Text
Editionsbericht
Literatur
Lyrik oder Lyrische Poesie,
deren Name von dem griech. Saiteninstrument Lyra (s.d.) entlehnt ist,
heißt diejenige Hauptgattung der Poesie, die das
innere Gefühlsleben zum unmittelbaren Ausdruck bringt. Sie ist das subjective Aussprechen
subjectiver Gefühle und zeigt sich daher in ihrer geschichtlichen Entstehung
überall später als das Epos, das an die äußere Welt anknüpft und deren Begebenheiten erzählt.
Die L. ist um so tiefer, je wahrer und inniger die Stimmung und Empfindung ist, die sie ausspricht,
und sie ist um so poesievoller, je mehr durch die vereinzelte Empfindung und Stimmung
der ganze dunkle, unerschöpfte Urgrund des gesammten Gemüthslebens hindurchklingt.
Daher der innige Zusammenhang der L. mit der Musik; daher
[976] in der alten L. die feinabgewogene, lebendig in sich verschlungene rhythmische Form,
der kunstvoll gegliederte Strophenbau, in der modernen die Vorliebe für den Reim.
Der Form nach unterscheiden wir in der L.: 1) die hymnische (Hymne, Ode, Dithyrambe); sie
ist die L. der Erhabenheit; das tiefbewegte Gemüth blickt begeistert hinauf zu einem
übergewaltigen Inhalt, von dessen Größe sie erschüttert ist und den sie doch nicht völlig
in sich hineinzuziehen vermag; 2) die liedmäßige (das Lied); diese ist die L. der ruhigen,
harmonischen Schönheit, in welcher Inhalt und Stimmung rein und unmittelbar ineinander aufgehen,
die Stimmung ganz von ihrem Inhalt durchglüht ist und ihn in unwiderstehlicher
Naturnothwendigkeit naiv und schönheitsvoll ausspricht; 3) die L. der Betrachtung
(Elegie, Sonett, Epigramm); sie stellt den Uebergang des reinen Gefühlszustandes in
das Gedankenleben dar; der Gegenstand, der die Empfindung hervorruft, spricht sich nicht mehr
unmittelbar selbst aus, sondern der Empfindende enthüllt nur seine Gedanken über ihn.
Wie die dämmernde Gefühlswelt des Menschen mehr im Orient und im Christenthum ihre
Entwickelung und Bedeutung erlangt, so hat sich auch die lyrische Poesie in der
jüd. und christl. Anschauung vollständiger und allseitiger entwickelt als in der
plastischen Anschauungsweise der Griechen und Römer. Die lyrischen Gedichte des Alterthums haben daher
entweder starke epische Beimischungen, wie bei Pindar, dem berühmtesten griech. Lyriker,
oder sie gehen in das Didaktische über. Fast nur das Liebeslied erlangte bei den
Griechen durch Sappho und Anakreon und bei den Römern durch Catull, Tibull,
Properz und Horaz eine höhere Stufe der Vollendung. Aus den ersten christl. Jahrhunderten
sind uns besonders herrliche lat. Kirchenhymnen erhalten. Einen überaus reichen
Aufschwung nahm die weltliche L. seit dem 12. Jahrh. in Südfrankreich und Spanien, etwas später
in Italien, wo sie sich in die künstlichen Formen des Sonetts, der Canzone, Sestine u.s.w.
kleidete. In Deutschland trat eine reiche Blütezeit mit dem Minnegesange des 13. Jahrh. ein,
der an Mannichfaltigkeit der Form und des Inhalts noch unübertroffen ist. Während hier in den
folgenden Jahrhunderten die weltliche L. durch handwerksmäßige, später durch gelehrte
Künsteleien und Spielereien verfiel, erhob sich desto glänzender seit der Reformation das
Kirchenlied (s.d.). In die weltliche L. kam erst mit der Mitte des 18. Jahrh. ein neues Leben,
das in der frischen Liederlyrik Goethe's seine schönsten Blüten trieb. Seitdem ist in Deutschland
die L. in unverkümmerter Entwickelung geblieben, besonders durch Uhland, Heine und
Geibel
und in mehr reflectirender Weise durch Rückert,
Platen,
Bodenstedt u.a.
Außer den Schriften
über Aesthetik von
Vischer,
Rob. Zimmermann und
Carriere vgl.
Gottschall, "Poetik"
(3. Aufl., Bresl. 1873).
Erstdruck und Druckvorlage
Conversations-Lexikon.
Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie.
Zwölfte umgearbeitete, verbesserte und vermehrte Auflage. In funfzehn Bänden.
Neunter Band: Karlowitz bis Maerlant.
Leipzig: Brockhaus 1878, S. 975-976.
Ungezeichnet.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Brockhaus online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Brockhaus_Enzyklopädie
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Edition
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