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Editionsbericht
Literatur: Hammann
Literatur: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft
Es ist öfter über die Beantwortung der Frage gestritten worden, was wohl
einem lyrischen Gedicht wesentlicher sei, der Gedanke oder die Stimmung.
Es wäre ein Unsinn, zu sagen, ein Gedicht müsse gedankenlos sein; nur muß
der Gedanke nicht grübelnder Ueberlegung, sondern einem gewissen Gefühl
seine Entstehung verdanken, sei es, daß dieses sich direct oder in der
Art und Weise äußert, wie Erlebtes oder Geschehenes wiedergegeben wird.
So müssen beim Dichter Gefühl und Gedanke (oder Angeschautes) ebenso wie
beim Landschaftsmaler Empfindung und Natur in inniger Wechselwirkung stehen,
wenn das erzeugt werden soll, was wir Stimmung nennen. Denn diese ist
nichts Anderes, als das dem Kunstwerk eigene Grundgefühl, welches offen
oder verborgen darin lebt und die Eindrücke des Traumhaften,
Geheimnisvollen, Wilderregten, Traurig-wehmüthigen, Sonnig-heiteren oder
Sehnsüchtigen ausdrückt und zwar so ausdrückt vermittels der erst den
Dichter ausmachenden Kraft, daß die gleichen Eindrücke hinwiederum im
Zuschauer oder Hörer hervorgerufen werden. Mit der Empfindung allein
ists nicht gethan, denn sonst würden Gefühlsmenschen zugleich auch
Künstler sein; bloßer geistiger Scharfsinn kann auch keine poetischen
Schätze heben, weil sonst gereimte geistreiche Prosa so viel wie Poesie
und nicht einzusehen wäre, warum der just beflügelte Pegasus nicht jeden
Reiter tragen mag. Der dichterische Gedanke will auf besondere Weise
empfunden oder angeschaut werden; erglühen muß er im Feuer der Seele,
oder in plastischer Schöne, wie Athene dem Haupte des Zeus, dem Haupte
des Dichters entspringen. Alle Kunst ist sinnlich.
Die Idee herrscht am wenigsten im eigentlichen Lied, in welchem die Naturlaute, der künstlerische Trieb und Instinkt mächtiger wirken als künstlerisches Bewußtsein. Wie wenig Lieder aber hat die jüngste Zeit geboren! Mag sein, ihr geht jene Periode der Ueberschwenglichkeit vorauf, an deren Stelle nun des Extremes halber mehr Nüchternheit und Ironie getreten ist; schlenderte doch auch schon spitzig und keck die geistreich höhnische Maske unter den gefühlstrunkenen, "zerrissenen" Liedern Heine's einher, nur daß es seine directen Nachahmer nicht bemerken wollten. Das Lied wie die Romantik der Poesie ist unter der üppig wuchernden politischen, socialen und philosophischen Speculation als Dornröschen sanft entschlafen. Die frühere deutsche politische Weisheit half der Lyrik zu manchem trefflichen Gedicht (Herwegh), weil es eigentlich mehr Begeisterung wie Weisheit war und das ganze politische Bewußtsein in dem feurigen Drange nach der Freiheit, wie sie sie meinten, beschränkt blieb. Nun ist das Volk inzwischen selbst politisch geworden, in dem Lärm des Parteilebens verlernte es die alten Naturlaute; wo ist das "Singen und Sagen" geblieben?
Und die anderen Gedichte, die noch "auf dem Markt erscheinen"? Tendenz: Viel und mittelmäßig! Es scheint eben jener naive Ton verloren ge[970]gangen zu sein, der frisch und unbedacht aus der Seele quillt, jenes Sichselbstgeben, das um so mehr entzückt, je weniger zweckbewußt oder aufdringlich es sich giebt. Weil man mehr denkt, reflectirt, als empfindet, bleiben allenthalben die großen Leidenschaften aus; jeder Gedanke einer müßigen Stunde wird in Poesie gesetzt, wenn nur eine geistreiche Schlußwendung zeigt, daß der Spiritus noch nicht zum Teufel gegangen ist. Wo bleiben aber jene charakteristischen Züge, die einen Eichendorff von Heine, Lenau von Uhland und später Herwegh von Freiligrath, Lingg von Bodenstedt so deutlich unterscheiden? Weil der echte Lyriker im letzten Grunde sein eigenes Ich zum Gegenstande hat, muß seine Individualität schon eine bedeutende sein, wenn er uns in seinen Werken dauernd fesseln soll. Der ganz moderne Lyriker hat so zu sagen keine eigene Nase; am weitesten hat er es entschieden in der äußeren Mache, der Formbehandlung gebracht, versteht er es auch weniger, die Töne tiefster Herzensempfindung anzuschlagen oder seine Gedanken mit jener formalen Schönheit zu beleben, welche als Ausfluß plastischer Anschauungs- und Gestaltungskraft, d. h. von Phantasie, dem Leser in Situationen und Dingen mit sinnlicher Pracht und zwingender Gewalt vor die Seele gezaubert wird.
Wenn hier von modernen Lyrikern die Rede ist, so ist dabei an die Meister der fünfziger Jahre, also namentlich an die Münchener Colonie der Krokodile nicht gedacht; ihr Bestes besitzen wir bereits seit zwanzig Jahren. Ja, wenn man doch von den Späteren sagen könnte, daß die Jungen zwitschern, wie die Alten sangen. Da hat sich in den sechziger Jahren aber nur Robert Hamerling (in Sinnen und Minnen) und Ed. Griesebach (der neue Tanhäuser) als Poet der Sinnlichkeit besonders durch eine gewisse Eigenartigkeit hervorgethan.
Durchblättert man eines der neuesten Dichterbücher oder einen Jahrgang der deutschen Dichterhalle, so wird man gewöhnlich dem Guten einen Namen der bewährten Alten beigedruckt finden, während sonst sichtlich das Bestreben hervortritt, vor Allem geistreich zu sein um jeden Preis und die Dinge der Außenwelt, weit entfernt, sie in der subjectiven Empfindung des Dichters wiederzuspiegeln, vielmehr mit geistiger Schärfe zu zersetzen und in dem Medium pikanter Beziehungen aufzulösen. So haben wir neben den Machwerken der bloßen Reimschmiede, deren Zahl zu allen Zeiten groß war, im besten Falle eine Poesie witziger Pointen, welche durch ihre glänzende Aufdringlichkeit leichtlich die natürliche, echte Lyrik überwuchert und in den Schatten stellt. Die Gedichte unserer großen Lyriker, namentlich Goethe's, sind ja meist so schlicht, selbstverständlich und einfach, daß sie Jeder nachmachen zu können glaubt und doch nicht einmal annähernd nachzuahmen versteht, weil gerade diese Einfachheit mehr dichterischen Naturtrieb und Reinheit der Empfindung wie geistreiche Reflexion und klügelnde Ueberlegung zur Voraussetzung hat.
Neuerdings sind mit ihren Versuchen, sich der Einfachheit des Volksliedes
zu nähern und einen naiven, frischen Ton anzuschlagen, zwei Dichter
besonders glücklich gewesen: Rud. Baumbach und Julius Wolff; der eine
keck, launig, leichtsinnig; inniger, rührender, romantischer der andere
in seinem Rattenfänger von Hameln. Aber hinter diesen lustigen,
lebensfrohen Brüdern mit dem Wanderstab in der Hand und der Maien- und
Liebeslust im Herzen, drängt sich eine Schaar düsterer Gesellen mit
kranken Gesichtern, die Erkenntnißreichen, die Liebes Leid und Lust
und des Herzens Freudigkeit in das
allge[971]meine Menschenweh versenkt haben. – Es giebt vielleicht nur
einen Poeten, bei welchem die Philosophie einer pessimistischen
Weltanschauung sich mit einem wahrhaft tiefen Schmerzgefühl verbunden
hat, so daß in einzelnen seiner Gedichte die Klage und Wehmuth über
die Nichtigkeit und Last des Daseins wahrhaft und großartig empfunden
durch die philosophische Abstraction hindurchbricht: das ist Hieronymus
Lorm. Ihm ist vielleicht wie keinem der Neueren die geistreiche Verklärung
des Weltschmerzes gelungen, weil ihm der Pessimismus eine heilige
Ueberzeugung, keine künstlich angenommene Sache der Mode ist. Und der
Pessimismus ist bei den Besseren außerordentlich in die Mode gekommen;
wir wollen aber nicht die Individualität des Lyrikers mit conventionellen
Fetzen behängt sehen; wie sie ist von Natur, wie sie sich spiegelt in den
Ereignissen, soll und wird er sie uns zeigen, wenn er ein wahrer Lyriker
ist. Was man sich andenkt oder anempfindet, kann sich nicht zu einer
wahrhaften Stimmung, die sich rein und natürlich mittheilt verdichten;
die Stimmung des Weltschmerzes aber will angeboren oder anerlebt sein,
oder ist es wirklich ein so großer Widerspruch, wenn ich sage, daß
Einer, obschon er durch philosophische Ueberlegung zu einer pessimistischen
Weltanschauung gelangt ist, doch von Grund des Herzens durch Anlage und
Temperament ein feuriger Sänger von Wein, Weib und Gesang, ein Sänger
der Schmerzvergessenheit sein kann? Freude und Schmerz sind die beiden
Pole der lyrischen Empfindungen. Es ist nun wirklich unerquicklich,
wenn so ein gemachter Pessimist in jedem frischwangigen, vollbusigen,
glutäugigen Mädchen, welches ihm entgegenkommt, schon das alte Weib sieht,
welches an der Marktecke Aepfel und Birnen feilbietet. Die Freude wurzelt
in der Naivetät, und sollte das nicht der Grund sein, warum die blasirte,
zersetzende Zeitrichtung sich leichter den Pessimismus ankränkeln läßt?
Auch der Schmerz über die Untreue des Buhlen, das verschwundene
Ahnenschloß des Verbannten, über dessen Boden der Pflug nun hingeht,
ist naiver Natur, jener, welcher sich aus der Betrachtung der Jämmerlichkeit
und Vergänglichkeit der Dinge ergiebt und sich zum Schmerz über das All
erweitert, ist es sicher dann nicht, wenn er sich als Consequenz eines
philosophischen Systems darstellt und also beweisen will, statt im
Gefühle der Unendlichkeit zu schwelgen und sich an den Wunden, welche
das Ideal sich an der Wirklichkeit stößt, frisch zu erhalten.
Auch die Stimmung des Weltschmerzes, für die der doctrinäre pessimistische Gedanke nicht genügt, muß sich nachempfinden lassen; das ist aber unmöglich, wenn sie verworren, willkürlich oder aus einer abgeschmackten Laune im Gemüthe des Dichters selbst entsprang. Der Schmerz über das innere Ungenügen wird aber nicht deshalb, weil er sich zum allgemeinen Schmerz über die jedem Dinge innewohnende Unzulänglichkeit erweitert, nothwendig von Allen nachempfunden; gewiß vollkommen nur von allen Denen, in deren Innerem das Bewußtsein über die Unzulänglichkeit die lebensvolle Genußfreudigkeit verdrängt hat, d. h. von den Pessimisten.
Der Genießende eines lyrischen Gedichtes darf durchaus nicht in die Lage
kommen, sich mit dem Dichter in Streit zu setzen, die Berechtigung seines
Schmerzes zu prüfen oder vielleicht gar die Gründe hierzu von der Hand
zu weisen: die Mitempfindung ist eben lediglich die Voraussetzung des
lyrischen Genusses. Die aus sinnender Naturbetrachtung hervorgehende
sogenannte contemplative Lyrik läuft immer Gefahr, sich zuerst durch
einen sinnreichen Schluß, den Gedanken, dem das Gefühl angehängt ist,
an unsern
[972] Geist statt an unser Herz zu wenden – und so kann es leicht kommen,
daß unsere andere Anschauung das Herz gar nicht in Thätigkeit kommen läßt.
Auch wird man einem Gedicht, dem ein geistreicher und sei es auch
poetischer Gedanke zu Grunde liegt, sogleich die Gründe, warum es gefällt,
nachweisen können; anders bei einem einfachen Volkslied, bei einem reinen
Gefühlsgedicht, wie z. B. das Goethe'sche: "An den Mond"; da weiß uns
der Dichter eine Stimmung aufzuzwingen und wir kommen zunächst durch die
Gefühlserregung gar nicht dazu, die Gründe zu ermessen.
Jüngst hat Alexis Aar (Pseudonym) einen Band Gedichte unter dem
Titel "Irrlichter" (bei Richard Eckstein in Leipzig) herausgegeben.
Er besitzt unzweifelhaft ein ansehnliches Talent. Die erste Abtheilung
"Lebenswanderung" kennzeichnet ihn als pessimistischen Dichter, doch
ohne ausgesprochene Besonderheit. Eine leise Todessehnsucht, gemischt
mit Furcht, ein leises Klagen durchzieht die Gedichte; dieser gelinde
Schmerz muß aber dem gesunden Leser krankhaft vorkommen. "Geh,
lieber Freund", ist er versucht zu sagen, "raffe Dich auf, hast Du weiter
keine Veranlassung, als daß Dir die Weisen gesagt haben, das Leben sei
ein unseliges Göttergeschenk? Warum muß es das für Dich auch
sein? Was denkst Du stets an das grauenumfinsterte Räthsel des
Todes, daran, daß Du bald still im tiefen Grund schlummern wirst?
Du hast ein Liebchen gehabt, hast es verlassen und nur das war Dein Grund:
"Das ist des Schicksals ewiges Walten,
Ein volles Glück vergönnt es nie,
Doch eh' die Herzen uns erkalten,
Ist's besser, daß ich weiter zieh?".
Ist das nicht Kopfhängerei? Sagst Du doch bei besserer Laune selbst:
"Steh' nicht so sinnend in Dich gekehrt
Als wie ein indischer Büßer:
Das Leben ist der Grübelns nicht werth
Und Lachen ist soviel süßer!"
Das Gedicht, welches gewissermaßen den Conflict von Leben und Tod behandelt und so beginnt:
"Ach, wie sie sich freuen im Lichterglanz!
Komm, misch' Dich hinein in den fröhlichen Tanz,
laß schweifen die Augen, erhebe das Haupt,
Auch Dir ist ein rasches Tänzchen erlaubt –
Der Tod steht draußen und wartet."
könnte bei einer besonderen Veranlassung in einer Ballade von mächtiger Wirkung sein; die Empfindung aber, die den Tod so fortwährend antichambriren läßt, kann in ihrer pessimistischen Allgemeinheit nicht sogleich und ganz rein nachempfunden werden *). Auch wenn der Mond sich zeigt mit Silberschein, muß er an den Tod denken, obwohl er kein Liebchen verloren hat, sein Freund ihn verrieth, kein Leiden ihn quält, rein aus schwarzer, principieller Trübseligkeit. Die Stimmung, welche das Gedicht wecken soll, muß der Leser bereits haben, wenn er genießen will, weil es der Dichter unterläßt, eine besondere Situation uns zu schildern. Wenn er uns aber in die Alpen, auf den Gipfel eines Berges führt – die bläulichen Schimmer der weichenden Nacht zerreißen, die Sonne geht auf – und nun ausruft:
[973] "Aus leuchtendem Schnee
Hochragender Firnen,
Aus grünen Thälern
Und blauen Seen
Lacht triumphirend
Wie eine Buhle,
Die immer treulos
Doch immer den Zorn
Des Geliebten besiegt,
Das schimmernde Leben mir entgegen,
Das süße, unselige
Göttergeschenk."
– da können wir ihm schon leichter empfindend folgen; wir stehen mit ihm einsam auf des Berges Höh' und nehmen mit ihm das unselige, aber doch auch süße Göttergeschenk hin. In schönen Stanzen weiß sich der Dichter sogar zu einer wunschfrohen Stimmung aufzuschwingen; die Gedanken, welche das selige Glück der Liebe zu verscheuchen drohen, werden von dem Wunsch, die Geliebte zu besitzen, besiegt. Das ist natürlich. Sehr schön sind die pessimistischen Anschauungen, die einem Chaldäer in den Mund gelegt sind, den ein Blick in die Unendlichkeit geblendet hat und der sich deshalb abwendet von dem lustigen Treiben in Babylon:
"Kein Fürchten mehr und auch kein Sehnen
Verwirrt des Denkers ernste Bahn,
Denn Beides – Jubelruf und Thränen,
Hab' ich für ewig abgethan."
Wie hier, so sind in den meisten Gedichten aus "Geschichte und Sage" besonders Stoffe gewählt, die eine pessimistische Weltanschauung verkörpern. Besonders gelungen ist das Sirenenlied und der König Kandaules. – Alles in Allem: es ist nicht die gewöhnliche Reimerei, Aar ist ein echtes, poetisches Talent, wie schon die Proben gezeigt haben, aber den Liedern fehlt die frische Gesundheit, das Gefühl des Dichters ist weniger leidenschaftlich, als nachdenklich. Dadurch ist er vorbildlich für eine Reihe Anderer, die bei geringerem Talent sich den Pessimismus nur angedacht haben.
Im directen Gegensatz zu Aar steht ein anderer Sänger des Schmerzes: Max
Kalbeck, der einen Band neuer Gedidite unter dem Titel: "Nächte"
(Hirschberg, Bote a. d. Riesengebirge) herausgegeben hat. Sein Schmerz ist
nicht der allgemeine, aus der Reflexion über die Richtigkeit der Dinge
hervorgehende, sondern der besondere eines Liebenden, dem Zwang und
Pflicht die Erreichung seiner Wünsche unmöglich machen. In Bezug auf
Formvollendung wird Kalbeck schwerlich von einem anderen Dichter übertroffen;
alle seine Gedichte haben eine volltönige Melodie, wenn nicht im Herzen,
klingen sie alle im Ohre wieder. In oft wunderbarem Tonfall rauschen die
Worte voll rhythmischen Schwunges einher, aber die Empfindung ist nicht
immer rein und klar und so arten namentlich die Bilder leicht zur
großklingenden Phrase aus. Das Volkslied liebt drastische Bilder, der
Realist Goethe ist äußerst sparsam mit ihnen, die Kalbeck's haben oft
etwas Verschwommenes. Das liegt mit an der ganzen Grundstimmung, welche
die Gedichte durchzieht: das Trauern um ein verlorenes Liebesglück,
das Träumen und Erwachen, der Zorn und die Wehmuth des Verlassenen, die
Erinnerung und die Sehnsucht. Dies schmerzliche Phantasiren über ein
Unerreichbares führt dem Dichter Bilder zu, denen die realistische Treue
fehlt und welche besonders
[974] eine farbige Vorstellung erwecken, wie er auch mit Vorliebe das
Grauen der Nacht verwendet, den schauerlichen Dämmer einer Mondnacht,
das Wetterleuchten am dunklen Abend, das feurige Abendroth, in welches
die Funken des Tages versprühen. Das giebt den Gedichten allen wohl
eine besondere Farbe, einen besonderen Klang, aber durch den Mangel
an klarer Vorstellung wird auch die Reinheit der Empfindung getrübt.
Außerdem kehrt der bekannte Stern, der bald aufleuchtet, bald in Nacht
versinkt, doch zu oft wieder.
"Gesang und Spiel sind ausgeklungen,
Die fröhlichen Blumen alle verblüht,
Undin des Todes Dämmerungen
Sindmeine Sonnen stumm verglüht.
Zuweilen blitzt noch in dunkelen Nächten
Wie Wetterleuchten ein plötzlicher Glanz;
Mir ist, erkaltete Hände brächten
Dem Schläfer einen verblichenen Kranz."
etc. Hier soll das dumpfe Gefühl der Todesdämmerung geschildert werden, die Bilder mögen da auch noch verworren durch einander gehen. Gar frostig und kühl ist gerade und nur wegen der Verschwommenheit der Bilder das Gedicht "Begegnung".
"Sie ging als wievon Frühlingsnacht,
Gewitterschwül umfangen,
Das Herz von irrer Gluth umfacht
Mit bleichen, heißen Wangen."
etc. Ein ungleich klarer empfundenes Bild springt einem entgegen, wenn Goetbe sagt:
"Ein rosenfarb'nes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht"
Kalbeck hat sich offenbar Lenau zum Muster genommen; aber Lenau's Bilder sind mannigfaltiger, er macht die Natur, der er, sie getreu schildernd, Wollen und Empfinden unterlegt, zur Leidensgenossin; wie er Alles in ihr poetisch belebt, entnimmt er ihr die reizvollsten und vielfältigsten Bilder. Aehnlich Kalbeck (so in den Gedichten "Neuer Frühling" und "Juninacht"), nur gebricht seinen Bildern eben die prägnante plastische Treue, sie stellen sich oft nur als das Ergebnis eines prunkenden Formalismus dar. Auch die Nachstellung des Adjectivs mit dem Artikel findet sich, häufig bei beiden Dichtern; "Auf dem Teich, dem regungslosen", sagt Lenau und Niemand findet dabei etwas Auffälliges, weil das Beiwort hier nachdrüdlich ein besonderes Bild erweckt; wenn aber Kalbeck singt:
"Auch Dein Auge, Dein Augetropft(!)
Thränen der Liebe, glühende, heiße,
Unter dem wogenden Schleier klopft
Tiefaufathmend die Brust, dieweiße!"
so klingt das offenbar gesucht; ja, wenn es auch schwarze Brüste gäbe! –
Um einen Vergleich zu gewähren, stehe hier ein Gedicht von Mörike, und eines von Kalbeck, welche beide ein verlassenes Mädchen zum Gegenstand haben. Uebrigens ist das Letztere eines der einfachsten und liedermäßigsten aus den "Nächten":
[975]Mörike::
Früh, wann die Hähne krähn,
Eh die Sternlein verschwinden
Muß ich am Heerde stehn,
Muß Feuer zünden.
Schön ist der Flammen Schein,
Es springen die Funken;
Ich schaue so drein,
In Leid versunken.
Plötzlich, da kommt es mir,
Treuloser Knabe,
Daß ich die Nacht von Dir
Geträumet babe.
Thräne auf Thräne dann
Stürzet bernieder;
So kommt der Tag heran –
O ging' er wieder.
Kalbeck:
Aus schweren Träumen wach' ich auf, –
Er kam die Nacht zu mir;
Nun dämmert grau der Tag herauf
Und einsam bin ich hier.
Es war so bleich sein Angesicht,
Verworren hing sein Haar,
Doch schien sein Auge mild und licht,
Doch klang sein Wort so klar.
Er sprach zu mir von alter Zeit,
Von Sang und Spiel und Tanz;
Er bot, von Blüthen überschneit,
Mir einen grünen Kranz.
Aus schweren Träumen wach' ich auf,
Er kam die Nacht zu mir,
– Nun dämmert grau der Tag herauf,
Und einsam bin ich hier.
Es ist kaum die Frage, welches Gedicht einfacher, stimmungsvoller und anschaulicher ist! –
Doch genug der Ausstellungen. Glücklicherweise ist hier bei dem Schatten auch das Licht: da, wo es Kalbeck gelingt, sich knapp zu fassen, ein treues Bild zu geben und die Volltönigkeit seiner Worte der Goethe'schen Einfachheit zu nähern, bringt er Gedichte hervor, die sich den besten lyrischen Erzeugnissen anreihen. Leicht findet er den rechten, warmen Ton, wenn die Hoffnung mit einem schönen Morgen neu erwacht ist und frische Lebensluft ihn umfängt. Ergreifend schön ist das Gedicht: "Neujahrsnacht", weil es ohne Ueberschwenglichkeit treu die bittere Stunde schildert, in der er das Einst und Jetzt vergleicht; reizvoll die Schilderung einer Tirolreise in jungen Tagen. Gleich stimmungsvoll ist die "Abendruhe". Aus den Balladen und Romanzen ist schon "Die Verlassene" mitgetheilt; interessant wäre ein Vergleich des "Einsiedler" mit dem oben erwähnten "Chaldäer" von Al. Aar. Dieser ist die Welt aus pessimistischer Philosophie geflohen, Jener aus Weltüberbruß und Uebersättigung:
"Abgethan ist alles Leid,
Hinter jedem Morgenroth
Leuchtet mir die Ewigkeit,
Und so wart' ich auf den Tod."
Musterhaft ist die Ballade: "Die letzte Nacht". Einer, der sich kaum den Armen eines wonnigen Weibes entwunden, eilt durch die erstorbenen Gassen, am Thore winkt ihm sein verlorenes Liebchen, auf dem Brückenstein sieht er seine Mutter in die Tiefe springen, am Dome tritt ihm ein Leichenzug entgegen, unter dem sich seine Genossen, die todten wie die lebenden, befinden; doch keiner antwortet auf die Frage, wer in dem Schreine liege. Geängstet stürzt er endlich auf's Lager; doch
"Die Sonne, sie scheint in ein welkes Gesicht,
Er schläft, er schläft und er regt sich nicht ...
Und nimmer erwacht er wieder."
Da ist eine dichterische Gewalt, die weit über die Grenzen des Gewöhnlichen
hinausgeht; dort aber offenbart sie sich am Herrlichsten, wo sich der
be[976]geisterte Schwung, mit der Formenschönheit verbunden, zum Hymnus erhebt.
Hinter dem Gedicht auf den Menschen birgt sich die Kantsche Philosophie,
aber wie ist sie zu Poesie geworden! Man höre:
– – –
Ohne Glanz im Erdreich ruhen
Mußte schwer der Steine Last,
Eh' Du aus den dunklen Truhen
Ihren Schatz gehoben hast.
Von den Blumen, von den Bäumen
Wurde keine Flur beglückt,
Eh' nicht Du Dein eigen Träumen
Dir mit ihnen ausgeschmüct.
In der Sterne Glanzgewimmel.
Gabst Du Welten ihren Lauf,
Und Dein Auge ging am Himmel
Leuchtend mit der Sonne auf.
Hauchtest seelenlosen Dingen
Den lebend'gen Odem ein,
Aus belebten Zweigen klingen
Deine Lieder durch den Hain.
Dankbar hoch im blauen Bogen
Lacht der Himmel zu Dir her,
Und mit wildem Freudewogen
Jauchzt Dir rauschend zu das Meer.
Jeder Strauch auf Deinen Wegen
Streckt Die Aeste nach Dir aus,
Jede Blume blübt entgegen
Deiner Hand zu Kranz und Strauß.
Gräser küssen Deine Füße,
Segnen Deinen stolzen Tritt,
Ueber Dir, wie Liebesgrüße,
Zieh'n die leichten Wolken mit.
Für Dein Wünschen und Dein Hoffen
Bautest Tempel Du und Dom,
Und, von Deinem Wort getroffen,
That sich Hellas auf und Rom.
An dem eig'nen Schöpfungswerke
Wuchs des Schöpfers Kraft empor,
Und aus Deiner Götterstärke
Gingst Du selbst als Gott hervor
Das war die beste Stunde des Dichters! –
[Fußnote, S. 972]
*) Vergleiche Ritter Olaf von Heine: "Der Henker steht vor der Thüre".
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Erstdruck und Druckvorlage
Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft.
1878, Bd. 2, August, S. 969-976.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft online
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/507184-7
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Der_Salon_für_Literatur,_Kunst_und_Gesellschaft
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000526196
Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft inhaltsanalytische Bibliographie
Alfred Estermann: Inhaltsanalytische Bibliographien deutscher Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts - IBDK.
Band 7. München u.a. 1996, S. 303-566.
Zeitschriften-Repertorien
Literatur: Hammann
Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus.
Freiburg i.Br. u.a. 2019.
Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik.
In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
Hrsg. von Dieter Lamping.
2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.
Göttsche, Dirk: Poetiken des 19. Jahrhunderts (Realismus).
In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität.
Hrsg. von Ralf Simon.
Berlin u. Boston 2018, S. 175-200.
Reents, Friederike: Stimmungsästhetik.
Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert.
Göttingen 2015.
Stockinger, Claudia: Paradigma Goethe?
Die Lyrik des 19. Jahrhunderts und Goethe.
In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur.
Hrsg. von Steffen Martus u.a.
Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 11), S. 93-125.
Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert.
Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken.
In: Grundfragen der Lyrikologie.
Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysedimensionen.
Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a.
Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.
Zymner, Rüdiger: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
Hrsg. von Dieter Lamping.
2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23-36.
Literatur: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft
Berbig, Roland: Theodor Fontane im literarischen Leben.
Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine.
Berlin u.a. 2000 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, 3).
S. 206-210: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft.
Rosenstein, Doris: Zur Literaturkritik in deutschsprachigen Zeitschriften zwischen 1870/71 und 1881/82.
In: Deutschsprachige Literaturkritik 1870 – 1914. Eine Dokumentation.
Hrsg. von Helmut Kreuzer.
T. 1: 1870 – 1889. Frankfurt a.M. 2006, S. 5-26.
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer