nicht in Prosa), er conkurrirt weder in historischen
Zerrbildern mit Herrn Ebers, noch in lyrischen Knallbonbons mit Herrn Träger, – und
dennoch hat er etwas bessere Anwartschaft auf Popularität, als diese Eintagsfliegen,
die weiter nichts suchen, als den Beifallszucker urtheilsloser Lesekränzchen. Ich sage
Anwartschaft, denn populär ist nur selten ein Dichter schon bei Lebzeiten, populär vermag ein
Dichter nur zu werden, nämlich in Zukunft, und die
Zukunft sollte doch für unsre Alltagskritiker ein Kräutchen Rührmichnichtan sein, –
damit haben sie nichts zu thun. Populär ist freilich ein vieldeutiger Begriff; wenn
darunter verstanden wird, daß ein Dichter dumm wie ein Kalendermacher oder geleckt wie
unsre Salonprofessoren schreiben soll, so wird Graf Schack in alle Zeit hinein unpopulär
sein und bleiben. Heißt aber das populär, daß ein Dichter das innerste Empfinden seiner
Zeit und seines Volkes poetisch wiedergibt, daß seine Werke nach Form und Inhalt jenes
körnige Leben athmen, welches zu allen geistig gesunden und ringenden Elementen einer
Nation, welchem Stande sie auch angehören, nach und nach hindurch zu sickern vermag, dann
wird auch Schack populär sein. Jedenfalls ist wahre Popularität etwas anderes als ein kurzes,
vorübergehendes Bekanntsein, sonst wäre sie ein Schein und ein Schemen, um den Niemand zu
beneiden wäre und nichts Erstrebenswerthes. Das eigentliche Wesen eines Dichters spricht
sich am deutlichsten aus in seiner Lyrik, sie zeigt am klarsten seinen Charakter und
sein Streben, – Anomalien
[19] kommen freilich vor – und vor allem wird es sich aus ihr am offensten ergeben,
wie ein Dichter zu seiner Zeit und seinem Volke steht. Bei Schack – und darauf kommt
es mir an – ist das in höchstem Maße der Fall, sein ganzes Wollen, Können und Empfinden
hat bereits in seinen Liedern und Gedichten treuen Ausdruck gefunden, – nur der Humor
tritt sehr zurück. Gedichte, Lyrik – das hat allerdings einen üblen Klang. Gepflegt von
einer Unzahl Dilettanten und handwerksmäßigen Vieldichtern, verspottet von der Kritik,
scheel angesehen vom Publikum ist unsere Lyrik eigentlich täglich in der Lage, um
Entschuldigung für ihr klägliches Dasein zu bitten.
Singe, wem Gesang gegeben, meint
Uhland; warum auch nicht, singen mag ein jeder soviel er will, nur muß nicht ein jeder
mit seinem Singsang der Oeffentlichkeit beschwerlich fallen. Wol keine Kunst bedarf so
sehr des Meisters, als die Kunst des Liedes, weil keine so reingeistig, keine so bestimmt
ist, nur die edelsten Fasern der Seele in Schwingung zu versetzen, keine so jedes
sinnlichen Beiwerks ermangelt, wie sie. Soll daher die Empfindung eines Volkes nicht
ermüden, nicht erlahmen, so müssen immer neue, immer klangvollere Saiten angeschlagen
werden, und das geschieht, wenn der Dichter erfüllt ist von der Weltanschauung seiner
Zeit, wenn er die ihr eigenthümlichen Gebilde und Bestrebungen in Fleisch und Blut
hinübergenommen hat. In jenen Liedern aber, welche die Gefühle des Herzens wiedergeben,
die nimmer altern und nie sich ändern, vermag nur Jener etwas Neues zu bringen, der in
sich selbst eine große Eigenart verkörpert und in voller Wahrheit das kundgiebt, was
in ihm ringt und blutet. Und das ist eben der Genius. Die Schöpfungen des Dilettanten,
des Stümpers, des Halbtalentes sind nicht deshalb so elend, weil sie stofflich den Schöpfungen
der Meister entlehnen und nachäffen, sondern weil sie Geburten innerer Lüge und Hohlheit sind.
Diese Männlein und Fräulein singen nicht von den Empfindungen, welche sie selbst durchpulsen,
denn sie haben gar keine, sondern von dem, was sie gelesen und gehört, und deshalb fehlt
ihrer Lyrik der Blutschlag der Aktualität, der Nothwendigkeit. So kommt es denn, daß in
der Epoche des Streites und des Dampfes und wiederum der werkthätigen Liebe und Entsagung,
in der Epoche heißen Suchens und Forschens auf
[20] allen Gebieten die Träger, Wolff, Scheffel und ihre Nachtreter, welche unentwegt
die Minne- und Kneipempfindungen unsrer Vorfahren wiederkäuen, den großen schreienden
Haufen bilden. Spielmannsweisen und Vagantenlieder blühen aller Ecken und Enden hinter
dem Ofen, während die echten Vagabunden dem Reichstage sehr wenig poetische Sorgen machen,
von edler Minne klingt es Tag und Nacht, und zugleich suchen unsre Minnedichter ihre
Gelüste nach einer Frau mit entsprechender Mitgift durch Zeitung und Heirathsbureau zu
befriedigen. Es ist wahrlich kein Wunder, daß derartiges Gewäsch nur noch auf Backfische
einigermaßen Eindruck macht, daß jeder kräftige, gesunde Geist darauf verzichtet, bei
unsren Lyrikern einen Wiederklang dessen, was ihn bewegt, eine Offenbarung dessen, womit
er ringt, ein Licht für die dunklen Regungen seiner Seele zu finden. Was uns fehlt, sind
Wahrheit und Männlichkeit, was uns notthut, sind Dichter, denen es ernst ist mit dem
Schlachtruf: Das Wort sie sollen lassen stahn, nämlich das lautere Wort innerlichen Lebens,
denen das Lied eine sittliche, befreiende Macht, ein Bote ist alles Höchsten, Wahren und
Reinen, das in uns webt.
* * *
Graf Schack ist solch ein Dichter, er lebt in seiner Zeit und seine Zeit lebt in ihm und was er singt, das hat ihn zuvor im Innersten gepackt, deshalb konnte nur er es singen. Die beiden Sammlungen von Liedern, die er bislang veröffentlicht hat, tragen die Titel "Gedichte" und "Weihgesänge"; mit Recht hat der eine Theil den ausschließlichen Namen Weihgesänge erhalten, denn Gedichte weihevoller Art bilden den Hauptast der Schack'schen Lyrik. Wie Adlerflug rauscht es um unsre Seele, erhabener Schauer durchwühlt uns das Herz, wenn uns wogender Hymnenrhythmus emporträgt auf jene Höhen, von denen herab wir Natur und Geschichte als ein lebendiges Ganze überschauen, von denen herauf wir Blicke, wenn auch nur verschleierte Blicke, werfen in das Weben der Gottheit. Zwischen den Trümmern von Persepolis hingelagert sah dereinst Volney im Geiste Völker und Reiche entstehen und vergehen, und seine "Ruinen" wurden zu einer großen Klage: Alles ist [21] Schatten, Tod, Nichts. Auch Schack ist durch die Länder des Orients gewandert, überall umringt von den morschen Resten vergangener Herrlichkeit, auch er hat zweifelnd und bangend emporgeschaut zu dem ehern ruhigen, unveränderlichen Firmament, auch ihm ist keine Antwort geworden auf seine Fragen, aber die Verzweiflung hat ihn nicht übermannt und im eigenen Innern hat er Ruhe, Trost und Hoffnung wiedergefunden. Jener bangen Stimmung gibt er in einem seiner gewaltigsten Gedichte, in den "Tempeln von Theben" lebendigen, mit großen Gleichnissen malenden Ausdruck:
. . . "Ueber der Erde weiten Todtenacker
Bin ich gewandert;
Vom Auf- zum Niedergang versank mir der Fuß
In der Asche zerstörten Lebens,
Wirbelte der Völker Staub
Unter meinem Tritt.
Werke von Uebermenschen
Fand ich wie Kinderspielwerk zerbrochen,
Reiche und Religionen
Bis auf den Namen verschollen.
Und ist in dem ew'gen Vergehn und Werden
Denn nirgend ein Halt?
All der Myriaden Menschen Geschick,
Die über die Erde geschritten,
Ist es, ein Irrlichttanz,
Im großen Dunkel erloschen,
Und taumelt Geschlecht auf Geschlecht
Der Vernichtung entgegen,
Daß ein Weltalter das andre betrauert,
Bis Vergessenheit Alles verschlingt?
O in die öde Nacht des Gedankens
Laß einen Lichtstrahl gleiten,
Daß in der Verzweiflung finstern Abgrund
Nicht die zagende Seele versinke!
Stille ringsum, nur vom Knistern
Der zerbröckelnden Trümmer unterbrochen.
Schweigend hat die Göttin den Schleier
Um ihre Träume gebreitet.
Fort und fort brüten die Sphynxe
Ueber der Zeiten großes Räthsel;
Aber droben, wo aus der weiten Unendlichkeit
Mit leuchtenden Sternenaugen
[22] Die Nacht herabsieht,
Ruht das Weltgeheimniß
Ewig unenthüllt
Ueber allen Himmeln."
Aehnliche Gefühle brechen auch im "Memnon" immer wieder durch; das Lied ist im Schatten der Obeliske Luxors gedichtet. Der Dichter sieht wieder auferstehen die Völker des alten Egyptens, wieder aufleben die einstige Pracht der Pharaonen, aber diese Pracht ist eine Blume, deren Boden mit Blut gedünkt, deren Geruch ein Geruch von Leichen, deren Nahrung das Elend erbärmlicher Sklavengeschlechter bildet. Und von den Mauern der Memnonssäule hallt der gespenstische Ruf zurück: So wird's bis an den Schluß der Zeiten dauern; laß, Thörichter, die Hoffnung schwinden auf Frieden und auf Menschenglück. Aber der Schluß klingt bereits versöhnender, als die dumpfe Verzagtheit, die aus den "Tempeln" athmet, die zweifelschwere Empfindung des Dichters löst sich auf in ein Gebet der Sehnsucht und brünstigen Erwartung!
"Da streicht ein Wind die Schläfe mir,
Von Thau fühl' ich die Wange feucht
Und schau' empor; blaß hängt am Himmelsbogen
Der Mond, deß kalter Strahl an mir gesogen;
Wie nächt'ge Vögel, plötzlich aufgescheucht,
Entflieh'n die düstern Traumgesichte
Und über mir seh' ich mit erstem Lichte
Das Frühroth sich auf Memnons Stirne legen –
Ein Zittern schleicht, ein ahnungsvolles Regen
Hin durch den Stein, und von den Lippen quillt
Dem Gott ein leiser Tonhauch, wie Gebet.
O töne, töne, heil'ges Bild!
Künd' uns das Licht, nach dem jahrtausendlang
Gen Osten hoffend du gespäht,
Der tiefen, düstern Weltnacht Ende!
In durst'gen Zügen trinkt mein Herz den Klang
Und grüßt den Morgen andachtsvoll,
Der an des großen Weltjahrs Sonnenwende
Der Menschheit Frieden bringen soll."
Ich denke, Gedichte dieser Art sind es, welche eine Reihe von Kritikern veranlaßt haben, Schack als einen Dichter der Form und der Abstraktion zu verunglimpfen. Verunglimpfen allerdings! Denn [23] ein Dichter, der seine Empfindungen und Gedanken nicht in Leben und Wärme umzuschmelzen vermöchte, wäre ein mittelmäßiger Poet, verunglimpfen aber auch deshalb, weil jene Kritiker die Werke Schacks durchblättert, aber nicht genossen haben. Und ich sage, Gedichte dieser Art, weil die Gemüthslieder Schacks oder die Balladen jener Vorwurf erst recht nicht trifft; es wird sich das späterhin zeigen. Einen Dichter des Formalismus beschuldigen, kann zweierlei Sinn haben. Entweder ist die Form zu mächtig für den Inhalt oder zu schwach, in dem einen Falle wird der Dichter leicht in Spielerei und Tändelei versinken, in dem andern wird er die Form vernachlässigen und sich in Abstraktion verlieren. Letzteres ist mehr bei den Dichtern einer noch jungen Sprach- und Kulturepoche zu befürchten, ersteres mehr in den Zeiten des Niedergangs. Die deutsche Sprache der Gegenwart nun befindet sich auf einer Höhe, die weder einen entscheidenden Fortgang voraussehen läßt, noch aber auch einen baldigen allgemeinen Verfall (so sehr von Schriftstellern und Journalisten auch darauf hingearbeitet wird); ihr Stamm ist fertig, sie setzt noch neue Blüten und Blätter an, aber sie wächst nicht mehr, ebensowenig jedoch verfault und welkt sie. In einer solchen Periode sind die Grenzen zwischen Cultur und Uebercultur an vielen Stellen haarscharf, und nicht minder die Grenzen zwischen Formgewandtheit und Formspielerei. Graf Schack ist formgewandt, seine Rhythmen fließen leicht und biegsam, seine Sprache hat Glanz und Fülle, seine Reime sind klar und tadellos, aber von diesen Rhythmen, von diesen Reimen getragen wird ein solcher Reichthum echter Gedanken und Gefühle, daß beides, Form und Gehalt in einander verschmilzt, eins wird und ohne Gefährde zwischen der Scylla der Formenschwelgerei und der Charybdis der Abstraktion hindurchfährt. Aber vielleicht verstehen die Kritiker unter Formalismus ein Drittes, Anderes, das im Grunde ganz anderen Namen führen sollte. Vielleicht halten sie dafür, daß es Schack an Leidenschaft, an Glut, an Farbe fehle. Das wäre ein Vorwurf, der nur in beschränktem Sinne als Vorwurf gelten könnte. Gerade wie in der Malerei gibt es auch in der Poesie zwei Arten des künstlerischen Ausdrucks, Zeichnung und Kolorit und im großen Ganzen neigt sich jeder Künstler, auch der bedeutende, einer dieser Ausdrucksweisen mehr als der anderen zu. [24] Den Tizians und Makarts stehen die Michel Angelos und Cornelius gegenüber. In der Dichtkunst zeigen sich zumeist diese Gegensätze minder schroff, weil die zeitliche Folge sie weniger klar hervortreten läßt, sie mehr verwischt, als das räumliche Nebeneinander. Immerhin ist nicht nur die Sprache des einen Dichters heißer, bilderreicher, schwellender, als die des andren, sondern auch das ganze Empfinden und Denken bei diesem kalt, bei jenem warm, bei diesem überwiegt das Blut, bei jenem der Geist. Aber die Kälte ist nicht immer ein Fehler, die Glut nicht immer ein Vorzug. Schack gehört in den meisten seiner Dichtungen keinem der Extreme an, die Harmonie zwischen Zeichnung und Farbe verbindet sich mit der Harmonie von äußerer Form und innerem Gehalt. Einige wenige Gedichte nehme ich aus, unter anderen "Licht und Finsterniß" sowie "Das neue Jahrhundert"; das erstere ist abstrakt und lehrhaft, ohne den Athem quellender Phantasie, das andere gibt vieles, aber nicht viel. Auch mehrere der Hymnen haben wenig von jener relativen Harmonie, aber sie bleiben nicht unter derselben, sondern sie zerreißen sie kraft jenes Dranges, der Cornelius beseelte, wenn er das Gleichmaß der Kraft opferte. Solch ein kaltes Gedicht ist der "Wasserfall von Tosa":
"Strömst du vom Himmel nieder,
Krystallene Fluth?
Ist es der Aether,
Der in Tropfen silbernen Thau's
Zur Erde herabrinnt?" . . .
nicht minder "Atlantis", "Aetna" und "Urania", – in großen Linien werden große Ideen, große Landschaften, große Stimmungen gezeichnet und wenn wir auch nicht in innerster Seele hingerissen, erschüttert werden, so packt uns doch ein erhabener Schauer, ein Gefühl belebender Energie und Größe. Aber der Dichter verweilt nicht immer auf den Höhen, er sinnt nicht immer dem unüberwindlichen Walten des Schicksals nach, er steigt auch herab in die Thäler, in das bunte Gewoge der Völker und er fühlt, was Herz zu Herz bewegt. Nicht auf allen Gängen kann ich ihm folgen, denn die Fülle der Gesichte ist allzugroß, aber ich glaube, die Mannigfaltigkeit und Tiefe seiner Lyrik auch durch wenige Einzel[25]züge genügend charakterisiren zu können. Der großen Geistesanschauung steht zunächst die Naturempfindung Schacks gleichmächtig und gleichwerthig gegenüber, in den Gedanken-Symphonien seiner Hymnen bildet sie mehr den Hintergrund, in den Liedern aber aus Spanien, aus Italien, aus dem Orient wird sie zur Seele und zum Nerv der Stimmung. Schack hat eine durchaus eigene Art, die Natur des Südens und Ostens anzuschauen und in sich aufzunehmen, sie unterscheidet sich vor allem von der Weise Freiligraths. Freiligrath sucht gewöhnlich nur das Bunte, Grelle, Blendende der Landschaft wie der Völker wiederzuspiegeln, er tummelt sich am liebsten in Antithesen und Contrasten, weder die zarteren Uebergänge vom Glanz zum Dunkel treten bei ihm hervor, noch dringt er in den Kern der Dinge ein. Mit einem Worte, Freiligrath sieht das Fremde selbst als etwas Fremdes an, es ist ihm nichts Vertrautes, sondern etwas Staunenswerthes, Seltsames, er lebt sich nicht hinein, sondern er reißt es an sich. Dadurch gewinnt er an Leidenschaft und verliert an Tiefe. Ganz anders Schack. Ihm ist die Fremde zu einem Stück Heimat geworden, er fühlt nicht nur ihre berauschende Pracht, er kennt auch ihr innerstes Leben, er kennt die Geheimnisse ihrer Schönheit, ihrer Geschichte, ihrer Trauer, er lebt und webt in ihr. Wenn sie ihm mit beredter Zunge von dem ewigen Kampf zwischen Leben und Tod, von dem ewigen Vergehen und Werden alles Irdischen erzählt hat, so gibt sie ihm auch die freudige Ruhe wieder, die tröstende Hoffnung und den Muth zu neuem Kampf. Und mehr! Dem gewaltigen Geistesodem, der über dem Orient, als über der Wiege des Menschengeschlechtes, als über dem Grabe zahlloser Reiche brütet, ihm verdankt Schack die Tendenz nach jener Universalität, welche das Nationale nicht befeindet, sondern welche wie die Krone aus seinem Stamm hervorwächst, nach jener lebensfreudigen Sittlichkeit, welche Wahrheit und Schönheit in eins verschmilzt, nach jenem Allmenschlichen, das den Keim des Göttlichen in sich trägt, und damit verdankt er ihm die höchste Weihe des Dichters. Schack sagt das selbst in seinem "Gruß an das Morgenland":
. . . . . "Im Geiste o wie oft, zu dir entrückt,
Hab' ich bei Nacht geruht an der Cisterne
[26] Und zu dem erstgebor'nen Heer der Sterne
Wie Yemens Wanderhirt emporgeblickt,
Indeß mein Herz, das in Gebet versenkte,
Sich in der Urwelt hehrem Glauben tränkte.
— — — — — —
— — — — —
In deinen Hallen, heil'ger Orient,
Nimm mich denn auf! Der großen Sonne näher,
Die ewig wolkenlos dort oben brennt,
Laß mich wie deine Weisen, deine Seher
Durch deiner Götterbilder lange Reihen
Eingehen zu der letzten deiner Weihen."
Jenes Hineinleben aber in die Fremde, jenes leibliche und seelische Vertrautsein mit ihr bezeugt nichts besser als der herrliche Cyklus "Lieder aus Granada" und es schmerzt mich, daß ich ihn nicht als lautersten Beweis hierherzusetzen vermag. Der Dichter reitet durch die Schlucht der Alpujarren der Ebene Granadas zu "durch wildgezackte Steinklippen und auf sturmzernagtem Pfade."
"Da stieg am Himmelsrand die ew'ge Leuchte,
Die Vega lag vor uns im Morgenstrahle
Und dampfte aufwärts, eine Opferschaale
Voll Weihrauch und voll klarer Himmelsfeuchte.
Im Frühglanz strahlten der Nevada Gipfel
Wie goldne Kuppeldächer von Moscheen;
Andächtig neigten in des Ostens Wehen,
Gleich Betenden, die Palmen ihre Wipfel."
Und als sich nun aus dem Teppich grüner Saaten, aus Myrtendickicht und Orangenbäumen die hehre Stadt erhebt, da sinken die Reisenden hin auf ihre Stirn und preisen Allah, den Schöpfer solcher Perle. Im zweiten und im dritten Liede durchwandert der Dichter die Alhambra.
. . . . "Im Lichtglanz, der von Saal zu Saale sprühte,
Erschloß sich knospend das Gestein und blühte
Farbreich um Wand und Säulenknauf;
Mit ew'gem Klingen sprudelten Caskaden
Zum Laubendach der schlanken Colonaden
Den Silberregen auf . . . . . .
[27] Aus Rosenkelchen strömte sinnbetäubend
Wollüst'ger Duft in leichten Flocken stäubend,
Die Küsse von dem Mund der Braut,
Und an der Wand die rankenden Gedichte,
Sich lösend, athmend in dem Morgenlichte,
Entsandten einen Jubellaut . . . . . ."
Das vierte Bild belebt die Scenerie des alten Königsschlosses mit den Erinnerungen an seine einstigen Bewohner, an Lindaraja, an Musa und diese Erinnerungen werden in den folgenden Gedichten fortgesponnen.
"Erloschen ist der Stern von Yemen,
Zerstört die Welt, die er beschien,
Nichts blieb zurück als bleiche Schemen,
Die nächtlich um die Trümmer ziehn.
Vergebens, daß Ihr nach dem Volke,
Vor dem die Erde bebte, fragt;
Wie nach dem Sturm die letzte Wolke
Verlassen durch den Himmel jagt,
So, wo im scheitelrechten Brande
Der Sonne alles Leben dorrt,
Irrt es in Mahgribs weh'ndem Sande
Unstät dahin von Ort zu Ort.
Blickt hin, wo zitternd die Gazellen
Den Schakal fliehn, der heiser bellt!
Heiß schlägt die Wüste ihre Wellen,
Im Hauch des Samums klappt das Zelt;
Gekauert auf die dürre Erde,
Gebräunt der Nacken und der Arm,
Liegt – um ihn her die magre Heerde –
Halbnackend der Kabylenschwarm.
— — — — — —
Oed ist der Geist den Wüstenkindern,
So wie die Erde um sie her,
Es hat, um ihre Pein zu lindern,
Ihr Auge keine Thränen mehr.
Einmal im Jahr nur, wenn die Horden
Am Abend vor den Zelten stehn,
Und über sich zum fernen Norden
Die Kranichheere fliegen sehn:
[28] Dann quillt von ihren Lippen leise
Ein Seufzer, ihre Thräne rinnt,
Der Jüngling sinkt ans Herz dem Greise,
Die Mutter hebt empor das Kind:
Und schwermutvoll in stillem Harme
Sehn sie dem flieh'nden Zuge nach,
Zum Himmel breiten sie die Arme
Von Mund zu Munde fliegt ein Ach!
"Grüßt, Vögel – rufen sie – die schöne
Granada, unsrer Väter Glück!
Nach ihr, der Mutter, schaun die Söhne
Mit sehnsuchtvollem Blick zurück.
O einmal nur, den wir besessen,
Den theuren Boden wiedersehn,
Ihn küssen und mit Thränen nässen –
Dann möchten wir zu Grabe gehen" . . . . . . .
Mit den Liedern "Komm, Freundin meiner Seele, Zoraide!" "Abendliche Geister wandeln" und dem wiegenden, leichten "Kommt, Peri'n und Dschinnen!" schließt der Cyklus stimmungsvoll ab. Nicht nur der Wunsch, die Naturempfindung Schacks zu klarer Anschauung zu bringen, hat mich verführt, diese Lieder näher zu betrachten, sondern auch jene Freude, welche den Kritiker befällt, wenn ihm aus all dem schmutzigen, grauen Geröll, das die Zeit als "Poesie" ihm entgegenspült, endlich einmal ein Edelstein entgegenleuchtet. Wie es sein Recht ist, seine Pflicht, jene Seelen zu kennzeichnen, denen die göttliche Kunst ein Geschäft ist, eine Spielerei, eine Thorheit, so ist es seine Lust, Andere theilnehmen zu lassen an den guten Funden, die er macht.
So lebendig und warm wie das Naturgefühl sind auch die übrigen Empfindungen, welche der Dichter Schack in Lieder ausströmt. Die Empfindungen der Liebe, des Mitleids, der Sehnsucht und der Trauer. Auch ihnen entweht ein Athem echter Eigenart, sie werden freilich nie zum lauten Schrei der Verzweiflung, noch zum jauchzenden Entzücken, aber die milde Geklärtheit in Leid und in Lust trägt stets die Prägung des Tiefeigenen, des Wahren. So ist es in Gedichten wie "Strophen":
[29] "Wenn du hinweggegangen,
Glaub' ich lange dich noch zu sehn;
Um die Schläfe und um die Wangen
Deinen Athem mir fühl' ich wehn" . . . .
"Serenade" (Leise, um dich nicht zu wecken, Rauscht der Nachtwind, theure Frau, Leise in das Marmorbecken Gießt der Brunnen seinen Thau"). "Aus der Heimat" (Laß still die Thräne rinnen, Auf deinem Heimatherd! Genesest du nicht innen, Was ist das Außen werth?) "Der Tod der Nachtigall" und vielen andren. Solche Geklärtheit Kälte nennen, das heißt mit falschen Begriffen vorgehen oder es heißt, falsch empfinden, denn in ihr offenbart sich nicht selten die höchste Macht der Poesie, das blutige Ringen der Natur in lautere Schönheit aufzulösen. Mit welchem heiteren Uebermuth sich dieselbe bei Schack verbindet, das bezeugen Gedichte vom Schlage der "Herbstfeier in Rüdesheim" (Nun taumelt aus dem Laube – Die Traube – Ins durstge Faß wie toll; – Wie stolpern und wie knarren Die schwerbepackten Karren Des süßen Weines voll!), mit welcher Tiefe und Innigkeit des Schmerzes, dafür reden die "Lieder der Trauer" oder die Nänie "Der kleine Franz". Diese letztere erzählt von einem Knaben, der "gestern noch im muntern Spiel" um den Dichter sich tummelte und in der Nacht plötzlich gestorben ist.
"Zarter Knabe, der du bang
Sonst im Finstern zagtest
Sprich, wie du den großen Gang
Durch das Dunkel wagtest,
Wagtest, in den Schlund, davor
Alle zitternd stehen,
Durch das schwarzverhängte Thor
So allein zu gehen?
Seit dem letzten Sonnenstral
O wie weit die Reise!
Weiter, weiter tausend Mal,
Als vom Kind zum Greise!
Jüngst erst auf der Mutter Schoß,
Ihr am Busen lagst du,
Nun die Größten riesengroß
Plötzlich überragst du . . . . . .
[30] Lächelnd blickst auf uns du nun,
Denen du entrissen;
Kindisch dünkt dich unser Thun,
Unser Sein und Wissen.
Seit du über mich so hoch
Bist erhöht, o Kleiner,
Nur mit heil'gem Schauer noch
Denken kann ich deiner.
Soll ich noch eins hervorheben, was dieser Lyrik ihre Eigenart verleiht, so ist es die Mannheit des Dichters; die Zartheit geht niemals in Zerflossenheit, die Empfindung niemals in Empfindsamkeit, die Thräne nicht in Schluchzen über. Ein offener, ein freigesinnter, ein weitblickender Geist, von keinen Vorurtheilen umdüstert, weder von denen einer oberflächlichen Idealistik, noch von denen eines nivellirenden Materialismus, tritt uns überall entgegen. Besonders in der Geschichtsauffassung spiegelt sich jene Mannheit wieder; ich könnte das nachweisen an den kernigen Balladen Schacks, welche zumeist der Geschichte entnommen sind, – ich nenne nur "Himilkon", "Metella", "Die seligen Inseln", "Das verschlossene Thor", "St. Amarus" (Wer bist Du, wunderbarer Greis? es regt Sich rastlos, wie das Laub, vom Wind bewegt, Im Sturme des Gedankens deine Lippe! Du scheinst kein Sterblicher von unserer Art; Vom Kinn zur Erde fließt Dein weißer Bart, So wie der Bergstrom von bemooster Klippe.) "Antonio de Leyva" (der Vertheidiger Pavias) und "Am Grabe Konradins" (Du Staufe, dem zum Throne Ein Blutgerüst verliehn, Der statt der Kaiserkrone Den Kranz von Rosmarin, Statt Hermelin und Seide Ein Leichentuch geerbt Und es zum Purpurkleide Mit eignem Blut gefärbt) – aber seine schönste Entwicklung findet der historische Geist des Dichters in seiner Epik, sie bildet die Blüte seiner Anschauungen und seiner Kunst. Als Lyriker ist Schack ein Gestirn unter anderen Gestirnen, als Epiker jedoch ein Polarstern, der uns auf neue Bahn zu leiten vermag, und zwar auf gute Bahn. An der Zeit ist es daher, von den Gedichten Schacks zu seinen Dichtungen überzugehen, von seiner Lyrik zu seiner Epik.
* * *
[31] Aber was ist uns Deutschen Hekuba, was ist diesem Jahrhundert die Epik! Pfeifen es nicht
längst die Spatzen von allen Dächern, daß das Epos siech und welk geworden, daß es abgedankt
hat zu Gunsten seines Sprößlings, des Romans? Es ist das ein Gerücht, das kritische und
literarhistorische Muhmen aufgebracht haben, mehr aus Liebe zu Klatsch, als zur Wahrheit,
ein Gerücht, das, zum Axiom geworden, niemand fürder zu begründen braucht. Um ein übriges
zu thun, hat man weiterhin die Unterscheidung von Volks- und Kunstepos aufgestellt, jenes
als eigentliches, höchstes Epos auf den Thron gehoben und darauf dekretirt, daß ein Volk,
sobald es aus den geologischen Formationen seiner Existenz in die historische getreten ist,
ein Volksepos nicht mehr gebären kann. Ja, was haben unsre Geschichtsschreiber nicht alles
für Begriffe zusammengeschmiedet, um den wogenden Strom des Lebens in ein handliches Schema
zu bringen und wie gläubig haben Schüler und Laien nicht alles nachgebetet und fortgepflanzt!
Und was ist der Zweck aller jener Klaubereien, vom "Volksepos" bis zu der beliebten "Blütezeit"?
kein anderer, als das Dichterwort "Nur der Lebende hat Recht" in sein Gegentheil zu verkehren.
Die Vergangenheit hat Recht, die Gegenwart mag zufrieden sein, wenn sie die Brosamen auflesen
darf. Aber die Gegenwart wird sich trösten, vorläufig weist ihr nur die Theorie die Aufgabe
des Brosamenlesens zu, in Wirklichkeit hören die Dichter nicht auf, zu singen und zu sagen
und von Lenau bis zu Hamerling und Weber erfreuen sie sich begeisterter Gunst und Theilnahme.
Und so läßt es sich ertragen! Doch, was ist es denn im Grunde mit diesem Mysterium, dem
Volksepos? Eine Reihe von Völkern, Assyrer, Griechen, Finnen, Germanen besitzen von Uralters
her einen reichen Sagenstoff, dessen bedeutsamster Theil in einer großen epischen Dichtung
sich crystallisirt hat. Der oder die Dichter dieser Epen sind unbekannt, – vielleicht
gab es ursprünglich nur eine Zahl von Liedern und Romanzen, die
späterhin von einem Genius umgearbeitet und in einen Reif gefaßt wurden, – das Unbekannte
aber heißt in der Literatur gewöhnlich Volk, – Volksbücher, Volkslieder, Volksepen. Dagegen
wäre wenig einzuwenden, wenn man nicht im Handumdrehen aus dieser historischen Bezeichnung
eine ästhetische gemacht. Gewiß, wir
[32] alle ziehen die Ilias der Aeneis vor, die Nibelungen dem Messias, aber nicht deshalb,
weil uns die Sagenstoffe, aus denen sich jene Epen auferbauen, tiefer im Blute stecken,
unsrer Seele vertrauter sind, als die Erfindungen Vergils und Klopstocks, sondern weil
die Stoffe packender behandelt, frischer und lebendiger erzählt, blühender
ausgestaltet sind, mit einem Worte, weil Homer ein gewaltigerer Dichter war,
als Vergil. Die Befreundung mit den Sagen ist uns Lesern der Gegenwart erst allmählich
aus den Epen selbst erwachsen und wenn es einst umgekehrt war, wenn einst die Sänger
hinzogen durch das Land und den Hörern Bekanntes in neuer Form vortrugen, so war das ein
Vorzug, aber ein Nachtheil zugleich. Den Vorzug bildet die Frische, das Leben, die
Unmittelbarkeit, welche erreicht wird, den Nachtheil der Mangel an geistiger Größe, an
Vertiefung, an Idealität im reinsten Sinne dieses Worts. Das Volksepos wie das Volkslied
athmet jene bestrickende Sinnlichkeit, jenes naive Behagen, jene sorglose Freiheit,
welche den Culturmenschen anmuthet wie Erinnerungen der eigenen Kindheit, aber so gewiß
der Geist höher steht als das Fleisch, so gewiß Goethe's Mignon-Lieder fast alle
Volkslieder der Welt überragen, weil sie das tiefste Geistessehnen mit der schönsten
Leiblichkeit verbinden, so gewiß ist auch ein Epos möglich über Izdubar, Ilias, Nibelungen
hinaus, und zwar ein gewaltigeres Epos. Poesie ist Geisteskunst und ebensowenig der Geist
der Menschheit sich zur höchsten Blüthe entfaltet hat im Anfange der Zeiten, ebensowenig
sein eingebornes Kind die Poesie, – nicht hinter uns, vor uns liegt das Ziel. So weit die
Geschichte der Dichtkunst reicht, hat diese stets der Geistesentwicklung sich angeschmiegt
und sich dem Einfluß der anderen Künste hingegeben: in Indien, in Egypten, bei den Ebräern
und Assyrern war sie monumental, architektonisch, riesengroß (macht nicht selbst die Lyrik
eines Kalidasa den Eindruck ornamentalen Zierraths?), bei den Hellenen plastisch, in der
Renaissance (Ariost, Tasso) malerisch, bei Goethe und bei der Romantik musikalisch. In all
diesen Perioden hat immer eine Kunst die Herrschaft ausgeübt, die übrigen folgen und
daraus ist zu schließen, daß auch die Poesie die Tage ihrer Hegemonie sehen, ihr eigenes
Wesen rein entfalten und das Ideal der Kunst erfüllen wird. Wie es ihrem geistigen Charakter,
ihrer
[33] Ausdrucksform, die zugleich die Form alles menschlichen Denkens und Verkehrens ist,
der Sprache gemäß erscheint, muß die Poesie in ihrer edelsten Gestaltung jene Idee des Schönen
verwirklichen, welche der Idee des Menschenthums analog ist: Verklärte Leiblichkeit, Geist der
Wahrheit, vollendete Ethik als Seele. Unendlich fern liegt dieses Ziel, aber unsre Sache ist es,
in der Richtung darauf vorwärts zu gehen und keine Vergangenheit zu fürchten. Gleichwie das
Drama weitere Gipfelpunkte ahnen läßt, so auch das Epos, Homer ist eine Seite und Dante ist
eine andere Seite, aber zwischen und neben ihnen liegen noch viele andre Flächen, welche
zu begrenzen sind. Angenommen jedoch, es ist so, wie du schreibst, so wäre nichts als die
Ständigkeit der epischen Kunst bezeugt, viel wichtiger ist die Frage, ob nicht die alte
Form der Epik zu verwerfen ist, seitdem der Roman an ihre Stelle getreten. In den einfachen
Culturverhältnissen, in denen die Ilias entstand, war es möglich ein großes nationales Epos
zu schaffen, das alle Kämpfe, Strebungen und Beziehungen eines Volkes umspannte, heutzutage
vermag nur der Roman, befähigt durch seine breithinfließende prosaische Form, dem wirren,
nüchternen, stürmischen Treiben der Gegenwart gerecht zu werden. Dieser trivial gewordene
Satz stützt sich auf zwei nicht minder triviale Falschheiten. Die Einrichtungen und Sitten
der Homerischen Epoche waren ohne Zweifel durchsichtiger als die unsren, aber sie waren
immerhin verschlungen genug, um es dem Epiker unmöglich zu machen, ein irgendwie vollständiges
Bild von ihnen zu geben. Jede Ausgrabung im alten Hellas oder in Kleinasien erweitert unsre
Kenntnisse von der allgemeinen Cultur jener Zeiten in ganz anderem Grade, als die eifrigste
Durchforschung der Ilias, und ich frage, wer hätte denn, bloß den Homer vor Augen, in Ilion
solch ein Nest vermuthet, wie es Schliemann aufgedeckt. Das ist es eben! Der Epiker hat zu
keiner Zeit die Absicht gehabt und konnte sie nicht haben, etwa für den künftigen Culturhistoriker
zu dichten, er hat die Welt niemals in ihrem Alltagskleide gesehen, sondern im Sonntagsgewand
und nur die Stimmung, das Ideal seiner Epoche loht uns aus seiner Dichtung entgegen. Hier
liegt der tiefere Sinn jener Sage, nach welcher Homer blind war, und wehe dem Epiker,
welcher sieht, ihn werden die
Einzel[34]heiten verwirren, die Tendenz wird ihn in Fesseln schlagen und aus dem Homer wird ein
Vergil. Damit rühre ich an die zweite Trivialität, welche den Roman für wesenseins mit dem
Epos, abweichend nur in der Form, erklärt. Die geschichtliche Entstehung des Romans verführt
zu dieser Trivialität, da der Roman, wenigstens bei uns, aus den in Prosa aufgelösten Epen
des Mittelalters erwachsen ist. Aber den Unterschied zwischen Fluß und Meer, zwischen süßem
und bittrem Wasser kann man nicht dort bestimmen, wo beides ineinander übergeht, sondern
dort, wo jedes in seiner ganzen Eigenart besteht. Ein in Prosa aufgelöstes Epos ist kein
Roman, ebensowenig wie ein Roman in Versen ein Epos bildet. Die Form ist deshalb nicht
Nebensache, aber sie ist nicht das Entscheidende, aus der Ilias macht eine Uebersetzung
in Prosa keinen Roman, aus dem Don Quijote der fünffüßige Jambus kein Epos. Der tiefere
Unterschied liegt im Gehalt, im Ziel. Das Epos (die sogenannte poetische Erzählung, welche
der Novelle, nicht dem Roman entspricht, lasse ich außer Acht) gibt, um es kurz zu sagen,
das Ideal einer Epoche, den Geist, die Essenz, es ist ein Gemälde der Welt, aber kein
Spiegel, der Roman dagegen gibt die Realität, das Portrait der Menschen und ihrer Werke,
das Epos bestrahlt die Dinge, der Roman beleuchtet sie. Und deshalb macht der Roman das
Epos nicht überflüssig, er fordert es zu seiner Ergänzung ähnlich wie das moderne Sittendrama
die Tragödie, denn es gibt Höhen der Idee, des Kampfes und des Zieles, welche dem Roman und
dem Sittendrama verschlossen bleiben, weil sie den Dingen, die sie schildern, zu nahe stehen,
und es gibt Abgründe, es gibt Wirrungen des Lebens, zu welchen Epos und Tragödie nicht
hinabsteigen können, ohne ihr Bestes zu verlieren. Von manchen Geistern wurde und wird
diese Scheide zwischen Epos und Roman des öfteren muthwillig mißachtet, aber nicht zum
Heile der Literatur. Auf einer solchen Mißachtung beruht, um nur ein Beispiel anzuführen,
die Ueberwucherung der Literatur mit historischen Romanen. Gerade die Geschichte – Nibelungen
und Ilias bezeugen das, denn beide sind Dichtungen, welche "alte Mären" behandeln, –
bildet den reichsten Born für das Epos, weil es die nothwendige Idealität von selbst
in sich trägt, welche, oder vielmehr
[35] deren Schein der Romandichter (ich erinnere an Freytag und seine "Ahnen") auf heiklen
Umwegen, etwa durch geschrobene, unnatürliche Sprache erreichen muß. Und nun genug der
Widerlegung, das trefflichste Zeugniß für die Lebenskraft des Epos bilden die Schöpfungen
der heutigen Epiker selbst und der mächtigste unter ihnen heißt Schack. Neben ihm ragt
nur Hamerling empor, er ist sinnlicher, glühender, als Schack, aber dieser übertrifft
ihn weit an epischer Klarheit, an Größe des Vorwurfs und an Reichthum der Phantasie.
Hamerlings schwüle Sinnlichkeit schlägt immer wieder in ihr Extrem, in gedankentrübe
Abstraktion, um, und so ist es bezeichnend, daß seine jüngste Dichtung "Amor und Psyche"
heißt, während Schack zu gleicher Zeit die "Plejaden" gedichtet, ein Werk, Lebenzeugend
und Lebenentsprossen.
* * *
An der Schwelle der Schack'schen Epik steht eine Dichtung, deren Grundzug ein lyrischer ist, da sie das Suchen, Zweifeln und Irren eines Ichs darstellt, während die epischen Bilder nur als Intermezzi erscheinen. Dieser Grundzug erinnert an die Divina comedia, aber er tritt noch um Vieles schärfer auf und ist breiter ausgeführt, als in der Schöpfung Dantes. Aber die "Nächte des Orients", von diesen rede ich, gemahnen noch in manchen anderen Punkten an das erhabene Werk des Italieners; führt dieses durch die Reiche des Jenseits, so zeigen die Nächte das Diesseits, enthüllt Dante das künftige Schicksal des Menschen, so entrollt Schack die Vergangenheit der Menschheit, athmen wir bei Jenem die Luft und den Weihrauch der katholischen Gläubigkeit, so bei diesem den scharfen Hauch der modernen Weltanschauung, des modernen Titanenthums. So ist es denn eine comedia humana, welche Schack geschaffen, ein Ziel lag ihm vor Augen, wie es kein höheres für den Epiker gibt, denn wo ist ein Stoff, der weiter und tiefer greift, als die Entwicklung des Menschen, als die Geschichte des Menschengeschlechtes in ihrer Entfaltung von Anbeginn bis heut!
Mit einem Prololg, gemischt aus Satire und aus heißer Sehnsucht, hebt die Dichtung an; der Poet ist müde der Civilisation [36] und ihrer geisttödtenden Maschinerie, er ist müde dieses unaufhörlichen Kampfes um Brod und Leben, dieses Widerspiels zwischen Elend und Prasserei, er ist müde der Dummheit, der Selbstsucht und der Eitelkeit, müde des Parteienhaders und der Arroganz der Schriftgelehrten und müde vor allem des Zweifelns und des Suchens ohne Hoffnung, ohne Ziel. Da steigt vor seinem Geiste auf der sonnige Orient, ein brennendes Sehnen überfällt ihn nach jenen Paradiesen, wo der Mensch kein Bedürfniß, keine Sorge, keine Unruhe kennt und in schnellem Entschlusse rafft er sich auf, aus den Nebeln des Nordens zu flüchten dem Morgenlande zu. Aber selbst in Arabien fühlt er sich noch im Banne der europäischen Cultur und weiter und weiter treibt es ihn gen Osten.
"Sofort mein Roß will ich zum Ritte rüsten.
Wenn hinter mir der Städte Lärm versank,
Wird die Natur an ihren großen Brüsten
Mich heilen von den Schmerzen, dran ich krank;
Und wenn ich erst an Saba's Weihrauchküsten
Den Balsamduft der Morgenfrühe trank,
Im Wüstensand, am Rande der Cisternen
Von neuem werd' ich athmen, leben lernen.
Erwuchsen dort in heil'gen Einsamkeiten,
Auf Sinai's, auf Meru's Bergeshaupt,
Die Götterlehren nicht in alten Zeiten,
An die noch heute Der und Jener glaubt?
Und wo des Hedschas Oeden sich verbreiten,
Durch die der heiße Wüstenglutwind schnaubt,
Empfing nicht da, versunken im Gebet,
Aus Allahs Hand den Koran der Prophet?
Dort oder ferner, wo zuerst auf Erden
Die Opferglut ins dunkle Himmelsblau
Emporstieg von der Priester Flammenheerden,
Auf Albur's hehrem Gipfel, urweltgrau,
Wird unsrer Zeit die Offenbarung werden,
Nach der sie lechzt, so wie die Flur nach Thau;
Im Sterben sind die alten Religionen,
Nach Licht und Weisheit dürsten die Nationen".
So schließt der Prolog. Im Beginn der eigentlichen Dichtung reitet der Erzähler landeinwärts den Zeltstädten der Beduinen ent[37]gegen und in wechselnden Bildern entrollt sich ein farbenglühendes Gemälde der Steppen und Triften Arabiens. Schier ohne Rast geht es hin durch die reine, frische Luft des Morgens, durch den Brand des Mittags, durch die Schatten des Abends und den bleichen Glanz der Nacht. Fern am Wüstensaum verlodert der Sonne Feuer blutigroth und wie aus lautrem Glanz gewoben spannt sich das Zelt der Nacht am Himmel aus. Von keinem Dunst verschleiert blitzen und leuchten die Gestirne vom Firmament hernieder, der milde Fomahaud, das Schiff Argo, die Taube und der strahlende Canopus. Nur dann und wann macht der Wandrer Halt, um als Gast der Wüstensöhne am einfachen Mahle theilzunehmen und den Liedern und Märchen der Tapferen zu lauschen. Aber die sorglose Genügsamkeit dieser Kinder der Natur geht auf den Dichter nicht über, Zweifel und Verzweiflung lassen ihn nicht los und als er eines Tages auf die Spuren eines blutigen Kampfes stößt, packt ihn heftiger denn je die Empfindung, daß es Thorheit sei, Frieden zu suchen, so weit noch Menschen athmen, und er flieht tiefer in die Wüste, der menschenleeren Einöde zu. Am Saume einer Oase hält er endlich Rast, die Führer entzäumen die Pferde und baldiger Schlaf drückt den erschöpften Reisenden die Augen zu. Mitten in der Nacht aber fühlt der Dichter, wie der Thau frostig auf seine Stirn niedertropft und erwachend sieht er auf dem Gipfel eines Hügels die Ruinen alter Paläste und Tempel in den klaren, mondleuchtenden Himmel hinaufragen. Sein Geist wird erregt, er springt auf und schreitet den Hügel hinan. Ueber umgestürzte Säulen und Marmorplatten, durch Haufen von Schutt und vorbei an gewaltigen Obelisken führt der Weg zu einem Bau mit schwindelhohen Wänden; unendliche Säulengänge breiten sich nach allen Seiten aus, in den Hallen drängen ungeheure Steinbilder aus jeder Wand hervor, geflügelte Stiere mit Adlerklauen und menschlichem Haupt, breitbugige Löwen und Einhörner und Widder. Bewältigt sinkt der Wandrer hin und denkend und träumend läßt er die Zeiten vor sich vorüberziehen, in denen solch ein Bau entstand und schauernd empfindet er, daß auch auf ihnen bereits der allgemeine Fluch der Menschheit lastete.
[38] "Und doch! auf Erden waren schön're Tage,
Die noch uns aus den Augen alter Sage,
Dem Dämmermorgen der Geschichte,
Anschaun mit wunderbarem Zauberlichte.
Hat ein Geschlecht vom Götterstamme
In diesem Stromthal nicht geblüht,
Als an der hohen Himmelsflamme
Zuerst das Erdenleben aufgeblüht?
Und glänzt aus fernster Zeitenferne
In unsren Abendhorizont voll trüber
Gewölke nicht gleich einem Morgensterne
Das alteParadiesherüber? . . . . . . .
. . . O wär ein Zauber mein,
Ich würd in jene frühe Zeit mich flüchten,
Um unter ihren Blüten, ihren Früchten
Beglückt zu leben, all mein Sein
Gäb' ich für eine Stunde, dort verlebt!"
Da plötzlich, hinter dem Sinnenden klingt ein höhnisch Lachen; er blickt rückwärts und sieht auf einem Steinblock stehend einen Greis, in Kleidung eines Emirs. Auf seiner Stirn, scheint es, haben Jahrhunderte ihre Zeichen und Male gefurcht, seine Augen sind trüb, nur manchmal blitzt es wie helles Feuer aus ihnen hervor. Du Thor, redet er den Dichter an, daß du von einem Paradiese träumst! Die Menschheit ist von jeher eine Pestbeule der Welt gewesen und wird es ewig sein, Jammer und Elend bleibt ihr Los, ein wüstes Spiel, eine Gaukelei ohne Sinn ist das Leben und Todesfäulniß bildet das letzte Ziel. Gleichsam erstarrend hört der Wandrer dem geheimnißvollen Alten zu und dieser bezeichnet sich als einen der Erstgeborenen, der den Tod nicht finden kann und seit Urzeiten die Erde durchschweift. Sein Name ist Hadschi Ali. In tausend Bildern läßt er Erde und Geschichte vor seinem Zuhörer neu aufleben, um ihn von der ewigen Nichtigkeit des Daseins zu überzeugen, aber der Dichter gibt sich nicht gefangen. Da fordert ihn Ali auf, eine Zeitlang mit ihm zu reisen und er erklärt zugleich, daß er ein wunderbares Elixir besitze.
"Wer einen Tropfen kostet von dem Saft
Aufthun vor dem sich, wie durch Zauberkraft
Die Pforten der Vergangenheit,
Und wählen darf er nur die Zeit,
[39] Die er als Gegenwart erblicken will,
So wird ihm augenblicks vergönnt,
In ihr zu leben" . .
Voll Sehnsucht, durch solch einen Zaubertrank lebendige Anschauung der Vergangenheit zu erlangen, geht der Dichter willig auf den Wunsch des Emirs ein und dieser gibt ihm nun das Mittel, alle jene Epochen durchleben zu können, welche der Reisende für Paradieseszeiten der Menschheit hält. Bittre Enttäuschung wartet seiner. Gleich die Urzeit ist keine Zeit des Lichtes, der Unschuld, sondern eine Wüste tiefster Nacht und ungeheurer Schrecknisse. Feuchtwarmer Brodem bedeckt die Erde, endlose Wälder und Sümpfe sperren dem Sonnenlicht den Weg, unaufhörlich rollen Gewitter am Himmel hin und unaufhörlich zuckt und bebt die Erdkruste und überflutet das Meer die Länder. Drachen und andere Unwesen suchen unersättlich nach Beute, der Mensch selbst ist halb noch Thier, er berauscht sich in Blut und scheußlicher Kannibalismus hält ihn in den Banden dumpfer Fühllosigkeit. Ein zweiter Trunk versetzt den Dichter in die Aera der Pfahlbauten, er lebt als Knecht eines Häuptlings in enger Beschränktheit ein Dasein ohne Reiz und Schönheit. Wol fallen bereits Strahlen eines höheren Lichtes in die nebelgraue Oede, aber noch wird die Religion entweiht durch Menschenopfer und die Liebe stirbt unter dem Drucke kleinlicher Stammesfeindschaft. Und wiederum erwacht der Dichter, enttäuscht und ärmer an Illusion. Inzwischen aber hat er mit Ali die Ruinenstätte verlassen und zieht weiter in den Osten Asiens hinein. Die Zweifel, die in ihm erwachen an dem Glücke der Vergangenheit, bestärkt Ali durch Schilderungen aus der Geschichte der Assyrer, Phöniziens und Israels, überall deckt er den Sumpf auf, der unter dem grünen Rasen gähnt. So kommt es denn, daß selbst die Herrlichkeiten und Wonnen Kaschmirs, in welchem die Reisenden verweilen, ohne Eindruck an dem Dichter vorübergehen. Die Schilderung dieses begnadeten Landes, dieser Sonnenstadt gehört zu den lieblichsten Blüthen der Dichtung und ich versage es mir nicht, zwei Kapitel derselben hierherzusetzen.
. . . . . . "Mälig senkten
Ostwärts die Felsen sich; wir lenkten
[40] Hinunter von den Höhn des Hindukusch,
Und schon, zu Seiten unsrem Paß,
Aufs neu bekleidete mit Baum und Busch
Die Erde sich; hochwüchs'ges Kusagras
Schwoll längs des Wegs in breiten Wogen,
Und sieh! als wir um eine Ecke bogen,
Lag Kaschmirs Thal im letzten Sonnenglanz
Umringt von himmelhoher Berge Kranz,
Vor unsren Blicken da, ein weites Meer
Ueppigen Grüns, auf das, von Früchten schwer,
Der Mangobäume Zweige niederhingen.
Durch das Gewirr der Pflanzenschlingen,
Die von der Wurzel bis nach oben
Die Aeste in einander woben,
Sah ich sich einen Fluß (Hydaspes hießen
Die Alten ihn) mit klarer Flut ergießen,
Und aus dem vielverschlungnen Dickicht schauten
Goldstrahlende Paläste, Kuppelbauten,
Pagoden und Moscheen und Minarete –
Das war Kaschmir, die Stadt der Städte,
Das Erdenparadies der Orientalen.
Noch eben sahn wir in des Abends Strahlen
Aus seiner Gärten Grün die Tempelspitzen,
Kioske, Thürme, Dome blitzen.
Wir zogen in die Stadt, wo dichte Schwärme
Von Hindus und Moslimen mit Gelärme
An uns vorüberwogten durch die Gassen
Und alle Dächer und Terrassen
Von Papageien wimmelten und Pfauen;
In Palankinen ruhten holde Frauen,
Dazwischen sah man heil'ge Stiere
Und Büßer, an den Boden starr gebannt,
Und Reiter, zu Kamel, zu Elephant.
— — — — — —
Und nächtlich in den Gärten Adschit Singhs
Wie lieblich war's, bei Sternenschein zu träumen,
Wenn aus Bananendickicht, Mangobäumen
Der bunten Lampen Schimmer rings
Herniederstäubte. Auf dem weichen Rasen
Lag ich gebettet zwischen Marmorvasen,
Daraus des Ostens Weihrauch quoll,
Und tausend Blüthen hauchten wollustvoll
Sehnsücht'ge Düfte in die Nacht;
[41] Herab auf meine Stirne thaute sacht
Der feuchte Staub der plätschernden Fontaine,
Die klingend in die Schale fiel,
Und bei der Lichter Wechselspiel
Auftauchten aus der Dämmrung weiße Schwäne,
Die glitzernd auf den Silberwogen
Des Wasserbeckens Furchen zogen.
Ich sah, den Cedern und den Tamarisken
Entragend, schlanke Obelisken
Und drüberhin die Kuppeln und die Zinnen
Der Zauberstadt in Mondesglanz.
Wie erst ward ich bestrickt, wenn Sängerinnen
Ihr Lied begannen, wenn im Tanz
Bei Zitherschall sich Bajaderen wiegten,
Holdflüsternd sich an meine Seite schmiegten
Und, während an der Arme Spangen
Die Silberglöckchen lieblich klangen,
Schmeichelnd mit duftenden Guirlanden
Von Lotos und Jasminen mich umwanden." . . . .
Die Sinne baden sich in Lust und Schönheit, aber die Seele des Dichters bleibt kalt und unberührt. Immer von neuem flieht er aus der Gegenwart in die Vergangenheit, während draußen der Muezzin zum Gebete ruft, vertieft er sich in die Dialoge Platos und das Bild des alten Griechenlands steigt vor ihm auf. Hellas! gewiß dort blühte eitel Glück, Vollendung, edelster, ungetrübter Genuß, das Paradies war dort, wenn auch nicht der Menschheit, so doch einem ganzen Volke aufgethan. Alis Elixier ermöglicht dem Schwärmenden, die Wirklichkeit zu erkennen. Er lebt im alten Athen als Sklave des Symmias, das Joch, das er trägt, ist leicht, berauschend wirkt die Wundermacht der Künste und Wissenschaften auf ihn ein, aber erfährt auch, daß die Schatten der Fülle des Lichtes entsprechen. Als er zu Olympia sich in den Kreis der Freien drängt, wird er gepeitscht, und als er gar die Augen zur Tochter seines Herrn zu erheben wagt, wird er in unterird'schen Kerker geworfen und zum Tode verurtheilt. Und in weiteren Nächten lernt der Dichter sodann, daß auch den gepriesenen Zeiten des Ritterthums und des Humanismus Schande anhaftet, die Schande des Fanatismus und des rohen Irrwahns, oder vielmehr er lernt es nicht, er sieht es und merkt es am eigenen Leibe. Daneben [42] gehen die Erzählungen Alis, der auch jene Epochen vor dem Genossen aufrollt, welche dieser nicht auf seiner Seelenwanderung leibhaftig sich entfalten sieht. Aber dennoch, so viel Düstres und Trübes auch der Dichter erfahren, klar ist es ihm geworden, daß die Geschichte der Menschheit wie ein Kampf zwischen Licht und Nacht sich darstellt, jede neue Epoche bringt neuen Glanz und das Dunkel schwindet mehr und mehr, obwol es zu Zeiten siegreich wiederum bis zum Vordergrund herandringt. Diese Tendenz ist klar im Gedichte ausgesprochen (Aufwärts, ja aufwärts geht der Menschheit Gang, ob sich ihr Pfad auch krümmt und windet); auch der greise Emir enthüllt sie und zum Ueberflusse hat sie Schack selbst in einem prosaischen Nachworte bestätigt. Der Grundgedanke der Dichtung, so heißt es dort, läßt sich kurz dahin zusammenfassen: Der Mensch ist nicht von einem ursprünglich reinen und glücklichen Zustande später entartet, er hat sich vielmehr im Laufe unzählbarer Jahrtausende allmählig aus thierischer Roheit erhoben und steigt zu immer höherer Entwicklung auf; nicht in der Vergangenheit liegt das goldene Zeitalter, sondern in der Zukunft. Dieser Gedanke ist für die Dichtung um so bedeutsamer, als der greise Ali durch ihn zum Schlusse ein ganz besonderes Interesse empfängt. Er enthüllt sich nämlich gleichfalls als Suchenden, dem selbst die Wahrheit aufgegangen ist, daß die Menschheit sich von unten nach oben entwickle, aber auch als Zweifelnden, der volle Klarheit nicht zu erringen vermag; erst dadurch, daß auch in seinem Genossen die gleiche Weltanschauung erwächst, findet er Frieden und Ruhe. Und dieser Friede wird bald zum seligen Tode. Der Dichter aber kehrt, neuer Kraft und neuen Glaubens voll, nach Deutschland heim und wie ein Zeichen empfindet er die Kunde, daß das Vaterland inzwischen seine Einheit wieder gefunden und zu einem großen, zukunftsvollen Reiche geworden ist. Freudig begrüßt er diesen Umschwung.
Nur einzelne Theile des großartigen Werkes habe ich hervorgehoben, und von dem Plane
des Ganzen nichts als matte Umrisse nachgezeichnet, aber sie werden genügen, um das
Eine klar zu machen, daß die Dichtung ein Athem durchweht, welcher der Athem unsrer
Zeit ist, daß diese Zeit ein Schacht von Poesie ist, reich und
un[43]erschöpflich, wie nur irgend eine andre und daß einer von jenen, welche die
Goldmine bereits gefunden, Adolf Friedrich Schack genannt wird. Ohne Zweifel fehlt
es der Dichtung auch an Fehlern und Mängeln nicht, manchmal erlahmt des Dichters
Formensinn, manchmal seine Phantasie, aber solche Unvollkommenheiten haften an jedem
Menschenwerk. Eine andere Frage ist es jedoch, ob Schack den Stoff, der ihm vorlag,
so wirksam gestaltet hat, wie er es hätte können, ob er nicht Größeres erreicht,
wenn er die Ichform aufgegeben, die Reflexion und Lyrik, soweit sie rein als solche
auftreten, verbannt und den Stoff – die Entwicklung der Menschheit – überall in Handlung
umgesetzt hätte. Die Frage kann verneint werden unter dem Gesichtspunkte, daß der Dichter
eben kein Epos schaffen wollte, sondern nur eine Selbstbefreiung durch Forschen und
Gegenforschen suchte, daß es ihm weniger darauf ankam, der Gegenwart ein fertiges Bild
aufzurollen, als vielmehr das Ringen der Allgemeinheit in dem eigenen Ringen wiederzuspiegeln.
Es ist das gute Recht des Dichters, aus seiner Dichtung heraus beurtheilt zu werden und die
erste Pflicht des Kritikers ist es, nicht seine eigenen Wünsche, sein eigenes Wollen zum
Maßstab zu nehmen. Unter diesem Gesichtspunkt muß zugegeben werden, daß der Dichter in
den Nächten des Orients sein Ziel in herrlichster Weise erreicht hat, daß er uns alles
gegeben hat, was wir erwarten durften. Jene Frage kann freilich auch bejaht werden,
denn der Stoff ist nicht nur einer episch-lyrischen, sondern auch einer rein epischen
Behandlung fähig und diese Behandlung wäre allerdings, eine gleiche Kraft des Talentes,
wie sie in den Nächten waltet, vorausgesetzt, die höhere, weil sie die kunstgemäßere ist
und vor allem, weil sie statt des Scheines der Wirklichkeit (das Elixier und die Visionen
ermöglichen ja nur den Schein) die Wirklichkeit, das Leben der Vergangenheit selbst
gestalten könnte. In einer andern größeren Dichtung, den Plejaden, hat Schack diese
zweite Art der Behandlung vorgezogen und dadurch einen reineren Eindruck erzielt,
wenngleich in ihren gewaltigsten Einzelheiten die Nächte unerreicht bleiben. Gerade
wegen solcher Höhenpunkte jedoch nehmen die Nächte des Orients eine so unvergleichliche
Stellung in der Literatur der Gegenwart ein.
* * *
[44] Zwischen diesen beiden Gipfeln aber der Schack'schen Poesie, den Nächten und den Plejaden, liegt noch eine Reihe von Dichtungen, welche von der Vielseitigkeit und von dem Reichthum ihres Schöpfers solch blendendes Zeugniß ablegen, daß ich ihren Inhalt in Kürze skizziren muß. In der Buntheit des Inhalts, in der Mannigfaltigkeit der Form lehnt sich zunächst an die Nächte ein Dekamerone poetischer Erzählungen an, welche der Titel Episoden zu einer Sammlung vereinigt hat. Zum größten Theile sind es wahre Novellen, die ein seelisches Problem zu lösen suchen oder ein Genrebild von keckem Farbenauftrag und graziöser Zeichnung bieten, gemeinsam ist den meisten der schwüle Hauch düstrer Verhängnisse, gemeinsam auch die Landschaft und die Leidenschaft, aus welcher die Tragik erwächst. Nur der Regenbogenprinz, ein Märchen, macht von allen diesen Gemeinsamkeiten eine volle und köstliche Ausnahme, theilweise auch Glycera und der Flüchtling von Damaskus. Von den übrigen Erzählungen nenne ich als Perlen novellistischer Versepik Rosa, eine erschütternde fast quälende Geschichte, welche in ihrer Katastrophe an Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde erinnert, ferner Heinrich Dandolo, ein Gedicht, das von einem Venezianer berichtet, der in Konstantinopel von einem Nebenbuhler überfallen, geblendet und auf zerbrechlichem Kahn ins Meer hinausgestoßen wird, und schließlich Fiordispina. In Florenz kämpfen zwei Familien seit langen Zeiten miteinander, da aber diese Feindschaft mehr und mehr der Stadt wie den beiden Geschlechtern selbst Unheil bringt, so beschließen die Häupter der Familien, eine Versöhnung dadurch herbeizuführen, daß zwei der Kinder sich vermählen. Der Sohn jedoch, welcher zum Bräutigam erkoren wird, liebt bereits eine andre edle Florentinerin, und so würde die Versöhnung scheitern, wenn nicht Fiordispina, die Geliebte, sich selbst den Tod gäbe, sich opferte, um die Vaterstadt von dem Alpe zu befreien. Die letzten Scenen dieses Dramas hat Schack in tief ergreifender Weise zur Geltung gebracht, besonders ist es der Schluß, welcher erschüttert, und zwar durch den jähen Uebergang von heißer Lebensfülle zur Ruhe des Todes.
"An ihre Seite auf die Bank von Moos
Zieht Fiordispinas Hand den Jüngling nieder
[45] Und schmiegt sich sanft an seine starken Glieder
Und nimmt und gibt der Liebe süße Glut.
Er fühlt, indeß er ihr am Busen ruht,
Hinaus, hinab mit Steigen und mit Fallen
Die warmen Ströme ihres Lebens wallen.
In Ringeln fällt ihr schwarzes Lockenhaar
Auf ihn herab, indessen Auge klar
In Auge blickend bis zum tiefsten Grund
Der Seele niederschaut. Mund glüht an Mund
In vollem heißem Kusse, und zusammen
Lodern zu einem großen Brand die Flammen,
Die aus dem tiefsten Wesen Beider brechen;
Die Lippen schweigen, nur die Blicke sprechen,
Nur Seele jubelt stumm der Seele zu,
Bis in der großen Stille Ich und Du
Vereinigt untergehn in sel'gem Tod
Und einer Flamme gleich, die aufwärts loht,
Empor sich schwingen über Welt und Zeit" . . . .
Diesem Abend überquellenden Genusses folgt alsbald der Morgen leidvoller Bitterkeit; sehnsuchtsvoll betritt der Jüngling das Haus der Geliebten, aber schon ruht sie vor ihm auf ihrem Lager todt, starr wie Eis, fahlen Auges, vom Hauch des Grabes abschreckend umweht. Ganz im Gegensatz zu dieser Tragik stehen zwei Dichtungen, welche Schack mit Recht als Versromane bezeichnet, denn beide, durch alle Wetter sowol wie Ebenbürtig spiegeln in humoristischen oder auch satirischen Bildern die Realität des modernen Lebens wieder. Ihre Form, die Ottave, gestattete dem Dichter freiere Bewegung, spielenderes Hinweggleiten über die dürren Sandflächen jenes Lebens und feinere Malerei, als ihm die Prosa vergönnt hätte, aber in Epen hat der Vers die romanhaften Gedichte nicht verwandeln können. Durch alle Wetter ist ein Wander- und Reiseroman, dessen Einheit in den Personen ruht, dessen Handlung aber sich in eine Ueberfülle von launigen und romantischen Abenteuern zersplittert. Dresden, Baden-Baden, London, Pacifik-Eisenbahn, Mexiko, Urwald, Spanien, Neapel, Brigantennest, – das sind die Hauptstationen des Weges, an welchen uns der Dichter rasten läßt, im Mittelpunkt der Handlung steht ein deutsches Liebespaar, das getrennt wird und erst nach einer endlosen Weltwanderung sich wieder zusammenfindet, aber wir folgen auf all den Kreuz- und [46] Querzügen mit herzlichem Behagen, denn unerschöpflich ist des Dichters Füllhorn an farbenreichen Schilderungen, an humoristischen Glossen, an modernen Charakteren und die meisterhafte Form, der schillernde Reim thun das Ihrige, den ästhetischen Genuß zu erhöhen. Solche Dichtungen sind freilich Caviar für die Masse deutscher Leser, aber die Zunge des Feinschmeckers hat auch ihr Recht. Schade ist es nur, daß sich Schack in diesem Gedicht wie in den meisten andren durch seine Kenntniß fremder Länder und seine Lust an landschaftlichen Reizen zu einem Uebermaß der Schilderung hinreißen läßt, der Stamm der Handlung verliert sich allzu oft unter Ranken und Lianen, die Grundlinie des Gebäudes unter Ornamenten. Diese Ranken winden sich freilich zu einem Kranze duftiger Blüthen, diese Ornamente sind aufs Zierlichste ausgeführt, aber sie sollen stets nur ein Schmuck sein und dürfen nicht zum Selbstzweck werden. In dieser Hinsicht sowol wie durch weitgreifende Tendenz stellt sich Ebenbürtig als ein reiferes Werk des Dichters dar, Handlung und Charakteristik treten in den Vordergrund, der Schauplatz beschränkt sich, ohne jedoch an lebendiger Unmittelbarkeit zu verlieren. Der Roman bietet eine übermüthige Satire auf jenen Kasten-Hochmuth, welcher in der Menschheit statt Brücken Scheidemauern aufzurichten auch heute noch bemüht ist und deshalb legt er nicht nur für den Dichter, sondern auch für den Menschen Schack ein freundlich anziehendes Zeugniß ab. Manchmal streift der Humor nahe den Grenzen der Carrikatur, immer wieder jedoch biegt er in luftigen Sprüngen von dem Markstein ab in sein eigenes, sonniges Gebiet zurück. Zwischen Epos und Roman ein Mittelglied bildet eine Dichtung Schacks, welche an idealem Gehalt den Nächten, an einheitlicher Kunstform den Plejaden nahesteht, der Lothar. Die Jugend- und Mannesgeschichte eines Deutschen verwebt sich mit den großen Ereignissen unseres Jahrhunderts zu einem breiten, kraftathmenden Gemälde, dessen Reichthum an Figuren und Szenerien eher zu groß als zu gering erscheint. Die Freiheitsbestrebungen in Deutschland, die Freiheitskämpfe Spaniens und Griechenlands erfüllen den Hintergrund, im Vordergrund steht Lothar, der ideale, begeisterte Burschenschafter, der sich selbst treu bleibt und seinen Hoffnungen trotz aller Kämpfe, Verfolgungen und [47] Gefahren, ja trotz der Sklaverei, in die er geräth. Verflochten sind in das Ganze eine Reihe packender Episoden, von denen besonders das grausenvolle Höllenbild, das der 6. Gesang entrollt, mit dem anmuthigen Idyll des ersten erschütternd contrastirt. Jenes schildert den Fluch der Sklaverei, dieses ein Kindheitsleben im Schlosse an der Hart. Wie das Gedicht entstanden, erzählt der Dichter selbst in einem Vorwort, das an Gregorovius gerichtet ist. Der Lothar ist eine Frucht meiner früheren Wanderungen durch jene Länder, in welchen wiederholte Reisen mich fast heimisch gemacht haben ... Ich schrieb ihn zum größten Theil angesichts der Gegenden, durch welche ich meinen Helden führe, unter den Palmen und Zelten Syriens und auf dem Dache des lateinischen Klosters von Jerusalem, an den Ufern des Guadalquivir und auf der herrlichen über dem Abgrund hängenden Alameda von Ronda, auf einer Nilbarke und inmitten der ungeheuren Trümmer des hundertthorigen Theben ... Wie ich meine, gilt dieser Satz auch von anderen Dichtungen als dem Lothar, dieser Schaffensweise verdanken sie ihre Frische und Anschaulichkeit, diese Weise verschuldet aber auch das allzulange Ausspinnen der Schilderung, das Ueberwuchern der Reflexion und des äußeren Zierrats.
* * *
Ich komme nun zu dem Meisterwerke Schacks, den Plejaden, zu der Erfüllung der Verheißung, welche Lothar ist, zu der aufgeblühten, reich entfalteten Rose seiner Poesie. Während der Lothar wie stürmisch flackerndes Feuer bald hierhin, bald dorthin schlägt und der Held des Gedichtes jugendlich begeistert unklaren Idealen nachjagt, sind die Plejaden ein helles, ruhiges Licht, abgeklärt in der Form wie im Gehalt, alle Leidenschaften umschmiegt der Mantel der Schönheit, aus dem Most ist edler Wein geworden. Beide Dichtungen sind nationalen Geistes voll, ob der Stoff der Plejaden auch dem Alterthum entnommen ist, aber der Lothar spiegelt unser Sein und Denken, wie es ist, die Plejaden dagegen bilden ein großes Gleichniß dessen, was unsre Sehnsucht ist, des ideal verklärten Deutschlands. Wie ein heiliger Mahnruf klingt es [48] immer wieder aus der Dichtung: Vaterland sei auch du ein Reich des Lichtes, eine Stätte der Schönheit, eine Feste brüderlicher Einheit. Nationale Dichtung ist eben nicht identisch mit der Behandlung von Stoffen, welche deutschem Leben und deutscher Geschichte entschöpft sind, national ist alle Poesie, welche unsre Seele in Schwingung bringt, welche uns anschaut, wie mit Augen alter, wiedergefundener Freundschaft, welche uns gegenübersteht wie Fleisch von unsrem Fleisch und Blut von unsrem Blut. Dieses Merkmal scheint sehr bestimmt, aber es scheint nur, weil es für die Empfindung, die ich auszudrücken suche, keine genügenden Worte gibt. Die Empfindung selbst jedoch, auf welche ich mich berufe, ist so bestimmt, daß man aus ihr heraus die Verwandtschaft der Völker herleiten könnte. Fast alles, was die Franzosen geschaffen, erregt nur unsre Sinne, unsre Nerven, während die echten, großen Schöpfungen aller germanischen Stämme uns anmuthen wie Eigenes, unsre Seele berühren. Allerdings, ein Goethe steht uns näher, als ein Shakespeare, der Faust näher, als der Hamlet, aber das ist ein gradueller Unterschied, kein qualitativer. Auch der Stoff ist nicht gleichgültig, aber unter den Händen des großen Dichters wird alles Gold, wird jeder Stoff ein nationaler, freilich der eine mehr, der andre minder. Die Plejaden gehören zu jenen Werken der Literatur, welche immer mehr Schönheiten enthüllen, je öfter man zu ihnen tritt, je tiefer man sie in sich aufnimmt. Haben sie Fehler? mich dünkt, nein; der einzige, den ich entdeckte, ist, wenn auch nicht geringfügig, doch leicht verbesserlich, so daß ich ihn von vornherein abthun will, um mich weiterhin des Tadels enthalten zu können. An mehreren Stellen nämlich stört der Dichter den sonst so reinen Fluß der epischen Erzählung durch subjektives Hervortreten mit der eigenen Person, durch Anrufung des Lesers und dergleichen mehr. Damit reißt er uns aus der Illusion heraus, aber die epische Illusion ist nicht minder wichtig, als die theatralische, sie zu verletzen, nicht minder bedenklich. Es kann strittig sein, ob die Kunst die Aufgabe hat, ob es ihr möglich ist, uns völlig in andre Wirklichkeit hinüberzuziehen, oder ob sie nur den Schein der Wirklichkeit gibt, das aber ist gewiß, unsre Wirklichkeit sollen wir möglichst vergessen und uns hingeben dem Zauber der Dichtung. Welch [49] ein Stoß für unsre Empfindung wäre es, wenn plötzlich bei Betrachtung einer Statue, eines Gemäldes wir dadurch gestört würden, daß der Künstler aus einem Versteck hervorträte und uns zuriefe: nun aber vorwärts! zur Musterung der linken Seitenpartie. Aber ist es etwas anderes, wenn der vierte Gesang der Plejaden anhebt:
Nun zu Phanors Landhaus laßt uns kehren!
Seit dem Tage, da zu weiter Wandrung
Kallias aufgebrochen, denkt Arete
An den Fremdling nur . . . .
Was hat der erste Vers für einen Zweck, er kann einfach fortgelassen werden und muß es, wenn der Dichter seinen Vortheil versteht; dieser Vortheil heißt Vergessen des Dichters über seinem Werk, ungestörtes Traumwandeln im Reiche der Phantasie. Schwieriger wäre es den Anfang des achten Gesanges zu ändern, der unter dem gleichen laßt uns leidet. Aber allzu viel Mühe dürfte es doch nicht kosten, das fortwährende unser zu eliminiren und ein objektiveres Wort an Stelle desselben einzufügen. Doch nun genug des Mäkelns!
Die Handlung, welche den Plejaden zu Grunde liegt, ist eine einfache; sie erzählt von einem athenischen Jüngling, Kallias, der nach Ionien geschickt ist, um die Bewegung der kleinasiatischen Griechen gegen die Perser zu schüren. Noch ehe er seinen Auftrag ausrichten kann, lernt er Arete kennen, die Tochter Phanors, eines aus Athen Verbannten, der inzwischen Freund und Rathgeber des Xerxes geworden ist. Rasche Liebe erfaßt die jugendlichen Seelen, bald aber scheidet Kallias wieder aus dem Hause Phanors, um seinen Auftrag zu erfüllen. Diese Erfüllung verwickelt ihn in den Aufstand der Jonier zu Sardes, er wird von den Persern gefangen genommen und in das Innere Asiens weggeführt. Eine vornehme Perserin, Roxane, befreit ihn aus dem Kerker und gesteht ihm ihre Liebe; verzehrend ruht auf ihm ihr schwarzes Auge, tief wie wolkenlose Sommernacht, mit trunkenen Worten malt sie ihm den Genuß, Brust an Brust zu ruhen in dunkler Laube, schon fühlt er den Boden unter sich zittern und wie berauscht wünscht er, an ihren Busen zu sinken, ihren wollustheißen Athem langen Zuges von ihren Lippen zu schlürfen, in ihrem Feuerkuß zu verglühen –
[50] Da das Antlitz hebt er, und vom Himmel
Hochher funkelt der Plejaden Sternbild
Auf ihn nieder.
Er erinnert sich des Abends, da er in Athen vom Vater Abschied nahm und dieser, zu dem leuchtenden Siebengestirn, den Plejaden, hinaufweisend, dem Sohne seinen Segen gab und ihn bat, an Hellas zu denken, so oft er am Himmel den funkelnden Reigen jenes Gestirnes ziehen sehe. Er gedenkt dieser Stunde und siegreich überwindet er die Anfechtung und er bewahrt die Treue, die er der Geliebten, die er dem Vaterlande schuldet. Nach Athen heimgekehrt, nimmt Kallias theil an der Schlacht von Salamis und findet dann Arete wieder; Phanor hat schon zuvor den Tod gesucht und gefunden in einem Kampfe mit Bergvölkern, um nicht an dem Zuge des Perserkönigs gegen Hellas sich betheiligen zu müssen. Dies ein kurzer Umriß der Dichtung, aber was besagt solch ein Umriß von dem Schönen und Herrlichen, das er umschließt! Auferstehen sehen wir vor unsren Augen in königlicher Pracht das alte Athen, –
. . . in der Morgensonne Strahlen
Ueber der Oliven Silberwipfel,
Steigt die Stadt mit ihren Marmorgiebeln
Vor uns auf, die unser Aller traute
Seelenheimath ist, die große Männer,
Große Thaten, wie der Frühling Blüthen
Trieb. . .
auferstehen die blühende Landschaft Kleinasiens und wiederum lebendig werden das Riesenreich der Perser in all seinem Glanze und der Buntheit seines Aufbaus. Vorüber rauscht der heilige Krieg der Jonier, vorüber ziehen die Lilienstadt Susa, vorüber die märchenhaften Paläste persischer Großen, deren goldne Söller sich auf Jaspissäulen erheben, deren Hallen wie aus grünen Lianenwäldern emporwachsen, vorüber die Heerschau des Xerxes.
Eh der große Festtag anbricht, leuchten
Heil'ge Feuer schon auf allen Bergen,
Allen Hügeln, hoch ins reine Nachtblau
Lodernd; und die tausend Thürme Susas
Sind zu Brandaltären umgewandelt.
Auf den Knien liegt ringsumher die Menge.
[51] Magier stehen, hauptbekränzt, in weißen
Wallenden Gewändern vor den Feuern,
Fort und fort mit Sandelholz die Flammen
Nährend. . . . .
In dem Thale, wo mit träger Strömung
Des Choaspes gelbe Fluth dahinschleicht,
Unabsehbar wogt das Heergedränge .....
Mit den Wagenkämpfern Lydiens,
Die, in rechter Hand den Bogen, mit der
Linken ihre schnaubenden Gespanne
Stacheln, rückte Gobryas vorüber;
Mit den pfeilgewaltigen Hyrkaniern
Artabanus. Braune Steppensöhne
Vom Jaxartes, ungezählte Schwärme,
Sprengen vorbei auf ihren wiehernden Hengsten,
Stirn und Brust vom Mähnenhaar umflattert . . .
. . . Die Völker
All des männerreichen Asiens drängten
Sich heran, Chorasmier mit der Fangschnur,
Meder, axtbewehrt, im Gürtel Dolche,
Saker, erzbehelmt, mit runden Schilden;
Indier auf der Elephanten Rücken;
Nubier dann in Leopardenfellen,
Und auf Dromedaren Arabiens gelbe
Söhne, kühn wie ihrer Wüste Löwen.
Vorüber ziehen dann der Markt von Athen, die wogende Versammlung seiner Bürger, die Seeschlacht von Salamis, vorüber die hehren Gestalten des greisen Machaon, des Themistokles, des Aeschylos, des Phanor und das alles wird getragen von einer Sprache, so fließend, so klar, daß wir wie im Traume entrückt werden aus aller Schalheit unseres kleinen Daseins. Der Vers, den der Dichter gewählt hat, ist, wie ersichtlich, der trochäische Fünfer. Oben habe ich als das passendste Metrum für eine deutsche Epopöie jambische Reimpaare genannt, aber ich hatte dabei natürlich eine allumfassende Dichtung, wie das Schahnahme im Auge, welche eines gleichförmigen Maßes bedarf, das allen Stimmungen und Erscheinungen gerecht zu werden vermag, ohne zu ermüden. Für eine Dichtung, die gleich den Plejaden eine einzelne Oktave umspannt, in der selbst die Leidenschaften zu einer harmonisch gleichmäßigen Wärme abgedämpft sind, die alles Ringen [52] und Kämpfen in milde Dämmerung rückt, für eine solche ist das Wahlrecht des Dichters ein weit freieres, uneingeschränkteres. Die Wahl und die Behandlung des Trochäus in den Plejaden bildet geradezu ein Zeugniß sicherer Meisterschaft, ich glaube nicht, daß uns ein anderer Vers so wiegend und schaukelnd wie auf Wellen eines klaren, sonnigen Meeres, umspielt von lauen Winden durch die seligen Gefilde der Schönheit – als solche erscheinen uns ja die Stätten der Hellenen und schildert sie uns der Dichter – dahinzutragen vermöchte. Eine ideale Verklärung ist das Gedicht, aber es verklärt auch den Leser und gereinigt und geläutert fühlt er sich, wenn die weihevollen Schlußverse seine Seele durchklingen. Kallias lehnt mit Arete am Borde des Schiffes, das sie gen Athen trägt, und empor zu den Plejaden deutend spricht er:
. . . . . Sieh, durch Strudel
Und Orkane haben nun die Holden
Mich – und Dich an meiner Seite, Theure –
Ins gerettete Vaterland geleitet!
Wie er's sagte, glitt auf plätschernden Wellen
Uferwärts das Boot schon; des Piräus
Hafen nahm es auf; und vor den Beiden
Blühte in dem Rosenlicht der Frühe
Nach und nach mit all den wonnigen Plätzen
Attika empor; des Lykabettus
Gipfel warf den ersten Strahl des Morgens
In das Thal hinab, und fernher hörten
Sie die Wellen des Illyssus rauschen.
* * *
Schacks epische Dichtungen nehmen den breitesten Platz seiner poetischen Wirksamkeit ein, in ihnen wurzelt auch seine Bedeutung. Aber wie sein lyrisches Schaffen einen markigen Nebenzweig bildet, so auch sein dramatisches. In der Vorrede zu dem Trauerspiel Timandra, welches die Katastrophe des Pausanias behandelt, spricht sich der Dichter selbst über Ziel und Absicht seiner dramatischen Thätigkeit und über die Hoffnungen aus, welche ihm das Theater der Gegenwart einflößt. Ich halte meine Dramen, so heißt es dort, für durchaus aufführbar und bühnenwirksam. Wenn ich sie trotzdem den Bühnen nicht angeboten habe, so lassen sich die Gründe [53] dafür unschwer errathen. Die Befriedigung, welche selbst die erfolgreiche Darstellung eines ernsten Dramas bei unsren Theaterzuständen gewährt, steht in zu großem Mißverhältniß zu der Mühe, die es kostet, dasselbe in angemessener Weise zur Darstellung zu bringen, denn die weitaus größte Mehrheit unsrer Intendanzen pflegt neue Trauerspiele nur als Lückenbüßer zwischen Oper und Posse anzusehen und sie, auch wenn sie Beifall gefunden, bald wieder bei Seite zu schieben. An einer weiteren Stelle wendet sich Schack energisch gegen die Unsitte, das Buchdrama bei der Leserwelt in immer größeren Mißcredit zu bringen, und dasselbe, möge es noch so reich an Poesie sein, als einen Bastard zu betrachten, unwürdig neben dem Roman oder auch der Lyrik einen Platz einzunehmen. Ich will diese Frage hier nicht erörtern, aber das Eine scheint mir keines Beweises zu bedürfen, daß ein Werk, welches einen geeigneten Stoff statt in epischer, in dramatischer Form widergibt, ein volles Anrecht auf Theilnahme hat, sobald es nur die dramatischen Gesetze befolgt und im übrigen würdig ist. Die dramatischen Gesetze des Conflikts, der Steigerung, der Leidenschaft sind ewig, die theatralischen gelten nur für eine Zeit und der Dichter, welcher sich den letzteren fügt, thut wohl daran, weil er sich die Bühne sichert, das heißt die unmittelbarste Einwirkung auf das Publikum seiner Zeit, aber der Dichter, welcher nur jene befolgt, verdient die Aufmerksamkeit der Kritik und des Publikums in nicht minderem Grade. Von jenen Dramen, welche im Buchhandel erscheinen, ohne bisher aufgeführt zu sein, obwol sie sich den Regeln der Bühne anschmiegen, sehe ich dabei völlig ab, sie werden mit Unrecht Buchdramen genannt, weil diesem Begriff nun einmal der Nebenbegriff des Untheatralischen unweigerlich anhaftet. Der Gegensatz von Dramatisch und Theatralisch bedingt es denn auch, daß ich die Ansicht Schacks, alle seine Dramen seien bühnenwirksam, nicht ihrem ganzen Umfange nach zuzugeben vermag. Soweit ich seine dramatischen Dichtungen kenne, unterscheide ich in denselben zwei Gruppen, in der einen, zu welcher Timandra und die Pisaner gehören, herrscht die Leidenschaft, die Charakteristik vor, in der andren, welche sich aus Heliodor und Atlantis zusammensetzt, bildet die Idee das Wesentliche. Aus beiden Gruppen will ich eins der [54] Glieder näher betrachten, es wird sich ergeben, daß die Leidenschaftsdramen dramatisch und theatralisch zugleich, die Ideendramen dagegen in ihrer jetzigen Gestalt nur dramatisch sind.
Den Pisanern liegt als Vorwurf zu Grunde die Geschichte des Grafen Ugolino Gherardesca, dessen grausiger Abschluß in Dantes Hölle mit riesenhaften Contouren gemalt ist. Auch Gerstenbergs Tragödie gibt nur das Ende des historischen Dramas wieder, das eins der beredtesten Zeugnisse für die unselige Parteiwirthschaft im mittelalterlichen Italien bildet, er zerrt die wenigen Verse Dantes, wenn auch nicht ohne Talent, zu fünf Akten aus. Schack vermeidet diesen Fehler, indem er den hauptsächlichen Nachdruck auf die Vorgeschichte legt, welche an erschütternden Momenten des Höhepunktes würdig ist. Ein kurzer Ueberblick über die Vertheilung des mächtigen Stoffes in fünf Akte wird die Kraft des Dichters am deutlichsten kennzeichnen. In Pisa waltet wie in allen Städten Oberitaliens der Gegensatz, der Widerstreit zwischen Guelfen und Ghibellinen. Der Guelfe Graf Ugolino hat den Ghibellinen die Obergewalt entrissen, welche bis dahin der Erzbischof Ruggieri inne hatte. Durch tyrannische Willkür entfremdet sich der thatkräftige, aber auch stolze und rücksichtslose Ugolino den Adel Pisas, durch einen Krieg mit Genua, welcher der Stadt harte Opfer auferlegt, das Volk. Eine Empörung bricht aus, während Ugolino ein Fest zu Ehren seines Sohnes Guelfo feiert, der als Sieger heimgekehrt ist, und den Ugolino wie auch seine anderen Söhne einzig seiner Liebe für werth erachtet. Die Seele der Empörung bildet der Erzbischof Ruggieri, doch hält sich der listige Mann öffentlich zurück. Nicht nur als politischer Gegner ist ihm Ugolino verhaßt, sondern auch als persönlicher Todfeind steht er ihm gegenüber. Als der Graf die Herrschaft an sich riß, wurde die Geliebte Ruggieris getödtet und mit Mühe rettete dieser den einzigen Sohn, Ato, den er späterhin als Neffen bei sich im Hause erzieht. Um die Empörer, welche sich in der Nähe der Scheunen, die das aufgespeicherte Korn der Stadt in sich bergen, befestigt haben, aus ihrem Schlupfwinkel hinauszudrängen, will Ugolino die Scheunen mit flammenden Pechkränzen bewerfen lassen. Die Bürgerschaft, welcher die Hungersnoth droht, bittet Ugolino flehentlich, von seinem Vorhaben abzustehen, aber der [55] Graf weigert sich hartnäckig, unbekümmert um das Gottesgericht, das die Bürger ihm prophezeihen. Damit schließt der erste Akt. Die Exposition ist klar und vollständig, die Gegensätze sind scharf und markig herausgearbeitet, die Spannung ist hinreichend geweckt und nur der Schluß der ersten Verwandlung könnte theatralisch packender sein. Im zweiten Akte enthüllt Ugolino im Kreise seiner Familie seine ehrgeizigen Pläne, auf seine fortdauernden Siege vertrauend hofft er die Königskrone Italiens erringen zu können. Zugleich weist er durch Eidschwur den Verdacht von sich, daß er in der Schlacht von Meloria, durch welche 5000 Pisaner in die Gefangenschaft der Genuesen gerathen sind, in welcher sie immer noch schmachten, die Pisaner verrathen habe, um sich für seine Herrschaftspläne freien Raum zu schaffen. Dem Volke gegenüber bestärkt jedoch diesen Verdacht der wegen seines Versöhnungseifers hochgeachtete greise Lombardo, indem er sein Wort in die Wagschaale legt, aus Zorn darüber, daß Ugolino nicht durch Abschluß des Friedens mit Genua die 5000 Bürger zu befreien sucht. Unterdessen wächst die Empörung mit dem Weitergreifen der Hungersnoth und endlich versucht es auch Ato, Ruggieris Sohn, der als Guelfos Blutsfreund im Hause des Grafen verkehrt, den starren Sinn des Letzteren zu mildern. Durch einige unvorsichtige Worte erregt er jedoch die Wuth Ugolinos und dieser stößt ihm den Dolch ins Herz. Damit hat der Graf nicht nur den Kampf mit Ruggieri zum tigerhaften Ringen verschärft, sondern auch den eigenen Sohn, den Freund des Ermordeten, aufs äußerste erbittert und ihn zur Flucht genöthigt. Der dritte Akt schließt nunmehr den Bau nach der Höhe hin ab, indem er den Zusammenstoß der beiden Unversöhnlichen, Ruggieris und Ugolinos, herbeiführt. Im Anfange des Aktes heuchelt der Erzbischof freilich Ergebung, aber gleich darauf läßt er seinem Leid und seinem Haß an der Bahre des Sohnes die Zügel schießen und in einer Rathsversammlung, die sich anschließt, tritt er endlich offen auf als das, was er ist. Ein genuesischer Unterhändler bietet Frieden an, die Versammlung erklärt sich stürmisch für denselben, Ruggieri erklärt, sein Vermögen für die Kriegsentschädigung und für das hungernde Volk opfern zu wollen, – Ugolino aber fühlt, daß der Friede ihn stürzen wird und alle seine Pläne vernichten. Er [56] hält daher dem ganzen Rathe gegenüber seinen Willen aufrecht und versucht, durch schnell herbeigerufene Söldner die Versammelten gefangen zu nehmen. Da springt der Erzbischof auf, schlägt sein geistliches Gewand zurück und steht in voller Waffenrüstung mit gezückter Waffe da. Das gibt seinem Anhang Muth, ebenfalls die Schwerter herauszureißen und da in diesem Augenblick das Volk in Massen herbeiströmt, wird Ugolino aus dem Saal gedrängt und Ruggieri zum Protektor ausgerufen.
Der vierte Akt versetzt uns zunächst mitten in den Bürgerkrieg, Ugolino vertheidigt sich mit seinen Söhnen Ugo, Gaddo und Anselmo aufs Tapferste, endlich aber wird er bezwungen und von Ruggieri mit seinen Kindern zum Hungertode verurtheilt. Seine treue Gattin Cornelia fleht den neuen Machthaber um Gnade an, dieser aber verlangt von ihr das Zeugniß, daß Ugolino den Verrath bei Meloria ausgab. Inzwischen sind nämlich in Folge des Friedens mit Genua die 5000 Gefangenen zurückgekehrt und in einer Versammlung erklären sie, daß der Graf jenes Verrathes nicht schuldig; auch der greise Lombardo gesteht, aus Groll den Verdacht bestärkt zu haben. Da jedoch auf diese Weise allmählich ein Umschwung in der Volksstimmung zu Gunsten des Grafen eintreten könnte, sucht Ruggieri den Verdacht aufrecht zu halten. Cornelia aber weigert sich, die Gnade durch Schändung des Gatten zu erkaufen. Die erste Scene des fünften Aktes spielt im Kerker, schon ermatten die Söhne, nur Ugolino hält sich noch aufrecht; da erdröhnen Hammerschläge, die Thüren des Kerkers werden zugemauert und den Eingeschlossenen ist alle Hoffnung abgeschnitten. Statt des Schlußverses dieser Scene dürfte ein Verzweiflungsausbruch Ugolinos in abgerissenen Worten richtiger und wirksamer sein. In der zweiten Scene liegt Cornelia verzweifelnd draußen bei dem Thurm, der ihre Lieben umschließt und aus dem es wie Seufzen und Stöhnen zu klingen scheint. Ruggieri wird von Gewissensängsten gequält, endlich befiehlt er, den Kerker aufzubrechen. Aber schon ist es zu spät; die Kinder sind bereits dem Hunger erlegen, nur der Graf wankt heraus. In diesem Augenblick wird die Stadt von dem entflohenen Sohne, Guelfo, den die Noth seiner Familie wieder mit dem Vater ausgesöhnt hat, erstürmt, Ruggieri [57] stirbt, auch Ugolino sinkt gebrochen hin und aus diesem Doppeltode erwächst Pisa der innere Frieden.
Das Drama vermag ohne Zweifel von der Bühne herab in erschütternder Weise zu wirken, nur müßten die Verwandlungen nach Möglichkeit beseitigt werden, was im vierten Akte sehr leicht wäre. Die Sprache könnte dann und wann noch concentrirter sein, besonders gegen Schluß des fünften Aktes, im Uebrigen jedoch ist die Tragödie ein Werk innigster Verbindung von Leidenschaft und Kunstverständniß. Der Conflikt ist ein großer und machtvoll zugespitzter, die Charaktere sind in tiefen, breiten Linien gezeichnet, der Aufbau ist tadellos, jeder Akt enthält eine Fülle ergreifender Momente und die Sprache ist mit Gluth gesättigt. Verse, wie sie der Monolog, den Ruggieri an der Bahre seines Sohnes liegend spricht, enthält, mögen ein Zeugniß für viele sein. Der Schluß dieses Monologes lautet:
. . . Hör', Gott,
Erhöre mich! In deinem Feuer schmiede
Mir diesen welken Leib zum ehrnen Schwert,
Zum doppelschneid'gen Werkzeug meiner Seele;
Daß sie, mit ihm bewehrt, all ihren Grimm
In Strömen Blutes lösche; und nicht eher
Nimm von der Erde dieses Schwert hinweg,
Bis unter ihm die Schlachtbank ächzt
Und seine Klinge, morsch vom Morden, bricht! –
Ja, Herr, ich fühl es, du erhörst mein Flehn;
Schon raff' ich mich empor, und Jugendstärke
Schwellt mir die Glieder; jeder Puls klopft Thatkraft;
Ans Werk, ans Werk!
Ganz anders liegt die Sache bei einem Drama wie Atlantis. Das Thema der Dichtung wäre vielleicht für eine epische Behandlung geeigneter gewesen, immerhin aber hat der Dichter den dramatischen Kern des Stoffes vollauf zur Geltung gebracht. Der Vorwurf des ebenso eigenthümlichen wie gewaltigen Werkes ist in kurzen Worten folgender. Ein deutscher Fürst, europamüde, hat jenseits des Oceans im westlichen Amerika Ländereien angekauft und führt dorthin im letzten Dezennium des vorigen Jahrhunderts eine Colonie, welche sich aus den verschiedensten Elementen, dem Volke wie dem [58] Stande nach, zusammensetzt. Ein Staat soll begründet werden, ganz auf Vernunft und gegenseitige Harmonie errichtet. Aber die edle Absicht scheitert bald an den Sünden jedes Einzelnen der Betheiligten. Der Fürst verliert sein besseres Selbst in einer Leidenschaft für die Frau seines hervorragendsten Genossen, bei den übrigen Theilnehmern des Unternehmens treten Neid, Hochmuth, Zwietracht, Trägheit und Feigheit immer offener hervor und Kriege mit den Indianern, ein Conflikt mit fanatischen Spaniern verhindern auch das äußere Gedeihen des jungen Staates. Ohne Zweifel, der Dichtung mangelt es nicht an Conflikten tiefster Art, aber für die heutige Bühne ist die Composition zu verwirrend vielseitig, die Gegensätze prallen nicht immer heftig genug aufeinander, der Dialog entbehrt der schlagenden Kürze, das Poetische überwiegt das Dramatische. Daher halte ich Atlantis für eine dramatische Dichtung bedeutsamster Art, lege jedoch den Nachdruck auf Dichtung, ein Bühnendrama aber bildet das Werk in der jetzigen Gestaltung nicht. Und dennoch glaube ich, daß Schack mit diesem Werke eine Bahn betreten hat, welche das deutsche Drama weiter zu verfolgen hat. Der Conflikt soll nicht mehr, wie es bisher im Allgemeinen der Fall war, auf den Leidenschaften beruhen, sondern auf dem Zusammenstoß der höchsten sittlichen und geistigen Ideen. Leider sind die jüngsten Dramen Schacks noch nicht in meinen Händen, ich kann daher ein Urtheil über seine dramatische Thätigkeit wie über ein Ganzes, Abgeschlossenes nicht fällen. Die Komödien Cankan und der Kaiserbote, von denen die letztere bereits 1850 entstanden ist, die erste nach dem deutsch-französischen Kriege, sind reich an dichterischen Schönheiten wie an satirischen Ausblicken, ihre Aufführung aber würde nur vor einem Parket des gewähltesten und historisch gebildetsten Publikums Erfolg versprechen. Die aristophaneische Komödie gilt mir nicht für ein Vorbild, dem unser politisches Lustspiel nacheifern dürfte, wenn es lebendige Wirkung erzielen will. Wie die moderne Tragödie durch individuelle Charakteristik und Reichthum der Handlung über die griechische hinausgewachsen ist, so muß auch das Lustspiel der Gegenwart eine spannende Handlung zum Mittelpunkte haben und das Typische nur ahnen lassen in individuell gezeichneten Charakteren. Unsere [59] Posse mit ihrer lebendigen Anschauung und Wiedergabe des Wirklichen zur Komödie zu erheben, die Tollheit zum Humor, das Spiel des Zufalls zur Idee, das scheint mir das Erstrebenswerthe zu sein.
* * *
Ich könnte nun schließen, denn ich meine dargelegt zu haben, daß eine solche Eigenart,
ein solcher Reichthum dichterischer Schöpfungen wie sie mit dem Namen Schack gestempelt
sind, eine ganz andere Aufmerksamkeit verdient, als sie Schack bisher vergönnt ward.
Aber ich halte es für dienlich, nachdem ich den Dichter hauptsächlich als Individuum
betrachtet, ihn nun auch als Glied der Kette, welche deutsche Literatur heißt, zu
erfassen. Gelingt es mir, ihm eine Stellung in der Literatur anzuweisen, welche
für die Entwicklung der letzteren nicht gleichgültig erscheint, so wäre das eine
Probe auf mein Exempel, es würde die Bedeutung rechtfertigen, welche ich dem Dichter
beilegte. Es liegt nahe und es ist deshalb auch geschehen, Schack dem Münchener
Poetenkreise beizuzählen, weil er mit Heyse, Geibel, Grosse, Verwandtschaft zeigt,
so weit die äußere Form seiner Dichtungen in Betracht kommt. Und doch, keine
Zusammenstellung trifft die Wahrheit weniger, als diese. Sie entspringt demselben
Streben nach Classifikation, welches unsre Literaturgeschichte überhaupt wie einen
Gemüsegarten behandelt, in dem jedes Beet sein bestimmtes Gewächs trägt, und nur
dieses. Aber unsre Literatur ist wie jede andre eine Schöpfung der Natur, nicht der
Kunst, ein Wald, nicht ein Park. Und wenn ich oben gesagt habe, wir wollen eine neue
Literatur, so wird kein Verständiger darin ein Verlangen nach künstlicher Züchtung
eines Neuen, Eigenartigen erblicken, sondern er wird das Wort nehmen, wie es genommen
werden will, als Ausdruck eines vielfach gährenden Gefühls, eines neuen Schöpfungsdranges.
Jene Sucht nach Classifizierung aber hat zu allerlei Irrungen und Wirrungen geführt,
welche manchen Dichter muthlos gestimmt und beim Publikum Zweifel und Zurückhaltung
erzeugt haben. Eine jener Irrungen heißt Blüthezeit. Ich am wenigsten verkenne, daß
gewissen Epochen der Kunst- und Weltgeschichte der Name einer klassischen oder einer
Blüthezeit gebührt,
[60] aber so richtig, so schön dieser Ausdruck ist, so verderblich kann seine Anwendung
werden. Die deutsche Literatur hat bekanntlich nach der Ansicht unsrer Historiker bislang
zweimal in Blüthe gestanden, einmal zur Zeit des 12. und 13. Jahrhunderts, das andere
Mal zur Zeit des 18. und zu Anfang des 19. Säkulums. Zwischen beiden Blüthenperioden
liegen also sechs Jahrhunderte. Ah! sagt sich der Historiker, das ist offenbar der
Zwischenraum, welchen die deutsche Dichtung braucht, um zwischen zwei Höhepunkten zu
verfallen. Und wirklich, diesem Schema zu Liebe, das nicht mehr und nicht weniger als
einmalige Erfahrung für sich hat, behauptet einer der geistreichsten unsrer Gelehrten,
Wilhelm Scherer, es müsse auch das 6. Jahrhundert eine literarische Lichtzeit gebildet
haben. Da uns aber leider nichts von Dichtern und Dichtungen dieser Aera bekannt ist,
so werden die ersten Keimbildungen unsrer epischen Lieder dahin verlegt. Diesem
Rückwärts-Prophezeihen sollte dann aber auch das Vorwärtsdeuteln entsprechen.
Jenes Schema gibt Jedem das Recht, dem 24. Säkulum gleichfalls ein Blüthealter zu
weissagen, vorausgesetzt, daß Gott nichts dazwischenlegt. Für die Leser des 24.
Jahrhunderts übrigens, welche den Waffengängen ihre Aufmerksamkeit vergönnen sollten,
bemerke ich, daß ich ihrer herrlichen Epoche ebenso wie einen Schienenweg zum Sirius
so auch einen Verein großer Dichter von Herzen wünsche, in der Hoffnung jedoch, daß
ihnen auch einige Poeten vom Ende des 19. lieb und werth geblieben sind. Aber selbst
in dem Falle, daß jenes Schema Recht hat, ist es doch ganz unhistorisch, dasselbe
auf die Gegenwart und die jüngste Vergangenheit anzuwenden. Eine Epoche, in welcher
Genien wie Goethe, Schiller, Lessing, Herder, Klopstock fast zu gleicher Zeit
wirkten und schafften, als Blüthezeit zu bezeichnen, ist das gute Recht des
Geschichtsschreibers, aber ebenso unrecht ist es, eine Periode, welcher der Historiker
selbst angehört, für eine Zeit des zunehmenden Verfalles zu erklären. Es ist sein gutes
Recht, den vergangenen Dezennien gegenüber nachzuweisen, daß sie von Epigonen beherrscht
gewesen, obwol er dabei der mangelnden Perspektive wegen mehr als Kritiker, denn als
Historiker vorgeht, aber er thut unrecht, wenn er die Gegenwart in seine Rechnung mit
hineinzieht, da er hier einzig
[61] die Oberfläche, das Gewordene, aber nicht in die Tiefe, in das Werdende sieht.
Die Gegenwart in ihrer Gesammtheit beurtheilen, heißt in die Zukunft schauen, das
Zukünftige ahnen, und das vermag wohl der Reformator, aber nicht der Geschichtsschreiber.
Wer darf sagen, daß die mit den 50er Jahren des vorigen Säkulums begonnene Literatur-Aera
bereits ihr Ende erreicht hat? Niemand! Dann aber darf auch Niemand einen immer wachsenden
Verfall weissagen, die verflossenen Jahrzehnte können ein Intervall der Blüthezeit, eine
Senkung gebildet haben und eine neue Hebung, ein neues Aufblühen wäre nicht unmöglich.
Die goldne Zeit des Mittelalters, die klassischen Perioden der Griechen, Spanier,
Italiener zeigen durchaus nicht die einfache Folge von Anstieg, Höhe, Abstieg, sondern
ziehen sich als eine Reihe von Bergen und Thälern hin und die persische Blüthezeit
dauert sogar durch vier Jahrhunderte von Firdusi bis Dschami, immer wieder unterbrochen
durch Tage geistiger Verflachung. Ich halte es nicht für müssig, statt mich des 24.
Jahrhunderts zu getrösten, schon auf die nächste Zukunft Hoffnungen zu setzen und
ich meine, diese Hoffnungen seien mehr als Träumereien. Lebt denn wirklich in uns
das Gefühl, daß bereits alles erfüllt sei, was die Aera Lessing-Goethe uns verheißen?
Haben wir ein Theater, eine dramatische Literatur, die unsrem Verlangen voll Genüge
leistet, haben uns unsre großen Dichter ein Epos beschert, das wir den Epen andrer
Völker entgegenstellen können, besitzen wir einen Roman, der in jeder Hinsicht den
großen Romanen der Engländer und Spanier ebenbürtig ist? Nein und abermals nein! Der
Bau, den unsre Heroen aufgeführt, ist noch nicht vollendet, unsre Sache ist es, ihn
auszubauen. Zwischen uns und ihnen liegt eine Epoche des politischen Gährens, Sehnens
und Ringens, welche alle Geister, welche das Volk derart in Anspruch genommen hat,
daß die Dichtung in den Hintergrund trat oder dienstbar wurde. Diese Epoche hat ihren
Markstein gefunden, schon befriedigt das Politische die Gemüther nicht mehr und darum
eben bildet das Jahr 1870 für uns einen Wendepunkt, um seiner Folgen, nicht um seiner
Erfolge willen. Zwischen uns und Goethe liegt aber auch eine Zeit der Entdeckungen
und Erfindungen, grundlegender Neubildungen auf ethischem und socialem Gebiete,
welt[62]umgestaltender Erkenntnisse. Und noch mehr! Ein neues dichterisches Blütheleben
wird bereits mitten unter uns erkennbar und in unsren Theatern legt das Publikum
redendes Zeugniß dafür ab, daß es wiederum das Gewaltige zu empfinden, an das Ideale
zu glauben beginnt.
Eine andre jener Irrungen, von denen ich sprach, ist der Mißbrauch
*),
der mit den
Worten klassisch und romantisch getrieben wird. Die beiden Schlegel haben freilich
das Wort romantisch für ihre Richtung selbst in Aufnahme gebracht, aber dennoch
haben weder sie noch irgend ein Andrer einen klaren Begriff damit verbunden. Neuerdings
hat ein Franzose, Emile Deschanel, in seinem Buche "Le romantisme des Classiques"
(Paris 1883) eine Erklärung in folgender Weise versucht: Un romantique est un classique
en chemin de parvenir et un classique n'est rien de plus qu'un romantique arrivé.
Ceux qui nous admirons le plus aujourd'hui furent d'abord chacun en son genre des
révolutionnaires littéraires. Et ceux qui n'ont pas fait révolution en leur temps
n'ont pas surveçu, parce qu'ils n'avaient ni assez de relief ni assez de ressort.
Mit andren Worten heißt das, ein Genie ist Romantiker, wenn es jung ist, Klassiker
wird es, wenn es den Sieg errungen hat und als Gegensatz in der Literatur bleibt
nur Genie und Nachahmer oder Mittelmäßigkeit übrig. Für Stuart Mill ist jedes Werk
klassisch, dessen Stoff voll und ganz in der Form aufgegangen ist, romantisch wäre
also das Gegentheil. Dadurch kommen wir zu demselben Schlusse, wie bei Deschanel,
es gibt nur Genie und Talent, oder ist es etwas anderes als ein Mangel, wenn Form
und Inhalt sich nicht decken! Eine sehr beträchtliche Zahl von Aesthetikern hält
schließlich alle Neueren für Romantiker und nur die Alten für Klassiker, weil
diese "absichtslos geschaffen und harmonischer empfunden". Die letztere Bestimmung
ist ziemlich nichtssagend, denn ich meine, der Dichter des Gefesselten Prometheus hat
wildere Stürme in seiner Seele durchkämpft, als der Dichter des Standhaften Prinzen
und ebenso dürfte die Absichtslosigkeit, mit welcher Sophokles für die dionysischen
Festtage dichtete oder Horaz um
[63] die Gunst des Augustus warb, unsrer Ruhmbegierde die Wage halten. Mit den
Begriffen klassisch und romantisch ist demnach wenig anzufangen. Und dennoch gibt
es in der deutschen Literatur einen Gegensatz, welcher zur Aufstellung solcher
Kategorien verführen konnte. Das ist der Gegensatz von nationalem Stil und Eklektizismus.
Klopstock, Lessing, Herder, Goethe, Schiller, sie alle haben es versucht, jeder in seiner
Weise, zu einem nationalen Stil zu gelangen, indem sie ihren Geist in das Leben und
Streben ihres Volkes vertieften und dann ihren Genius frei walten ließen. Aber keiner
hat den Versuch rein durchgeführt, immer wieder ließen sie sich von fremden Einflüssen
bestimmen. Da kamen denn die Romantiker und glaubten das Richtige zu treffen, wenn sie
die Sache möglichst tief und breit nähmen, wenn sie nicht aus ihrer Zeit heraus dichteten,
sondern zunächst die Zeit reformirten und eine nationale Poesie aus der Weltpoesie
herauswachsen ließen. Sie trafen auch das Richtige insofern, als ihre Art ein nothwendiges
Durchgangsstadium war, aber ihr Eklektizismus, der von allen Literaturen des Ostens und
des Westens nippte, der Goethe übergoethete und Calderon überhimmelte, wirkte leider
nicht nur geistig anregend, er machte auch aus unsrer Dichtung ein Treibhaus, in dem es
nur noch überreizten Nerven wohl war. Und begünstigt durch die politischen Verhältnisse
hat dann bis auf den heutigen Tag der Kampf – ein unbewußter Kampf – zwischen den
Eklektikern und allen Denen, welche eine nationale, moderne Literatur anstreben, nicht
aufgehört. Damit bin ich zurückgekehrt an meinen Ausgangspunkt. Die große Menge nämlich
unsrer heutigen Dichter und Dilettanten (letztere bilden 95%, werden aber natürlich
in der Presse unentwegt mit Lorber überschüttet) bildet wirklich nichts als ein Epigonenthum der
Romantiker und ihrer Geistesverwandten. Wenn schon Heine, Rückert, Eichendorff nur wenige
Töne fanden, welche nicht bei Goethe oder in der Volkslyrik vorgeklungen, wie abgeblaßt
ist erst die Nachempfindung und Nachahmung bei den heutigen Epigonen. Bald dieser, bald
jener Dichter der Vergangenheit lebt heute wieder auf in den Liedern von Hans und Kunz,
und die Dramen wie die Romane sind fast alle nach der Schablone eines mehr oder minder
großen Collegen zugeschnitten. Aber der
[64] Eklektizismus hat auch seine Talente, und zu den bedeutendsten gehören Dichter wie
Geibel, Heyse und Ihresgleichen. Sie schaffen viel des Schönen und viel des Ergreifenden,
aber die Literatur geht mit ihnen nur ins Breite, sie wächst nicht, sie setzt keine neuen
Ringe, keine neuen Aeste an. Die Gedichte Geibels bei Wilhelm Müller zu finden, würde
niemanden wundern und Heyses Novellen bei Tieck würde wenig Kopfschütteln erregen. Diese
Eklektiker aber haben 50 Jahre die Gunst des Publikums genossen, eben weil sie keine
Reformatoren waren, diejenigen jedoch, welche wie Kleist an das Ideal des vorigen
Jahrhunderts wiederum anzuknüpfen suchten und einen nationalen Stil erstrebten, sind
an der Ungunst der Zeit zu Grunde gegangen. Und deshalb haben wir noch immer keine
dramatische Literatur, wie sie unser Sehnen, wie sie unsrer würdig ist, noch immer
keinen Roman, der unser ganzes modernes Sein und Denken spiegelt, und unsre Lyrik
geht immer noch auf Krücken. Das ist die Bewegung, der Kampf in der Literatur der
Gegenwart und in diesem Kampfe hat auch Schack seinen Platz, aber nicht neben Geibel,
sondern ihm gegenüber. Es ist in den Dichtungen Schacks ein Ringen wahrzunehmen, das
jenem Kampfe selbst analog erscheint, bewußt oder unbewußt schwankt er zwischen Formalismus
und Ideengestaltung. Aber seine großen Epen, Dramen und Hymnen zeigen, daß das Ideal des
modernen und nationalen Dichters in ihm den Sieg behalten, daß er jenes Ziel vor Augen
hat, welches Georg Brandes als das Ziel der neueren Dichtung bezeichnet. Wahrheit durch
realistischen Gehalt, Sittlichkeit durch Erfassung der reinsten, höchsten Ideen,
Schönheit durch kraftgesättigte Form, – das sind die drei Attribute, welche der moderne
Dichter aufzuweisen hat. Er soll nicht nur Künstler, auch ein Prophet, ein Führer muß
er uns sein. Dem Geburtsjahre nach reicht Schack fast in die erste herrliche Triebzeit
unsrer neuen Literatur hinein, seinen Dichtungen aber nach zählt er mit einer wachsenden
Zahl jüngerer Dichter und Kritiker zu den Bahnbrechern einer Poesie, welche in den Tiefen
unsrer Zeit und unsres Volkes wurzelt, und deshalb sei ihm dieser Waffengang gewidmet
als einem Mittler zwischen dem Einst und dem Jetzt.
[Fußnote, S. 62]
*) Die weitere Ausführung des hier Angedeuteten wird das 8. Heft der Waffengänge versuchen.
zurück
Erstdruck und Druckvorlage
Kritische Waffengänge.
Heft 5, 1883, S. 3-64.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Kritische Waffengänge online
URL: https://archive.org/details/kritischewaffen00spiegoog
URL: https://archive.org/details/kritischewaffen00hartgoog
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001782514
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/009956398 [Reprint 1969]
URL: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/101695/1/ [2. 1882]
Zeitschriften-Repertorien
Kommentierte Ausgabe
Die besprochenen Gedichtbände
Inhaltsverzeichnis: Kritische Waffengänge
Genauere Daten zur Druckgeschichte der einzelnen Hefte
gibt Tillmann 1923, S. 91-92.
Literatur: Heinrich und Julius Hart
Baumann, Christiane: Brückenschlag und Finale:
Die Programm-Anthologie Moderne Dichter-Charaktere
im Kontext der frühnaturalistischen Formationsphase der 1870er Jahre.
In: Studia niemcoznawcze 56 (2015), S. 261-294.
Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik.
In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
Hrsg. von Dieter Lamping.
2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.
Bunzel, Wolfgang: Provinz und Metropole.
Koordinaten auktorialer Selbstverortung bei Heinrich und Julius Hart.
In: Literatur in Westfalen. Beiträge zur Forschung 9.
Hrsg. von Walter Gödden. Bielefeld 2008, S. 99-112.
Bunzel, Wolfgang: Einführung in die Literatur des Naturalismus.
2. Aufl. Darmstadt 2011 (= Einführungen Germanistik).
Burdorf, Dieter: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte.
Stuttgart u.a. 2001.
S. 360-365: Naturalismus als Kunst der 'neuen Form': Heinrich Hart und Julius Hart.
Häntzschel, Günter: Die deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 bis 1914.
Sozialgeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts.
Wiesbaden 1997 (= Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München, 58).
Hart passim (Register)
Hellge, Manfred: Der Verleger Wilhelm Friedrich und das "Magazin für die Literatur des In- und Auslandes".
Ein Beitrag zur Literatur- und Verlagsgeschichte des frühen Naturalismus in Deutschland.
In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 16 (1976), Sp. 791-1216.
Hart passim (Register).
Henske, Werner: Das Feuilleton der "Täglichen Rundschau"
(betrachtet im Zeitabschnitt 1881-1905).
Bleicherode am Harz 1940.
Kap. B.III: Das literarische Feuilleton im Zeichen der Gebrüder Hart
Köster, Udo: Die ideale Deutung der Reichsgründung und ihr Funktionswandel im Kaiserreich.
In: Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur.
Hrsg. von Klaus Amann u.a.
Wien u.a. 1996 (= Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur, 36), S. 49-62.
Kuhk, Angela: Die Anthologisten Heinrich und Julius Hart.
Vermittler französischer Lyrik? In:
Weltliteratur in deutschen Versanthologien des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Helga Eßmann u.a.
Berlin 1996 (= Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung, 11),
S. 508-520.
Schneider, Lothar L.: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik.
Über die Situierung der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne.
Tübingen 2005 (= Studien zur deutschen Literatur, 178).
Stöckmann, Ingo: Der Wille zum Willen.
Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880 – 1900.
Berlin u.a. 2009 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 52).
Stöckmann, Ingo: Naturalismus.
Stuttgart u.a. 2011 (= Lehrbuch Germanistik).
Sudhoff, Dieter: Die literarische Moderne und Westfalen.
Besichtigung einer vernachlässigten Kulturlandschaft.
Bielefeld 2002
(= Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, 3).
Völker, Ludwig: "Alle Erneuerung geht von irgendeiner 'Prosa' aus". Die lyrische Moderne und
der Naturalismus. In: Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch.
Hrsg. von Robert Leroy u.a. Bern u.a. 1991, S. 203-235.
Literatur: Kritische Waffengänge
Baumann, Christiane: Die "Vorkämpfer" des deutschen Naturalismus –
frühe Netzwerke und Zeitschriften Ende der 1870er Jahre.
In: Studia niemcoznawcze 52 (2013), S. 215-239.
Boulby, Mark: Einleitung.
In: Kritische Waffengänge. Reprint.
New York u.a. 1969, S. III-LI.
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/009956398
Magerski, Christine: Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871.
Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie. Tübingen 2004
(= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 101).
Kap. II.1.1.: Die Kritischen Waffengänge der Brüder Hart.
Rosenstein, Doris: Zur Literaturkritik in deutschsprachigen Zeitschriften zwischen 1870/71 und 1881/82.
In: Deutschsprachige Literaturkritik 1870 – 1914. Eine Dokumentation.
Hrsg. von Helmut Kreuzer.
T. 1: 1870 – 1889. Frankfurt a.M. 2006, S. 5-26.
Schneider, Lothar L.: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik.
Über die Situierung der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne.
Tübingen 2005 (= Studien zur deutschen Literatur, 178).
Kap. 4.1: Der Kritikbegriff der Brüder Hart.
Tateo, Giovanni: "Aber wir wollten nicht nur schaffen, wir wollten auch wirken".
Die Zeitschriften der Brüder Hart: Mediale Präsentationen für die literarische Öffenlichkeit.
In: "Das Publikum wird immer besser". Literarische Adressatenfunktionen vom Realismus bis zur Avantgarde.
Hrsg. von Lorella Bosco u. Giulia A. Disanto.
Wien u.a. 2020, S. 15-46.
Tillmann, Curt: Die Zeitschriften der Gebrüder Hart.
Diss. (masch.) München 1923.
Vf. verarbeitet Mitteilungen von Julius Hart;
sorgfältige Beschreibung der Zeitschriften und Referate der Inhalte.
Voswinkel, Gerd: Der literarische Naturalismus in Deutschland.
Eine Betrachtung der theoretischen Auseinandersetzungen
unter besonderer Berücksichtigung der zeitgenössischen Zeitschriften.
Diss. Berlin 1970.
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer