Text
Editionsbericht
Literatur
Lyrische Poesie, nach der Lyra (s. d.) benannt, von der sie bei
den Griechen u. Römern am häufigsten begleitet wurde. Der Ausdruck scheint bei
Aristoteles noch nicht vorzukommen. An seiner Stelle gebrauchten die Griechen, im Gegensatz von
ἔπη
und
δράματα,
jedoch mit Ausschluß der Elegie und der Jambik, in der Regel den Namen
μέλη.
Herder sagt: "Die L. P., eine Schwester der Musik, darf eigentlich nicht
schildern, sie hält sich lediglich an den Faden u. Gang der Empfindung u.
erhebt sich demnach in eine unsichtbare, geistige Sphäre. Was sich der Phantasie
irgend darstellen mag, ist vor ihr, alles aber nur in Bewegung, in leidenschaftlicher Wirkung."
Es ist die Aufgabe der Musik, das Empfindungsleben zu einem Gebäude von Tönen zu
ordnen, auf den Mittelpunkt geheimnißvoll angeschauter Ideen zu beziehen und
durch diese zu verklären. In sie versenkt fühlen wir uns von der Anschauung einzelner,
bestimmter, sichtbarer Gegenstände losgerissen, unsere Phantasie wird in eine
schrankenlose Freiheit gesetzt, sie ergeht sich im Weltall. Die künstlerische Einheit
beruht hier nicht in einem abgegrenzten Gebiete von sinnlichen Gegenständen,
nicht in bestimmt ausgesprochenen oder leicht zu errathenden Grundideen, sondern
in einer Grundstimmung, durch die uns der Tonschöpfer in einen gewissen Kreis von Empfindungen,
oder doch in verwandte Empfindungen bannt.
Indem nun die L. P. aus dem unendlichen, geheimnißvollen Grunde der Musik
aufsteigt, gibt sie den Empfindungen durch Sprache und bildliche Darstellung eine
bestimmtere Richtung; aber Schilderung, Erzählung, Gedanke sind in ihr nur flüchtige
Verkörperungen des Tonelementes, in dem sie wieder sich auflösen. Auch wo die Seele des
[446] Lyrikers in völliger Selbstvergessenheit mit ihrem Gegenstande verschmilzt, in ihm untergeht,
malt sie denselben doch nur auf dem Wellenspiegel des unendlich bewegten Gemüthes ab;
sie gebiert ihn zum zweiten Male, aber nur aus dem Herzen u. für das Herz. Die Wurzeln dieser
poetischen Hauptgattung liegen, besonders unter den romantischen u. modernen Dichtern,
in der geheimsten Tiefe des individuellen Gemüthslebens; ohne die Stimmung u. Eingebung
des Augenblickes, ohne das Walten der
μανία
ist die Lyrik todt; Phantasie, Gedanke, Wille reichen zu ihrer Entstehung nicht aus.
Aber sie durchbricht, wenn ihre Stimmung u. Eingebung eine künstlerische ist,
die Schranken der Individualität; sie erweitert ihre Empfindungen zu einem
Urbilde der Menschenempfindungen u. läßt den einzelnen Dichter wie eine
Normalpersönlichkeit, in der sich jedes Herz spiegeln und wiederfinden kann, die
Stelle der menschlichen Gattung vertreten. Die neuere Ästhetik unterscheidet 3
Hauptarten der L. P.: die Ode (u. den Hymnus), das Lied (zu dem auch
theilweise die Ballade u. Romanze gehören) u. die Elegie.
Erstdruck und Druckvorlage
Pierers Universal-Conversations-Lexikon.
Neuestes encyklopädisches Wörterbuch aller Wissenschaften, Künste und Gewerbe.
Sechste, vollständig umgearbeitete Auflage.
Zwölfter Band: Laing-Mettenleiter.
Oberhausen u. Leipzig: Spaarmann 1877, S. 445-446.
Gezeichnet: Zimmermann.
URL: https://archive.org/details/bub_gb_Y8oUAAAAYAAJ
URL: https://books.google.fr/books?id=Y8oUAAAAYAAJ
PURL: https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:061:1-543546
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Pierer online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Universal-Lexikon_der_Gegenwart_und_Vergangenheit
Enzyklopädien-Repertorium
Literatur
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Edition
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