Text
Editionsbericht
Literatur: Rutenberg
Literatur: Deutsche Warte
Ich werde schwerlich auf Widerspruch stoßen, weder bei Freund noch bei Feind, wenn ich mit Rücksicht auf unsere literarische Vergangenheit folgenden Grundsatz an die Spitze dieser Abhandlung stelle: Keine Nation der Neuzeit hat in den Sphären des reinen Denk- und Empfindungsvermögens, mit anderen Worten in der Philosophie und in der lyrischen Dichtkunst, die Gränzen der Menschheit mit einer solchen Kühnheit, Kraft und Schärfe erweitert und befestigt wie die unserige. Eine so stolze Reihe von Königen des Gedankens und geborenen Dichterfürsten, wie wir sie von Kant bis Schopenhauer, von Goethe bis Heine aufzuweisen haben, kommt bei keiner modernen Culturnation wieder vor. Ja es dürfte schwer sein, im ganzen Verlaufe der menschlichen Geschichte eine gleiche oder nur ähnliche Zeit der philosophisch-lyrischen Productionskraft aufzufinden wie die deutsche Literaturperiode von Mitte des vorigen Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre des gegenwärtigen.
Ich nehme dies für einen Beweis der in unserer Nation ruhenden Fülle und Tiefe von geistiger Kraft. Denn es ist wohl keine Frage, daß die Weltweisheit und die edle Sangeskunst, wenn auch oft geschmäht und verleumdet von den Kindern der Welt und mißachtet von den Mächtigen der Erde, doch mit dem Berufe begnadet sind, dem menschlichen Geiste und dem menschlichen Herzen die sicherste Freistatt zu gewähren zur Heilung aller im Kampfe des Lebens davongetragenen großen und kleinen Wunden. Wenigstens war dies die Ansicht unserer tapferen Vorfahren, welche mit Kant oder Hegel zu Bette gingen und mit Goethe oder Schiller aufstanden. Daß wir heutzutage anderen Gesinnungen huldigen, ist begreiflich und natürlich. Wir haben – sit venia verbo – einen ungeheueren Schritt vorwärts gethan, und Nichts vergißt und verachtet der Mensch leichter und mehr als das unmittelbar hinter ihm Liegende. Wir haben uns von der Literatur emancipirt und uns der Politik in die Arme geworfen. Wir [95] haben an so viel andere Dinge zu denken, wir sind so sehr von den Interessen des Staates und der Gesellschaft in Anspruch genommen, daß wir weder Lust noch Zeit übrig behalten, um über die höchsten Fragen der Menschheit oder die letzten Gründe unseres Daseines das uralte höchst complicirte und in seinen Resultaten sehr problematische Räderwerk der absoluten Speculation zu befragen.
Auch soll es an dieser Stelle nicht meine Aufgabe sein, ein rettendes Wort für die schöne Ruine "transcendentale Philosophie" einzulegen. Wenn dieselbe auch vorläufig von der technisch gewandteren und gewissermaßen auf Accord arbeitenden Naturwissenschaft vollständig in den Hintergrund gedrängt ist, so bin ich doch gewiß, daß sie, trotz Anthropogenie und Zellenbildungstheorie, sich sehr bald wieder in die Höhe des reinen Gedankens aufschwingen wird. Denn das metaphysische Bedürfniß des Menschen der Zukunft wird in demselben Grade wachsen, wie seinem Gemüthe der Nahrungszweig der positiven Religion verkümmert wird. Auch besitzt die deutsche Philosophie Kraft und Verständniß genug, um gegen jeden fremdländischen Luftzug, und käme derselbe aus der verführerischesten Ecke des Darwinismus, siegreich das Feld zu behaupten.
Anders und schlimmer verhält es sich dagegen mit der lyrischen Poesie. Was ist aus diesem einst unbändig wilden, mit dem Goldregen der herrlichsten Einfälle verschwenderisch beglückenden Kinde der Lust, was aus den Liedern seiner Lerchenkehle geworden? Wo sind die gewaltigen Klänge der himmelanstürmenden Odendichtung? wo die feinen, eleganten und zartduftigen Weisen der höfischen Minnepoesie? Die hohen majestätischen Hallen, in denen das neue Deutsche Reich seinen Einzug gehalten hat, haben manches gute Wort vernommen aus dem Munde der Reichsboten, aber die vaterländische Muse hat ihre Herrlichkeit nicht besungen. Ein armes schwaches Weib, von dem pomphaften Gefolge der Ritter und Damen verlassen, bekritelt und bespöttelt von den hervorragenden Geistern der Nation, ein Trost höchstens für diejenigen, die da "geistlich arm" sind, hört sie mit schwindsüchtigem Athem auf die stolzen Reden ihrer Sangesbrüder, der Dramen- und Romanschreiber; verwundert sich wohl auch, wenn ein widriger Coupletreim oder ein beliebter Gassenhauer ihr verwöhntes Ohr berührt, und hat Mühe, ihr Plätzchen zu behaupten in dem einsamsten und entlegensten Schmollwinkel des mont Parnasse. Wer weiß, wie lange oder wie kurz die Zeit entfernt ist, wo die edele Verstoßene müde und matt von dem unfruchtbaren Ankämpfen gegen die geschlossene Phalanx des zeitgenössischen Antilyrismus sich gänzlich zurückziehen wird aus der Welt der Wirklichteit in das Unsterblichkeitsasyl unserer großen Todten.
Es ist Pflicht der Kritik, gegen diesen äußersten Verfall ein energisches veto einzulegen. Es ist Pflicht, meine ich, an die hohen Verdienste zu erinnern, welche gerade die lyrische Muse sich um das deutsche Volk erworben hat. Sie hat nicht nur in langer trauriger Zeit der politischen Zerfahrenheit und Interesselosigkeit die Fahne der geistigen Macht unserer Nation hochgehalten, sondern sie hat, als die ersten Lerchen der Freiheit schwirrten, dem unbewußten Triebe und Drange Stimme und Ausdruck verliehen. Sie hat die Guten begeistert, die Schwachen stark, die Starken zu Helden gemacht. Aber sie hat auch, als gepanzerte Kriegsmuse, den Schrecken in die Reihen der Feinde geschleudert, sie hat Schlachten gewonnen und mit ihrem Posaunenrufe die Mauern manches modernen Jericho erschüttert.
Der ganze gewaltige Unterschied zwischen den Deutschen, welche im Januar 1814 den Rhein überschritten, und denen, welche denselben welthistorischen Act im Juli 1870 vollführten, liegt, was das Charakteristische der nationalen Begeisterung anbetrifft, in [96] der Stimmbegabung der begleitenden Kriegslyrik. Denn der Liederschatz, den ein kampfgerüstetes Heer mit sich führt, ist nur das im Geiste wiederholte Schwerterglänzen und das Rufen zum Streite der alten homerischen Helden.
Welche berauschende, übermächtige Fülle der herrlichsten Kriegsgesänge bietet uns die Zeit der schweren Noth! Wie Sturmwind, wie Wetterleuchten geht es durch die Luft und klingt und leuchtet wieder in den Liedern eines Körner, Arndt, Schenkendorf, Stägemann. Der Dichter selbst tritt auf den Kampfplatz und stimmt den Päan an, den ihm begeisterte Herzen nachjubeln.
"Der Gott, der Eisen wachsen ließ."
"Das Volk steht auf, der Sturm bricht los."
"In dem wilden Kriegestanze."
"Frisch auf, mein Volk, die Flammenzeichen rauchen" u. s. w. u. s. w.
Wer kennt sie nicht, jene von der Schlachtenmuse selbst inspirirten Freiheitslieder, die zum großen Theile auf dem Schlachtfelde selbst erfunden wie ein elektrischer Funke durch das ganze Heer zuckten und deren hoher poetischer Werth am besten dadurch beglaubigt wird, daß sie noch heutzutage im Volke leben und zu den besten Leistungen der deutschen Lyrik gerechnet werden müssen.
Wie anders dagegen auf den Schlachtfeldern von 1870 und 1871! Ein einziger Gesang tönt im gleichmäßigen Tacte mit eingelernter Sicherheit durch die Kriegerreihen. Nichts Orphisches, nichts Elementares giebt sich kund. Kein Held steht auf und erfindet unter dem Donner der Geschütze neue schwungvolle Weisen. Die "Wacht am Rhein" ist ein altes, längst bekanntes und beliebtes Lied des deutschen Volkes.
Der Verfasser gehört einer vergangenen Periode an; die Drohung des übermüthigen Feindes, die ihn zu dem Liede entflammte, ist seit dreißig Jahren verklungen, wenn schon nicht vergessen. Den neuen Aufschwung seines Volkes hat der Dichter nicht mehr erlebt. Auch hat er außer dem einen Liede, dessen glückliche Wirkung im Wesentlichen durch die schwungvolle Melodie bedingt ist, keinen nennenswerthen poetischen Einfall gehabt. Er ist gestorben, ohne auf den Blättern der Literaturgeschichte auch nur einen flüchtigen Eindruck zu hinterlassen. Erst der Ausbruch des Krieges stellt sein Andenken wieder her, das sonst, aller Wahrscheinlichkeit nach, mit dem Liede zu Grunde gegangen wäre.
Aber auch die übrige lyrische Production der zeitgenössischen Dichter ist, wenigstens qualitativ, verschwindend klein gegen den "brausenden Freiheitssang" ihrer fünfzigjährigen Ahnin. Es ist sicherlich ein bemerkenswerther Charakterzug, daß, ausgenommen das Arndt'sche Donnerwort aus dem Jahre 1841 "All-Deutschland in Frankreich hinein", welches wie ein vorzeitiger Riese die kleinen lallenden Kinder der Jetztzeit überragt, von den Letzteren nur zwei eigentlich populär geworden sind, daß "Kutschkelied" und das Kräuslerische: "König Wilhelm saß ganz heiter". Das Charakteristische liegt darin, daß beide Gedichte, die übrigens kaum auf den Namen: "Lied" Anspruch haben dürften, sich ihre hervorragende Stellung durch eine gewisse banausische Komik erworben haben, welche von der norddeutschen Soldatennatur mit besonderer Vorliebe cultivirt wird.
Es ist nun zwar nicht zu bestreiten, daß die dem Volke ferner stehende
Kunstlyrik viele gute und tüchtige Sachen zu Tage gefördert hat. Das
Freiligrath'sche "Hurrah Germania", "die Trompete von Vionville", das
Rodenberg'sche: "Und das Losungswort heißt, wie es damals hieß,
Wohlauf für den Rhein, nach Paris, nach Paris",
[97] sodann einige Geibel'sche Lieder sind bemerkenswerthe dichterische
Leistungen, von einer guten Prosodie getragen und ihrem Inhalte nach
durchaus zeitgemäß und zutreffend. Aber haben wir einen einzigen dieser
Kunstgesänge auf den Gassen wiederklingen hören; hat die Depesche,
welche den Sieg von Sedan und den Sturz des zweiten Kaiserreiches dem
deutschen Volke verkündete, in unseren Städten und Dörfern einen
epochemachenden Hymnus wachgerufen?! Wir haben geflaggt und getoastet
und gewiß haben unsere Herzen eben so hoch geschlagen wie die unserer
Vorältern nach der Einnahme von Paris. Aber kein Dichtermund hat sich
aufgethan, um unserem Siegesjubel die richtige poetische Weihe zu
verleihen. Erst im April 1871, "nachdem die Theilung längst geschehen",
erhebt sich Oscar von Redwitz und verkündet uns sein "Lied vom neuen
deutschen Reich", ein episches Gedicht, welches die That des deutschen
Volkes von 1870/71 in den schönsten Sonetten verherrlicht, aber viel zu
breit und kostspielig angelegt ist, um im Volke selber jemals Wurzel zu
fassen,
Und dann, wo sind die Homeriden geblieben, welche einst einen Scharnhorst, einen Blücher, einen Gneisenau im flüssigen Marmor der Ode oder des Liedes unsterblich machten? Stehen Bismarck, Moltke, Werder nicht hoch genug, um von den Jüngern Apoll's gesehen und bewundert zu werden? Oder ist unserem Volke an dem Beifalle seiner Poeten so wenig gelegen, daß diesen die Lust vergangen ist, den Lorbeerhain zu entblättern?
Es wäre thöricht, wollte man die Fülle und Kraft der nationalen Begeisterung, die ein Volk zu einer bestimmten That treibt, an der Fülle und Kraft der gleichzeitigen Production auf dem Gebiete der lyrischen Dichtkunst bemessen.
Aber ein Kennzeichen, von welcher Art der Enthusiasmus eines Volkes ist, liefern uns die begleitenden Dichterstimmen gewiß.
Die deutsche Nation von 1813 war in politischer Hinsicht jung, unerfahren; sie dürstete nach dem Blute eines Tyrannen und gleichzeitig nach der Luft der lange entbehrten Freiheit und Selbständigkeit. Eine solche Nation muß singen; sie muß die übervolle Brust erleichtern, und hierzu bietet sich als elementarstes, sicherstes Mittel das Lied, der Gesang. Wo aber das Bedürfniß vorhanden ist, finden sich auch die Helfer. Es geht ja doch in der Dichtkunst stets nach dem alten Goethe'schen Grundsatze, daß nicht der Poet das Gedicht, sondern das Gedicht den Poeten macht. Eine solche absolute Sangesbegeisterung kannten die Deutschen von 1870 nicht. Die Art, wie der Krieg anfängt: herausfordernde Thorheit auf der einen, ruhige Festigkeit und Entschlossenheit auf der anderen Seite, ferner die Kriegführung selbst, die mit fast maschinenmäßiger Sicherheit die großartigsten, unerhörtesten Resultate zu Tage fördert, und dabei nun die Besonnenheit und classische Gleichmüthigkeit der Sieger es ist, als ob man ein anderes Volk vor sich hat, ein Volk, für dessen hohe geschichtliche Mission Apollo's Leyer nicht mehr volltönende Accorde genug besingt, um Begeisterung zu wecken oder zu nähren.
Vielleicht war dies der tiefere Grund, welcher den Mund der Dichtung verstummen machte oder ihn doch nur mit schwachen, sanften Melodien antworten ließ, als die Kunde von der Wiederaufrichtung des neuen Deutschen Reiches über den Rhein erscholl. Die eherne Stimme der Krieges- und Siegesdepeschen war zu laut, die Thatsachen sprachen zu sehr für sich selbst, um durch Dichterworte illustrirt zu werden.
Und wirklich scheint es, als ob gerade ein eminent pathologischer Zustand, wie Deutschland ihn von 1806 bis 1813 durchzumachen hatte, für die jungen sprossenden [98] Keime der lyrischen Muse die richtige Lebensatmosphäre bedeutete. Es scheint, als ob das Stadium zwischen Schlaf und Erwachen, jenes halbträumerische Sichbesinnen des Geistes auf seine heroische Aufgabe, wie es in zweiter Instanz die jungdeutsche Schule zu erkennen gab, die günstigsten Bedingungen bietet für das frische Emporblühen begeisterter Freiheitslieder. Der Zeitgeist ist krank, die Muse setzt sich zu ihm und bessert ihn durch rosenduftige und lilienreine Versgestalten:
"Sie sprach zu ihm so wundertönig,
Sie streichelte lind sein wirres Haar,
Bis trunken der kranke Geisterkönig
An ihrem Busen entschlummert war."
Der Dichter, um recht aus vollem Herzen singen zu können, muß wissen, daß er auch vor vollen Herzen singt, daß sein Lied Widerhall und Entgegnung weckt in dem besten Theile der aufhorchenden Nation. Vielleicht, sage ich, fehlt uns und unserer Zeit das ausgiebige Maß lyrischer Empfänglichkeit. Vielleicht ist überhaupt die Zeit vorbei, wo für alle neun Musen Raum genug ist auf dem Olymp.
In allen Gebieten des menschlichen Wissens giebt sich eine merkwürdige Revolution kund. Das Ideale verschwindet. Die realen Körper des neuen Systemes fangen an, sich zu organischen Gliederungen zu gestalten, langsam, aber mit einer logischen Sicherheit, welche zu dem geistreichen Umhertappen der romantischen Periode in dem vortheilhaftesten Contraste steht. Vielleicht hat also die Kritik Recht, wenn sie, um für die Neubildung der Gegenwart und der Zukunft Raum zu gewinnen, den überlieferten Bauschutt früherer Perioden, den das pietistische Bewußtsein einer gewissen Partei gerne für theuer erworbene Reliquien erklären möchte, mit rücksichtsloser Strenge bei Seite schafft. Vielleicht handeln wir nur im richtigen, wohlverstandenen Interesse der geistigen Fortbildung, wenn wir uns gegen alle schönselige Empfindelei und schwermüthige Gedankenharmonie mit den derben Waffen der kritischen Dialektik wehren und vertheidigen.
Eisenbahnschienen und Telegraphenstangen sind keine Gegenstände für lyrische Behandlung, Freiheit und Volksrechte sind für uns nicht mehr jene unbestimmt lockenden Attribute eines kommenden besseren Zeitalters; sie haben den Zauber des Dämonischen, Ersehnten, Verschwimmenden verloren, welcher vortrefflich geeignet ist für die Akustik der Seele und die elegische Resonanz. In Parlamentsdebatten und neuen Gesetzesvorlagen erschöpft sich die geistige Kraft nicht, sondern sie erstarkt und baut auf, da sie etwas Körperliches vor sich sieht, womit sie in der Welt Epoche macht. Eben so bilden die wissenschaftlichen Untersuchungen, die Mikroskopie, die chemische Analyse, die vergleichende Anatomie, heutzutage nicht mehr ein nebelhaftes Brockenfeld, anf welchem sich die bevorzugten Geister exclusiver Kreise zu theoretischen Orientirungen versammeln. Alles drängt zu praktischen Resultaten, und die allgemeine Bildung ist flüssig genug, um sich mit jedem neuen Gewinne der Erkenntniß, und sei derselbe auch noch so heterogen und unbequem für die Gefühlswelt, sofort und dauernd zu transsubstantiiren.
Es ist ja möglich, daß auch diese Gegenstände, welche heutzutage den Boden unserer Vorstellungen durchwühlen, um uns die prosaischen Consequenzen des praktischen Denkens in ihrer ganzen Härte und Kälte fühlbar zu machen, dereinst feurige Flammen werfen werden in die Brust eines Dichters.
Es ist möglich, daß einst ein Mann in deutschen Landen aufstehen wird, größer als Goethe und Schiller zusammengenommen, welcher jede neue Entdeckung, jeden großen [99] Gedanken der Zeit, jede Wendung des Weltgeschickes auf der Aeolsharfe der Empfindung wiedergeben und einen Gesang anstimmen wird, von dessen hinreißender Gewalt wir Söhne des Realismus uns keine Vorstellung machen können. Mir fällt dabei ein Gedicht des neuerdings vielgenannten und vielgelesenen americanischen Poeten Bret Harte ein. Es ist ein wunderbares Ding um diesen neuen Geist, der uns von jenseits des Oceanes herübergetragen wurde: halb Essenqualm, halb Duft der Prairieblumen. Als Autochthone des Materialismus ist er doch voll echt poetischer Originalität und vielleicht der Erste, der Motive der crassesten Realität mit Glück in Liedform behandelt hat. Das Gedicht, welches ich meine, enthält eine Wiedergabe der Empfindungen bei dem Zusammenstoße zweier einander entgegendampfenden Eisenbahnzüge. Gewiß ein großartiges Motiv. Ob aber lyrischen Charakters, lasse ich dahin gestellt. Wir sehen und hören das Heranbrausen der beiden Ungethüme. Die Luft erzittert, die Erde bebt. Ein Schrei, ein einziger markerschütternder Schrei erschallt und zerbrochen liegen die Glieder von Hunderten, dort ein Arm neben einem Maschinentheil, hier ein Kopf neben einem Waarenballen. Es ist der Kampf des Principes gegen die Natur, welche in ihrer ruhigen Majestät einen imposanten Contrast bildet gegen den unruhigen, von Leiden zu Leiden fortschreitenden Menschengeist.
Es ist möglich, wiederhole ich, daß ein Poet der Zukunft mit derartigen Motiven, welche die Feindschaft zwischen den Elementen und der Culturentwickelung im schneidendsten Gegensatze darstellen, noch ganz andere Wirkungen erreichen wird, als unser jetziges Vorstellungsvermögen zuläßt. Es ließe sich z. B. denken, daß neue Wortbildungen oder Rhythmen erfunden würden, welche die Sprache und den Geist der Dichtkunst befähigten, gleichen Schritt zu halten mit dem Culturkampfe, der gleich einem riesigen Waldbrande bis in die dunkelsten Schlupfwinkel der hierarchischen Omnipotenz vordringt und die längst vermorschten und verfaulten Ideen vergangener Jahrhunderte in Asche legt behufs Anpflanzung neuer gesunder Schößlinge in dem alten Brachlande.
Schon jetzt läßt sich mit Sicherheit so viel erkennen, daß die geistige Bedeutung der bezeichneten Motive hinter denen keiner früheren Geschichtsperiode zurücksteht, die meisten sogar durch das damit verbundene allgemein menschliche Interesse sowie durch die Tiefe und den Ernst, womit das ganze deutsche Volk dabei betheiligt ist, weit überragt. Aber für die dichterische Verwerthung fehlen uns hier, wie auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Forschung, vor allen Dingen die Töne und Farben, und ich gebe zu, daß z. B. für die socialen und religiösen Bewegungen unserer Zeit die dramatische Form wenn schon mit erheblichen Umänderungen mehr Garantien des Gelingens bietet als irgend eine andere.
Was bleibt nun aber für den armen Liederdichter übrig? Mit Gott und Welt ist er längst zerfallen. Freundschaft, Liebe, Natur sind schöne und höchst ergiebige Themata, die zu allen Zeiten lyrischen Cours gehabt haben. Sie sind zwar etwas verbraucht, aber man kann auch mit verbrauchten Sachen noch Geschäfte machen. Sie stehen einem Jeden zu Gebote. Ein Jeder macht seine Erfahrungen darin: man fängt damit an und hört damit auf. Was nützt uns alle politische Freiheit, was aller Bürgersinn, was ein wohlgeordnetes Finanzsystem und ein gutgeschultes Kriegsheer, wenn uns unsere Geliebte untreu wird, unser Freund uns verläßt, oder, was noch schlimmer ist, wenn wir – gleich dem Helden in den Bekenntnissen "aus einer Mannesseele" – von unseren Irrfahrten in das Land des "ewig Weiblichen" als armer geschlagener Mann zurückkehren müssen. Ja, man sollte denken, daß diese Cardinalfrage der Menschheit [100] niemals an Interesse verlieren kann, und daß daher auch der Poet mit einem guten Liebesliede oder einer Verherrlichung des edelen Nektars – dieses Surrogates der Liebe – stets einen durchschlagenden Erfolg erringen wird.
In der Theorie ist dies auch vollkommen richtig, und ich behalte mir vor, mich in der Folge etwas genauer darüber mit dem geehrten Leser zu verständigen. Praktisch jedoch gestaltet sich die Sache nicht so günstig für unsere modernen Horaze und Anakreon's.
Es war eine Zeit in Deutschland, wo man durch Verfassung und Herausgabe eines Bandes lyrischer Gedichte in der literarischen Welt Carrière machen und, wenn man mit der Verskunst einige Menschenkenntniß verband, es unter den gebildeten Classen bis zu einer gewissen Heiligsprechung bringen konnte. Es war eine Zeit, wo ein Epheublatt vom Grabe Lenau's, ein Federhalter Geibel's oder ein Ausschnitt vom Schlafpelze Rückert's in keiner guten deutschen Haushaltung fehlen durfte, wo man die Lieder der deutschen Meister weniger sang, als nachzuahmen oder nachzustümpern suchte, wo das verhängnißvolle Wort Uhland's: "Singe, wem Gesang gegeben, in dem deutschen Dichterwald" als eine Art Aufruf an verkannte Dichterjünglinge oder Jungfrauen verstanden und die Leipziger Büchermesse ballenweise mit geistigen Rohproducten der gefährlichsten Art überschwemmt wurde. Der kastalische Quell schien sich zu einem Strome erweitert zu haben, um, soweit die deutsche Zunge reicht, Alles, was mit Dinte und Feder umzugehen wußte, zu einem Badeversuch in den unsterblich machenden Fluthen aufzufordern. Der Nektar floß in Strömen. Wo zwei oder drei im Namen der Liebe oder der Freundschaft versammelt waren, da wurde der Pegasus bestiegen, und hopp! hopp! ging es über Stock und Stein, durch Dick und Dünn, bis der dichterische Miethsgaul unter seinen Peinigern zusammenbrach. Verse zu machen ist nicht schwer: ein Liebesgedicht ist bald zusammengereimt. Und wenn das erste Dutzend voll ist, so ist der Grund gelegt. An ein Halten ist nun nicht mehr zu denken. Es findet sich ein Freundeskreis, ein kleines dankbares Publicum, welches den Verseschmied für einen directen Nachkommen Petrarca's und seine Geliebte für die "Laura" des neunzehnten Jahrhunderts erklärt. Ein williger Verleger wird ebenfalls zu finden sein, und so ist der deutsche Dichter fertig.
Es könnte scheinen, als ob ein solches harmloses Beginnen sich zur Noth ertragen ließe, ohne allzuheftiges Achselzucken der Kritik, um so mehr, da es heutzutage wohl ein überwundener Standpunkt genannt werden kann. Dennoch gebietet uns die Vorsicht, die einmal für gut befundenen Maßregeln gegen die Epidemie der Versmacherei von Zeit zu Zeit zu wiederholen und dem öffentlichen Gewissen einzuschärfen. Die junge gebildete Damenwelt, die wir dabei vorzugsweise im Auge haben, hat zwar ihren übergroßen Respect vor den Ergüssen lyrischer Professionisten seit längerer Zeit unter die abgetragenen Sachen gehängt; und wir wollen sie deswegen nicht tadeln. Sie hat sogar – was weniger zu loben ist – die anerkannten Meister der edelen Dichterei bloß deshalb, weil ihr Métier nicht mehr Mode ist, für Schöngeister und ihre besten Sachen für süß, schmachtend, oder gesucht, effecthascherig erklärt. Die Gottheit dieser wandelbaren Gemüther ist nunmehr die Musik geworden. Eine fast noch fürchterlichere Epidemie als das Versmachen – das Clavierspiel hat die ganze höhere Weiblichkeit und einen großen Theil der ihr ergebenen jüngeren Herrenwelt ergriffen. Nicht mehr mit eigen verfaßten Gedichten, sondern mit einem gehörigen Adagio oder einem selbstcomponirten Sturmmarsch legitimirt man sich bei der Geliebten, und wer nicht selbst die Laute schlägt, der besitzt doch wenigstens Bildung genug, die kräftigen Hammerschläge irgend [101] eines Virtuosen, an dem es in einer guten Gesellschaft nie fehlen wird, geduldig mit anzuhören.
Ich sagte oben, die Gefahr, mit welcher Verfassung und Lectüre schlechter Verse unwiderruflich verbunden ist, sei in unserem aufgeklärten Zeitalter so ziemlich vorüber. Ich hätte sagen können: sie hat nur eine andere Physiognomie angenommen und ist im Grunde der Sache dieselbe geblieben. Denn ob uns, d. h. denjenigen unter uns, die auf schwachen ästhetischen Füßen stehen, das Gift der Unkunst und des Ungeschmades durch das Medium der Versreimerei oder des Claviergeklimpers eingeträufelt wird, ist doch wahrhaftig einerlei. Und in dieser Thatsache von unläugbarer socialer Wichtigkeit liegt die Berechtigung des kritischen Rhadamaotysmus.
Die Kritik soll eine eherne Mauer aufrichten zwischen der heiligen Stätte, wo Geist, Orginalität, Geschmack in duftender Fülle ihre Blüthen treiben, und der gemeinen Heerstraße, auf welcher das zudringliche Volk der Plagiarier und Dutzend-Menschen sich herumtreibt. Vor allen Dingen aber soll die Kritik den obersten Grundsatz der Kunst fort und fort wiederholen, daß alles Schöne schwer ist, und daß man nicht jeden, der ein Paar Claviertacte richtig zu spielen versteht, oder dem es gelungen ist, unter Zuhilfenahme der Wagner'schen Destillirretorte ein armes schwindsüchtiges Musenkind in die Welt zu setzen, für einen Inspirirten erklären darf.
Das, was in der Kunst als das Leichteste erscheint, ist in der Regel das Schwierigste. Und das trifft besonders für die lyrische Dichtkunst zu.
Ein großartiges Genie allein vermag über dergleichen Schwierigkeiten wie Tiefe, Fülle und Neuheit der Gedanken hinwegzukommen. Es lebt, indem es dichtet. Aber die großen Genies sind in der Dichtung mindestens eben so selten wie in der Politik und der Wissenschaft; sie drücken dem Jahrhunderte, dem sie angehören, den Stempel ihres Wollens und Strebens auf. Die kleinen Geister und Talente müssen, um etwas Tüchtiges leisten zu können, eine lange Schule bitterer Erfahrungen durchmachen. Das Leben muß sie recht ordentlich in die Enge treiben, muß sie durch mannichfache Leiden und Entbehrungen zuweilen bis an den Rand der Verzweiflung bringen, damit alle versteckten Triebfedern der Seele zur Reaction und Production aufgestachelt werden. Nur aus einem solchen durch und durch geschüttelten Gemüthe erblüht die Wunderblume Poesie. In einem solchen Stadium des geistlichen Nothstandes, wo alle Furien der Hölle auf den Menschen losgelassen zu sein scheinen, haben sich mehr oder weniger alle großen Dichter befunden. Hat doch selbst Goethe am Ende seiner von Erfolg zu Erfolg fortschreitenden Dichterlaufbahn eingestehen müssen, daß er während seines ganzen, fast drei Menschenalter umfassenden Lebens "nicht vier Wochen eigentliches Behagen" empfunden habe.
Auch auf dieser Seite begegnet uns ein antilyrischer Zug unserer Zeit. Der Realismus kennt keinen "Weltschmerz" und keine "Zerrissenheit". Aber er kennt auch nicht jene tiefere Gemüthsstimmung, als deren romaneske Ausartungen die beiden genannten Dichterkrankheiten zu betrachten sind. Denn worauf beruht aller geistige Schmerz, als auf der Einsicht, daß der Kampf des Lebens mit Waffen ausgefochten werden muß, welche die höhere Moral verwirft, und die von der edleren Seele nur mit Widerwillen gebraucht werden. Die Seltenheit dieser Einsicht raubt unserem Geschmacke das feinere Intresse für den Staub der Schmetterlingsflügel, mit dem die Göttin ehedem ihre Lieblinge ergötzte?
Um aber nun das poetische Kleid unseres Zeitgeistes etwas genauer anzusehen, [102] müssen wir den geneigten Leser bitten, sich und seinen kritischen Instinct zuvörderst einem kleinen Fegefeuer von Definitionen zu unterwerfen. Ich sage absichtlich Instinct. Denn wer möchte es im freiesten Lande der Dichtung unternehmen, den strengen Maßstab schulgerechter Begriffe an die lyrische Production zu legen und jedes Gedicht zu verbrennen, das in keine der hergebrachten Rubriken paßt? Die Eintheilung, die wir befolgen, hat daher nur einen arbiträren Charakter. Wir werden sie gänzlich verlassen, wenn wir auf den eigentlichen Nerv unseres Themas, das Lied, zu sprechen kommen. – Die Ballade und Romanze excommuniciren wir ohne Gewissensbisse. Obgleich mit einigen Tropfen lyrischen Oeles gesalbt, sind beide bei uns längst eingebürgerte Lieblingspoesien der südromanischen Völker doch so vorwiegend epischen Charakters, daß ich der schönen Sonettendichtung Oscar's von Redwitz zum Trotze – einem Homer der Zukunft keine bessere Dichtart empfehlen könnte, um in einer "Bismarckiade" die Leiden und Thaten des größten Staatsmannes unseres Jahrhundertes mit würdigen, voll ausklingenden Reimen zu verherrlichen. Für unseren Zweck genüge der Hinweis auf die unsterblichen Balladen Goethe's, Schiller's und Bürger's, welche in Formvollendung und mystischer Tiefe des Inhaltes bisher unerreicht dastehen, so wie auf die leicht gebauten, scherzhaft boshaften Romanzen im Heine'schen "Romanzero".
Als eigentliche charakteristische Formen der Lyrik gelten in der deutschen Dichtung: das Sonett, die Ode, der Dithyrambus, die Elegie und das Lied, an welche sich als wesentlich geistlichen Ursprunges die Hymne anschließt, anderer kleiner Nebenformen, als Serenate, Cantate, Canzonette gar nicht zu gedenken.
Die präciseste, um nicht zu sagen pedantischeste Form all dieser
Dichtungsarten bietet uns das Sonett. Welcher jugendliche
Schwärmer –
und schlotterte ihm auch nur eine Saite auf seiner
schnellverklingenden Leier –
hätte sich nicht in der Verfassung von Sonetten versucht! Welcher
reifere Schöngeist hätte nicht eine gewisse Achtung vor seinem eigenen
Talente empfunden, wenn er vor einem selbstgemachten wohlgelungenen
Sonette stand, in dem er entweder thränenreichen Abschied nahm von
einer ungetreuen Geliebten oder einen erotischen Kriegsgesang anstimmte,
um sich zu neuen Eroberungen zu begeistern.
Sehr bekannt und geschätzt sind Shakespeare's Sonette in der meisterhaften deutschen Uebersetzung von Friedrich Bodenstedt. Gluth und Empfindung, echt lyrischen Schwung und vollste Beherschung der Form wird Niemand dem großen Britten absprechen, eben so wenig aber wird Jemand in der Verfassung von Sonetten den Schwerpunkt oder den besonderen Vorzug eines dichterischen Genius finden wollen. Seinen specifisch italischen Charakter hat das Sonett in deutscher Dichtkunst nie ganz abgelegt und eine gewisse Steifigkeit und ceremoniöse Dialektik nie ganz überwinden können. Jedoch bleibt ihm das unbestrittene Verdienst, in Verbindung mit der gleichfalls von den Italiänern entlehnten Terzinenform, in welcher wohl der Graf Strachwitz das Vollendeteste leistete, zur Verfeinerung und zur höfischen Kunstweise unserer Dichtersprache Erhebliches beigetragen zu haben.
Ganz anders verhält es sich mit der Ode. Die Cultur derselben, welche
um die Mitte des vorigen Jahrhundertes ihre ersten Blüthen zeitigte, hat
wohl am meisten die Entstehung jener Unbotmäßigkeit und schrankenlosen
Licenz bewirkt, welche wir als den hervorstechenden Charakterzug der
deutschen Lyrik bezeichnen müssen. Dennoch gingen Anfangs die Meinungen
über das Wesen der Ode und ihre Behandlungsart in zwei entgegengesetzten
Richtungen auseinander. Während Klopstock die Ansicht verfocht, daß
[103] Horaz den Haupt- und Grundton der Ode durch die seinigen bis auf die
feinsten Wendungen bestimmt habe, und daß man daher den Werth einer
Ode am besten dadurch ausmachen könne, wenn man sich frage: würde Horaz
diese Materie so ausgeführt haben,
vindicirte Gottsched in seiner
"kritischen Dichtkunst" der Ode absoluteste Freiheit der Diction.
"Sie
macht nicht viel Umschweife," lautete seine Definition. "Verbindungswörter
und andere weitläufige Formeln sind ihr fremd. Sie fängt jede Strophe,
so zu reden, mit einem Sprunge an. Sie wagt neue Ausdrückungen und
Redensarten, sie versetzt in ihrer Hitze die Ordnung der Wörter. Kurz,
Alles schmeckt nach einer Begeisterung der Musen." Man sieht, daß diesmal
nicht der Dichter, sondern der Kritiker mit prophetischem Blicke das
Richtige erkannte. Wie wenig übrigens Klopstock sich in praxi an das
Horazische Odengesetz gehalten hat, wie sehr er in seinen weltberühmten
"Oden" den eigenen gewaltigen Schicksalsgang des Genies gegangen ist,
bedarf hier keiner Erörterung. Seine etwas pedantischen Grundsätze waren
wohl hauptsächlich dazu bestimmt, der fabelhaften Sturmbegeisterung,
welche die Odenfabrication eines Lange, Pyra, Ramler und Consorten in
Deutschland wachgerufen hatte, wohlthätigen Damm entgegenzusetzen.
Außer dem thatsächlichen Vorgange Klopstock's hat aber mehr als Gottsched
Herder in der
feinen und durchgreifenden Art, wie er gelegentlich der
Besprechung der Klopstock'schen "Oden" die Technik dieser Gedichtform
entwickelte, dazu beigetragen, den altrömischen Odenbann zu brechen und
die schöpferische Phantasie des Dichters als einzig würdigen Maßstab
der erhabensten Gesangesform gelten zu lassen.
Auf diese Weise würden freilich alle unterschiedlichen Kennzeichen aus den einzelnen lyrischen Dichtungsarten hinweggenommen, und die Kritik könnte sich damit begnügen, à la Koran zu definiren: ein gutes Gedicht ist ein gutes Gedicht. Aber abgesehen davon, daß auch die alte, sehr leicht kenntliche Odenform noch heutzutage bei uns in gutem Schwange ist, wie denn z. B. Julius Wolff eine vortreffliche Ode an die Octobersonne von 1874 im strengsten asklepiadeischen Versmaße gedichtet hat, so ist zu berücksichtigen, daß im Gegensatze zum Liede, welches den reinsten lyrischen Charakter hat, die moderne Ode, wie sie namentlich durch die Goethe'sche Dichtung in Fleisch und Blut der deutschen Literatur übergegangen ist, eine erhabene, feierliche Stimmung verlangt und außerdem sich mit reim- und strophenlosen Versen begnügt, deren Rhythmik keinem bekannten Gesetze unterliegt. Das Letztere ist beim Liede unmöglich, worauf wir später zurückkommen werden. Die Ode steht also ihrem Namen zum Trotze – gewissermaßen außerhalb aller prosodischen Regel. Dadurch ist indessen die Schwierigkeit der Odencomposition, was das Technische anbelangt, eher gesteigert als vermindert. Denn jener Mangel an rhythmischem Charakter ist eben nur etwas Scheinbares. In der That waltet z. B. in den großen Klopstock'schen Oden, wie "die Frühlingsfeier", "der Erbarmer", "die Glückseligkeit Aller", welche anscheinend ohne jede Rücksicht auf Metrik und Prosodie componirt sind, ein so großartiger Wohlklang ob, daß man unwillkürlich an Orgelklang und Chorgesang erinnert wird. Es ist das "hohe Lied" der Muse, zwar noch etwas starr und herb, aber charaktervoll, in majestätischer Schönheit. Nicht so erhaben, aber gefälliger und melodischer tönt aus Goethe's Munde die Odenlyrik.
Zu denjenigen Goethe'schen Gedichten, bei welchen der Odencharakter am ausgeprägtesten erscheint, gehört jene Reihe herrlicher Schöpfungen, welche in unverkennbarer Nachahmung der Klopstock'schen Muster, aber gleichzeitig freier und wirksamer im Tonfalle, entweder die höchsten Ideen der Menschheit behandeln, wie "Gesang der Geister über [104] den Wassern", "Prometheus", "Gränzen der Menschheit", "das Göttliche", oder unmittelbare Apostrophen an die Natur enthalten, wie "Wandrers Sturmlied", "Harzreise im Winter", "Seefahrt". Und dies sind denn wohl auch die Hauptrichtungen, in denen sich die Odendichtung stets bewegen wird. "Gott, Menschheit, Natur." Mit dem Unterschiede jedoch, daß die Empfindung, welche sie uns vergegenwärtigt, möglichst allgemeine und freie Ausblicke in das Universum gestatten, sich möglichst erheben muß über dem bloß individuellen Sehnen und Streben. In seiner Weise hat Heine diesen Gedanken der Ode oder des Hymnus Ausdruck gegeben in einigen Poëmen, von denen mir "der Morgengruß an das Meer" und der "Sonnenuntergang" am gelungensten scheinen.
Dennoch fehlt es auch in diesen beiden Stücken an dem richtigen Faltenwurfe der Begeisterung, des erhabenen Verzücktseins. Der Organismus der Ode verlangt nun einmal zu seiner Belebung eine etwas hochgeschraubte Phantasie. Aber eine Vorstellung, wie sie Heine in das letztgenannte Gedicht am Schlusse einfügt, "daß die armen Götter oben am Himmel trostlos unendliche Bahnen wandeln und ihr strahlendes Elend mit sich schleppen", ist so wenig ernst gemeint, daß sie eher in eine Aristophanische Parabase als in eine Ode gehört. Daß in der modernen Dichtung die Ode wenig Anhang und Anklang gefunden hat, ist aus den oben angedeuteten allgemeinen naturphilosophischen Gründen zu erklären. Dennoch ist die Hoffnung nicht aufzugeben, daß die Natur- oder Geschichtsphilosophie die Ode noch einmal zu bedeutenden literarischen Ehren bringen wird. Nur müßten dann freilich alle diejenigen Fragen und Probleme der Wissenschaft, welche heutzutage noch als dunkle Punkte unseren geistigen Horizont beängstigen, zu festen, Licht und Segen spendenden Sternen geworden sein.
Bis dahin müssen wir es freilich ruhig mit ansehen, wie die Pfahlbautentheorie oder die Entdeckung, daß die menschliche Monade sich aus einem kleinen Fischchen zu ihrer jetzigen Größe entwickelt habe, von einem Victor Scheffel oder einem streitbaren Mitarbeiter der "Fliegenden Blätter" in gerechter poetischer Entrüstung erbarmungslos gelyncht wird.
Wie die Ode sich mit einer heroischen Landschaft vergleichen läßt,
die uns durch die Großartigkeit der Naturscenerie das Bewußtsein
unserer Nichtigkeit fühlbar macht, so die Elegie
mit einem Stimmungsbilde,
auf welchem das ruhige Beharren der Elemente mit einer gewissen
Weichmüthigkeit und Traumseligkeit in Tönen und Farben verbunden ist.
Der Ausdruck "Stimmung" hat in dieser Anwendung eine eminente Bedeutung,
d. h. es kommt dabei nicht auf das Wie? der Stimmung, sondern nur darauf an,
daß Stimmung da sei. Diese Stimmung – auch
elegische Stimmung genannt –
beruht auf der eigenthümlichen Verbindung, welche zwischen der äußeren
und der inneren Natur (Menschheit) besteht. Jeder Mensch, insofern er
diesen Namen verdient, hat Augenblicke, Stunden, Tage, an denen es ihn
wie mit Gewalt nach einem möglichst unmittelbaren Verkehre mit der Natur
drängt. Ohne den Grund zu diesem Bedürfnisse oder – wie Schopenhauer
sagen würde – zu dieser Velleität des Willens genauer zu untersuchen,
behaupte ich doch, daß darin ein Theil unseres geistigen Seines liegt.
Wir können diesen Drang, dieses physische Wollen unserer Natur
ignoriren, wir können ihm jede Befriedigung versagen und es durch
fortgesetzte Vernachlässigung bis zu einem krüppelhaften Treibhausverlangen
abschwächen, ganz vertilgen werden wir es nie können. Es ist sogar im
Zusammenhange der Dinge begründet, daß der Mensch, je mehr er durch
seine sociale Lebensstellung der Natur entfremdet wird, einen desto
stärkeren Impuls
[105] empfinden wird, wenigstens den geistigen Contact mit derselben
aufrecht zu erhalten. Und in dieser Beziehung hat die Kunst die
privilegirte Mission, der rasch fortschreitenden Culturentwickelung das
Gegengewicht zu halten und durch Bilder und Gesänge die Stimmen der
Natur bis in jene hermetisch verschlossenen Kästen der Civilisation
dringen zu lassen, welche uns arme Sklaven der Freiheit gefangen
halten.
Es ist charakteristisch für unsere Zeit, daß wir die elementaren Eigenschaften der Landschaft, als Luft, Licht, oreographische und hydrographische Verhältnisse, mehr schätzen als das Miniaturleben der Pflanzen und die Detailmalerei der Genrelandschaft. Auch darin kündigt sich ein neues Zeitalter der künstlerischen Weltanschauung an, daß die Tropennatur mit ihrer verschwenderischen Pracht und ihren eigenthümlichen magisch-dämonischen Reizmitteln von unseren Dichtern und Landschaftern uns nicht nur in effigie producirt, sondern sogar der Versuch gemacht wird, die südbrasilianischen Zaubernächte auf der Bühne der norddeutschen Landschaft aufzuführen. Die Stelle, die früher Italien und die Schweiz auf unseren Kunstausstellungen und in unseren Musenalmanachen behaupten, scheint jetzt von Hinterindien, Japan und America eingenommen zu sein. Wie lange wird es dauern, und der lyrische Dichter wird in der Sahara und im Kaffernlande eben so bekannt sein wie unser trefflicher Pröhle im Harz oder Th. Fontane in den Weidenanpflanzungen und Fichtenwäldern der Mark. Hat doch Freiligrath schon mit vielem Glücke die ersten africanischen Töne auf seiner weltbewanderten Leier angeschlagen!
Was speciell das Stimmungsbild oder die Elegie betrifft, so ist das günstigste Local für sie entschieden das Heimatland. Des "Sommers letzte Rose" blüht für uns nicht an den Ufern des Ganges oder auf dem Berge Ararat, sondern an dem Hage oder in dem Busche, den wir als Kinder spielend umkreisten, und zu dem unsere alternde Phantasie stets am liebsten zurückkehrt. Der eigentliche Duft der Elegie liegt in dem tiefinnersten Zusammenhange, welcher zwischen dem Charakter eines Volkes und dem seiner landschaftlichen Umgebung besteht. Das ernste, würdevolle Schweigen der norddeutschen Ebene, das ahnungsvolle Rauschen unserer Eichenwälder, vor allem aber die unbeschreibliche Poesie unserer Mondscheinnächte, das sind echte elegische Heimatstoffe, die richtig in Scene gesetzt, mit glücklichen Bildern durchwebt, selten ihre Wirkung verfehlen werden. Von den älteren Lyrikern haben Lenau und Eichendorff die besten Stimmungslieder gedichtet; von den jüngeren möchte ich ganz besonders Rodenberg hervorheben, von dem ich einige "Nordseebilder" gelesen habe, die mir, noch ehe ich etwas Anderes von diesem Autor kannte, ein bedeutendes rhythmisches Talent und eine feine Empfindungsgabe, speciell für den elegischen Ton berechnet, gewährleisteten.
[147] Die unbestreitbare Zaubergewalt, mit der des Sängers Kunst seit
undenklichen Zeiten die wildesten Herzen besänftigt und die sanftesten
Gemüther zu heldenhaften Entschlüssen begeistert hat, beruht – wir müssen
es allen schönen Geistern und hochfliegenden Seelen zum Trotze gestehen –
viel weniger in dem, was gesungen wird, als darin, wie es
[148] gesungen wird. Von wahrhaft erstaunlicher Vielseitigkeit und
Grazie, wovon freilich viele Meister der Kunst weder Bewußtsein noch
auch Kenntniß und Einsehen haben, ist nämlich die Musik der Sprache,
d. h. die Fülle der Rhythmen und Melodien, welche in der Brust des
echten Sängers, des wahren Apollosohnes ruhen wie die schmetternden
Lieder in der Nachtigallenkehle. Die Empfindung nun, gewissermaßen das
Ohr der Seele, hört und lauscht zunächst und einzig auf den Tonfall der
Worte, auf die Silbenakustik der Strophen, und wie sich diese dem äußeren
Gehör einzuschmeicheln versieht, in gleicher Weise klingt auch die innere
Gefühlssaite wieder und giebt den Eindruck zurück oder setzt ihn fort, je
nachdem die Töne rauh und unangenehm, oder süß, verlockend und harmonisch
klingen. Der Inhalt des Gesanges, das Was? des Liedes kommt erst in
zweiter Linie in Betracht.
Von dieser Auffassung hat sich denn auch die moderne Lyrik nach dem ewig unerreichbaren Vorbilde des Altmeisters Goethe derartig durchdrungen, daß sie, nicht zufrieden mit den Rhythmen und Sangesweisen, welche das musikalische Gesetz der deutschen Sprache aus selbstgeschaffenen Tiefen hervorsprudelt, die Hände nach ausländischem Gute ausstreckte und die poetischen Schätze aller lebenden sangreichen Völkerschaften nach gelungenen Wendungen und Formen der Liederkunst durchforschte. Was haben wir nun unter "der Musik der Sprache" zu verstehen?
Es unterliegt wohl keinem begründeten Zweifel, daß der musikalische Werth der verschiedenen Sprachidiome, d. h. die Verwendbarkeit derselben zu principalen Zwecken der Musik, von höchst divergirendem Charakter, wenn schon keineswegs von symptomatischer Bedeutung für den Geist der Sprache ist.
Wer möchte das breite, mit einem fast verletzenden Aplomb auftretende Idiom England's, als dessen Grundvocal das unschöne oa überall durchklingt, im Entferntesten nur mit den süßen, sich harmonisch rundenden Lauten der italiänischen Sprache vergleichen, und wer nicht der letzteren für alle diejenigen Kunstzwecke, welche eine Unterordnung der Sprache unter die Musik erfordern, einen unbedingten Vorzug einräumen? Ja, wer möchte bestreiten, daß eine Offenbach'sche Operette einen entschieden graziöseren, eleganteren Eindruck macht, wenn sie in der Sprache der "großen Nation", als wenn sie in der viel zu ehrlich und schlicht klingenden deutschen Mundart halb gesungen und halb gekalauert wird?
Von dieser Art musikalischen Sprachcharakters soll und kann hier nicht die Rede sein. Denn mit dem bloßen conversationellen Wohlklange, welcher hauptsächlich durch die eigenthümlichen Verbindungen zwischen Consonanten und Vocalen, durch das metrische Gleichmaß und die prosodische Natur der einzelnen Wortfügungen hervorgebracht wird, ist es in der lyrischen Dichtkunst noch lange nicht gethan. Im Gegentheile! es liegt in den festen metrischen Grundgesetzen, wie wir sie z. B. in der alten lateinischen und griechischen Sprache vorfinden, ein entschiedenes Hinderniß für die Erfindung und Ausführung neuer Rhythmen und Liedweisen. Diese akademische Gesetzmäßigkeit im Sprachtone hat unter den neueren Sprachen die französische am meisten angenommen, indem sie sich des Vocalaccentes bemächtigte und die richtige Betonung nicht in den Sinn verlegte, sondern einem sehr bestimmten Gewohnheitsrechte unterwarf. Wie wenig in Folge dessen das moderne Französisch zur Ausbildung einer einfachen Liedpoesie geeignet ist, davon kann man sich eine sehr zutreffende Vorstellung verschaffen, wenn man die Chansons von Béranger mit den deutschen Liedern eines Heine, Lenau, Uhland vergleicht. Bei einem jeden der Béranger'schen Chansons ist das air (die Melodie), nach dem sie componirt [149] sind und gesungen werden können, vom Dichter selbst angegeben. Es ist also in den Chansons überhaupt kein selbständiger Liedcharakter ausgedrückt, es sind keine neu erfundenen Weisen, sondern nur Anpassungen an alte bekannte Melodien. Da aber, wo der Dichter sich bestrebt, wirklich originell zu sein, eigene Brusttöne der Empfindung anzuschlagen, wie dies in manchen Madrigalen oder Chansonnetten geschieht, zu welcher affreusen Art, die Sprache zu maltraitiren, verführt ihn da die Muse? Er durchbricht dann den akademischen Sprachbann so gründlich, daß er nicht nur nach Belieben silbenbildende Vocale fortläßt, wie z. B. in dem Verse:
"Les juges p't-êtr' f'raient notr' affaire" *)
sondern namentlich für den Refrain Ausdrücke und Stichwörter verwendet, wie:
La Farira don daine, Gai!
La Farira dondé!
oder:
zon, zon, zon; pan, pan, pan!
oder:
dig, din, don, din, digue, digue, don.
oder:
tonton, tontaine, tonton, –
Töne, die aus der höheren Lyrik verbannt sein sollten, wie das Rauchen aus Concertsalen.
Und welches sind nun die geistigen Freuden, mit denen uns die berühmte französische Lachmuse unterhält? Es ist von Lafontaine und Gresset bis auf Béranger immer derselbe Text der sinnlichen Liebe. Es ist nicht Empfindung, nicht glühendes Verlangen, nicht ausdrucksvolle Begeisterung für das Ideale, es ist die Zote in das elegante Patois der höheren Verskunst übertragen. Es ist graciöser, aber mit voller, blühender Sinnlichkeit durchsetzter Esprit.
Die Gracie oder der eigenthümliche prickelnde Reiz der Chansons liegt daher auch gar nicht in ihrem rhythmischen Gefüge, sondern in der Entwickelung des lyrischen oder richtiger erotischen Gedankens, welchem der französische Dichter trotz der Einseitigkeit des Themas stets neue galante Wendungen abzugewinnen versteht.
Die volle Freiheit der musikalischen Erfindung ist ein eigenthümlicher
Vorzug, den die deutsche Sprache ihren Dichtern gewährt. Eine geistreiche
Französin, Mdme de Staël in "Sur l'Allemagne",
hat bekanntlich behauptet,
daß das Versmachen im Deutschen leichter sei, als das Prosaschreiben.
So ausgedrückt, läßt sich gegen die Behauptung wenig sagen. Jedoch liegt
das Mißverständniß nahe, daß mit Versmachen poetische Bildnerei gemeint
sei, und in diesem Verstande ist die Behauptung entschieden falsch. Wir
werden der Wahrheit vielmehr sehr nahe kommen, wenn wir den
entgegengelegten Grundsatz aufstellen, daß das zwanglose Wesen der
deutschen Sprache selbst dem begabtesten Lyriker die größten
Schwierigkeiten bereitet. Freilich ist auch gerade in diesem zwanglosen
Wesen die einzige Möglichteit einer wirklich originellen, den höchsten
Schwung der Begeisterung erreichenden Liedpoesie geschaffen.
Die Tendenz des musikalischen Elementes in der Sprache geht nämlich dahin, den Rhythmus selbst zu einem Tongesetze der Empfindung zu machen, d. h. Längen und Kürzen, Hebungen und Senkungen, Cäsuren, Assonanzen, Alliterationen u. s. w. derartig [150] zu vertheilen und anzubringen, daß jener unaussprechliche, undefinirbare Zauber, mit der die Musik das Chaos unserer Gefühle in einen Kosmos der vollendetsten Art verwandelt, der Sprache als solcher, dem Tonfalle und dem akustischen Timbre der gebundenen Rede verliehen werde. Es könnte scheinen, als ob damit die Stellung des lyrischen Dichters zu der eines bloßen Librettoschreibers für den Liedcomponisten herabgewürdigt werden sollte. Dem ist indessen nicht so. Die Musik der Sprache, wie sie in der Liedpoesie zum Ausdrucke kommt, steht meines Erachtens unglaublich viel höher als die Kunst der bloßen mechanischen Töne.
"Zeus hat den Aar, der Dichter den Gedanken." An diesen Satz halte ich mich. Der Dichter hat den Gedanken. Der Gedanke zündet in des Menschen Brust, und zwar nicht der musikalische Gedanke – worunter ich mir überhaupt Nichts denken kann –, sondern vielmehr die mit klaren Worten ausgedrückte Erkenntniß einer bestimmten, für die Empfindung oder das Gemüthsleben des Menschen interessanten Thatsache. Denn man wolle ja nicht übersehen, daß die Brust oder das Herz des Dichters, abgesehen von seinem musikalischen Empfindungsvermögen, keineswegs ein Asyl ist für allen möglichen halbblödsinnigen Gefühlsballast, der anderwärts nicht unterzubringen ist. Man wolle doch ja bedenken, daß die Phantasie die Königin der menschlichen Fähigkeiten ist, und daß zur Verfassung eines guten Gedichtes außer anderen excentrischen Geistern doch auch die Logik und zwar die Logik in ihrer höchsten Potenz ihren ganz speciellen Segen gegeben haben muß. Wenn Wieland in die übliche Anrufung der Muse die Worte mischt:
"Wie lieblich um meinen entfesselten Busen derholde Wahnsinnspielt",
so liegt hier der Nachdruck offenbar auf "hold" und nicht
auf "Wahnsinn".
Wenn mir Jemand aber z. B. die bekannten Verse von Karl Beck:
"Abfiel von mir
Mein eigenes Leid.
Ich trinke meine ganze Seele
Der Menschheit zu"
als einen Beweis anführen wollte, wohin die dichterische Lyrik führen kann, und daß, wollte man an dieser Lyrik das Thun und Treiben der übrigen Menschheit messen, oder in Schulen und Universitäten darnach Unterricht ertheilen lassen, sehr bald der "siegende Unsinn" Talbot's auf die Tagesordnung kommen würde, so könnte ich darauf nur erwidern: Es ist mit der dichterischen Logik gerade wie mit jeder anderen. Es giebt nichts Unsinnigeres, als nach einem logischen Handbuche denken lernen zu wollen. Eben so, wem die Anlage zur Begeisterung fehlt, der wird sie nicht aus der Lectüre eines Gedichtes schöpfen. Die Letztere wird ihm vielleicht einen kritischen Geschmack auf der Zunge zurücklassen, aber den Teufel der Prosa wird sie nicht austreiben. Dazu gehören stärkere Mittel. Was aber speciell die Logik in der Poesie anbetrifft, so läßt sich dieselbe gerade an den oben citirten Beck'schen Versen sehr deutlich nachweisen. Die Strophe ist aus einem größeren Gedichte, in welchem der Verfasser einen kurzen biographischen Abriß seines geistigen Entwickelungsganges giebt. In's Prosaische übersetzt würde der Gedanke etwa so lauten: "Ich bin durch meine bisherigen Erfahrungen zu der Erkenntiß gelangt, daß der Dichter, um seinen Beruf ganz zu erfüllen, sich nur in Abhängigkeit zu denken habe von dem größten Publicum der Menschheit." Dieser streng logische Gedanke läßt sich ganz gewiß auf höchst verschiedene Art poetisch gestalten. Die Beck'sche [151] Ausdrucksweise ist meines Dafürhaltens im höchsten Grade gelungen. Wie schön ist namentlich das Zeitwort: "zutrinken"! Zug für Zug, Tropfen für Tropfen will der Dichter seine Seele zum Opfer bringen. Und hat er etwa nicht Wort gehalten? Wer hat mit feurigeren Zungen die Rettung des Himmels herbeigefleht für die Armen und Elenden, wer mit gleich unerschrockener Faust an die Thüren der Reichen und Vornehmen gepocht?! In welchem menschlich fühlenden Herzen hätten nicht die "Lieder vom armen Manne" ein tief einschneidendes Weh hinterlassen, einen Drang nach Wohlthätigkeit, eine flammende Begierde, sein Scherflein beizutragen zur Linderung der Noth, welche Tausende und aber Tausende unserer Mitlebenden zu einem menschenunwürdigen Dasein verdammt?
Und bist du nur ein Glöcklein,
Frisch auf, frisch auf, mein Sang!
Es stürzt auch die Lawine
Bei eines Glöckleins Klang.
Auch dieser Logik Hoffmann's von Fallersleben ließe sich vom Standpunkte der gepanzerten Denkerstirn der Einwand entgegensetzen, daß sich mit schönen wohlklingenden Versen kein Hund vom Ofen locken läßt. "Ein Blitz in Worten trifft noch nicht. Wohl röthet er des Sklaven Wange, Doch seine Ketten schmilzt er nicht." Aber das Eis, das sich um die Herzen der Menschen lagert und sie oft zu schlimmeren Dingen verführt als das Feuer der Leidenschaft, das kann er schmelzen. Er kann den Strom entfesseln, wenn er auch seinem Laufe nicht gebieten und den dahinstürmenden nicht wieder aufhalten kann. Die Marseillaise tobte einst gleich einem Orcane durch die Welt: die Logik der entfesselten Volksleidenschaften. Damit hatte sie ihre Mission erfült: sie wollte niederreißen. Die Logik des aufbauenden Verstandes bleibt einer andern Zeit vorbehalten.
Einer solchen Logik, einer so hinreißenden Gewalt des Gedankens ist die musikalische Composition nicht fähig. Die Begeisterung, die sie erweckt, ist eine unbestimmte, meistens allzuweich und schwärmerisch, um die Thatenlust zu erwecken. Und darum sage ich: die Dichtkunst ist eine höhere Potenz der Musik.
Aber auch in dem ganz trivialen Sinne, für welchen der studentische Witz den Ausdruck "Sommerlogik" erfunden hat, muß die lyrische Poesie sich als hieb- und stichfest erweisen. Es gilt dies namentlich von der Consequenz der Gleichnisse. Das "Herausfallen aus dem Bilde" ist einer der größten Fehler, dessen sich der Lieddichter schuldig machen kann. Der Gedanke mag noch so schön und gut sein, selbst durch die leiseste Verschiebung der Glieder wird der Eindruck vollkommen zerstört: ein Beweis, daß Phantasie und Verstand auf demselben Rechtsboden stehen, nur daß Erstere das Privilegium der Intuition für sich hat. Ein Drama, ein Epos kann an mannichfachen Gebrechen leiden, verfehlt und verschroben sein in der Anlage, verzeichnet in den Charakteren, kurz, von durchaus mittelmäßiger Beschaffenheit, und doch eine gute Wirkung thun. Der Grund ist, weil bei der universalen Natur beider Dichtungsarten der Verfasser, wenn er sich nur einigermaßen auf den Effect versteht, Gelegenheit genug finden wird, die vorhandenen Mängel zu verdecken und durch irgend welche Mittel, mögen dieselben aus einem noch so entlegenen Winkel der Einbildungskraft hergeholt sein, das Interesse des Lesers oder Zuschauers zu erwecken. Das ist im lyrischen Fache unmöglich. Ein Lied ist entweder gut oder schlecht. Ein einziger Fehler verdirbt seine ganze Wirkung. Da [152] darf nichts Dunkles und Kleinliches mitunterlaufen. Leuchtende Klarheit muß ihm aus den Augen strahlen, damit sein Blid in unser Herz dringe.
Das Lied ist der Demant der Poesie. Seine Fassung, schlicht und unscheinbar in der Hand des Volkes, wird von der höchsten Bedeutung, sobald sich die Kunst seiner bemächtigt und die Krone der Dichterfürsten damit schmückt.
Die Fassung eines Liedes ist sein musikalischer Werthcharakter. Ich habe bereits oben angedeutet, in wiefern durch die Musik der Sprache, deren geheimste, sich ewig erneuernde, nie zu erschöpfende Nachtigallenmelodik nur die Brust des Dichters kennt, die musikalische Composition eines Liedes gewissermaßen ihre Directive erhält; dennoch wird das Verhältniß des Lieddichters zum Componisten stäts einen räthselhaften, kritisch unlöslichen Charakter behalten. Die Gesetze, nach denen sich die musikalische Wiedergabe des dichterischen Gedankens zu vollziehen hat, werden stets ein Geheimniß des Genies bleiben. Die ästhetische Kritik kann höchstens berechnen, ob eine bestimmte Composition sich auf ungefähr gleicher Höhe mit dem Texte des Liedes erhält, sie kann den tonkünstlerischen Werth der Ersteren abwägen und feststellen, aber von der Frage, ob der Gedanke des Dichters die Ursache oder die Veranlassung der Composition gewesen, ob diese überhaupt im strengen Sinne eine eigene Production oder nur eine Transposition zu nennen ist, wird sie als vor einem arcanum der Conception in bescheidenem Stillschweigen sich zurückziehen müssen.
Daß eine intime Wahlverwandtschaft zwischen Liederdichtung und
Composition besteht, läßt der fast organische Zusammenhang beider
Seiten der Sangeskunst, wie er in den mittelalterlichen Minneliedern
zur Erscheinung kam und noch heute in der Volkspoesie existirt, am
deutlichsten erkennen. Bei den meisten unserer Volkslieder ist es
absolut unmöglich, nachzuweisen, ob die Melodie oder der Tert das
Recht der Erstgeburt beanspruchen darf. Es ist daher wohl die Annahme
gerechtfertigt, daß Dichter und Componist entweder factisch ein und
dieselbe Person waren oder frühzeitig genug zu der Einsicht gelangten,
daß keiner von ihnen etwas dabei verlöre, wenn ihre Schöpfungen vom
Volke als aus einer Quelle herrührend behandelt wurden. Diese
Erscheinung läßt klar erkennen, wie das Volk über unsere Rivalitätsfrage
denkt. Wo sich ein guter Text findet, da wird es auch an einer sangbaren
Melodie nicht fehlen, und umgekehrt. Einer bekannten Melodie, die man
längst gesungen oder gepfiffen hat, deren ursprünglichen Text aber
Niemand mehr kennt, werden neue Reime untergelegt: ein wandernder
Handwerksbursche erfindet den ersten Vers, ein Soldat den zweiten
u. s. f., bis das Lied fertig ist. So entstand, als unsre märkischen
Regimenter im Jahre 1866 nach Böhmen hineinmarschirten, jenes wunderbare
Volkslied, das seitdem zu einem beliebten Gassenhauer geworden ist:
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer,
Ob sie gleich die erste ist.
Und mein Liebchen macht mir keinen Kummer,
Ob sie gleich die schönste ist.
Ach! wie wird es uns so schwer, auseinanderzugehn,
Wenn die Hoffnung nicht wär' auf ein Wiedersehn. Lebe wohl etc.
Lied und Melodie waren da, als wären sie plötzlich aus der Erde hervorgewachsen. Sie paßten auch ganz vortrefflich zu einander oder wurden doch – Dank dem Marschtempo, als dem maßgeblichen praktischen Gesichtspunkte – so passend gemacht, wie wir sie jetzt vor uns haben.
[153] Es ist dies ein charakteristischer Zug des Volksliedes, daß es, wenn schon fein und sinnig in der Empfindung, doch auf äußeren Schmuck nicht viel giebt und insbesondere vor einer etwas gewaltsamen Handhabung der Sprachgesetze niemals zurückscheut. Das Volk ist darin dem echten Rheinweintrinker zu vergleichen. Der Duft, die Blume des Getränkes ist die Hauptsache, aus welchen Gefäßen es getrunken wird, welche Etiquette die Flasche hat, bleibt Nebensache.
Den ächten Volksliederton hat von allen unseren Dichtern am meisten
Goethe getroffen. Und in dieser Eigenschaft der Goethe'schen Lieder
liegt, glaube ich, ihre vorzügliche Compositionsfähigkeit. Schlicht,
einfach, von ächter Naturfärbung, dabei originell, neu, überraschend,
markig und duftig, zart und kräftig, gleich verständlich für Hoch und
Niedrig, für jede Lebenslage passend, bilden sie recht eigentlich den
Nibelungenschatz unserer Dichtkunst oder vielmehr der Weltliteratur.
Denn wohin wären Goethe'sche Lieder nicht gedrungen?! Welcher Winkel
der civilisirten Erde wäre abgelegen genug, um nicht wenigstens durch
einen Sonnenstrahl goethe'scher Dichtung erfreut zu werden?
Neben Goethe Schiller nicht zu nennen, könnte als Vermessenheit erscheinen, wäre nicht gerade im Punkte der Liederdichtung die Inferiorität Schiller's eine derartig notorische, daß die Frage gerechtfertigt erscheint, ob sich unter den sämmtlichen Schiller'schen Gedichten überhaupt eines befindet, welches auf den Namen Lied Anspruch machen kann. Diejenigen Gedichte, in denen das lyrische Element am entschiedensten vorherscht, wie "des Mädchens Klage", "der Jüngling am Bache", "der Pilgrim", "Sehnsucht", zeigen gerade am deutlichsten, warum es Schiller versagt war, jenes Höchste in der Liederkunst zu leisten, wovon es heißt:
"Bilde Künstler, rede nicht,
Nur ein Hauch sei dein Gedicht."
Der dramatische Athemzug Schiller's konnte sich nicht so weit mäßigen, um gleich einem kaum merklichen Frühlingslüftchen nur die äußersten Spitzen unserer Gefühle in Bewegung zu setzen. Der leidenschaftliche Gedanke riß ihn hin, und aus der Empfindung wurde handelndes Denken. Alles gestaltete sich ihm zur Scenerie: seine Gedichte haben daher alle das charakteristische Tempo des Declamatorischen.
Wenn wir vorhin die Volksmäßigkeit der Goethe'schen Lyrik betonten, so wissen wir sehr wohl, daß wir damit ihre Vorzüge keineswegs erschöpft haben. Wenn wir uns aber ungefähr vergegenwärtigen, was wir unter Volksmäßigkeit zu verstehen haben, so dürfte damit unsere Hauptthemafrage recht eigentlich, in's Enge gebracht sein. Wie Jemand den Begriff Volk auffaßt, ist in gewissem Sinne bezeichnend für seine sociale Stellung. Die arbeitenden Klassen nennen sich mit Vorliebe. das Volk und glauben dazu berechtigt zu sein, weil sie, wenigstens in den großen Centren der Civilisation, das numerische Uebergewicht für sich haben und ein gewisser Bruchtheil der politischen Presse es für seine Aufgabe hält, den Ausdruck Volk zuweilen als ein wirksames quos ego! in die Spalten eines Leitartikels zu mischen. Aus diesem Volke recrutirt sich der Straßenpöbel der großen Fabrik- und Handelsstätte, und kein Dichter ist jemals bei dem Pöbel weniger bekannt oder gar beliebt gewesen als Goethe. Der Pöbel, wenn er vergnügt ist, singt keine Lieder, sondern brüllt Gassenhauer oder lallt Bruchstücke aus einem Zotencouplet. Eine andere Art der Popularität ist die der Bänkelsängerei. Man hört wohl hin und wieder die Ansicht äußern, derjenige Dichter oder Componist sei der populärste, dessen Lieder oder Tonsätze die schnellste und gründlichste [154] Verbreitung durch das Medium des Leierkastens oder der Ziehharmonica erlangen. Eine Erscheinungsform der Volksthümlichkeit ist die Stimme des zigeunernden Bardenthums gewiß; aber es ist gefährlich, von dieser Erscheinungsform einen Rückschluß zu machen auf den Vollkommenheitsgrad dessen, was uns in dieser trüben Atmosphäre geboten wird. Es ist darunter eben so viel Schund wie gute Waare. Neben Goethe und Heine erscheint der "Champagnerkarl" oder irgend ein lüsterner Tingel-Tangel-Walzer. Das sicherste Kriterium des Volksmäßigen ist und bleibt, "Höchstes und Bestes zu leisten in der verständlichsten Form". Auf einer ganz falschen Fährte aber befindet sich der Dichter, wenn er glaubt, um Volksgunst zu erlangen, die Ideen und Empfindungen, welche eine verkehrte Weltanschauung den höheren Gesellschaftsklassen als exclusives Besitzthum vindicirt, durch irgend welche trivale Beimischungen dem niedrigeren socialen Bewußtsein schmackhaft zu machen. Goethe, Heine, Eichendorff haben an dergleichen imitirte Volksliederkunst sicherlich am allerwenigsten gedacht. Sie ließen eben in der freien Natur oder doch im Sinne derselben ihre Lieder erschallen. Das verdünnte Salonparfüm kam erst unter den Romantikern in die Mode und gehörte zu ihren schlechtesten Gewohnheiten.
Die ächte Volkspoesie steht mindestens auf gleicher Höhe mit der höfischen oder der sogenannten Kunstlyrik, ja sie ist im eigentlichen Sinne die Fortsetzung oder Neubildung derselben, da das Volk – und darunter werden wir denn wohl alle Deutschen verstehen dürfen, die sich Eins fühlen in dem Gedanken an unser herrliches Vaterland, – die Erbschaft der bevorzugten Klassen des Mittelalters längst angetreten hat.
Aber darin beweist sich nun wieder die unendliche Vielseitigkeit der edlen Sangeskunst, daß sie auch ohne volksthümlichen Boden, gewissermaßen als ein Kind des reineren Aethers, wo die schönen Seelen wohnen, eine sehr berechtigte Existenz führen kann. Wir haben sehr viele und sehr gute Lieder in unseren Dichteralbums, die doch keineswegs populären Charakters sind. Ja, einer unserer vorzüglichsten Liederdichter ist mit seiner tief empfundenen, zuweilen von einer tragischen Schwermuth durchfurchten Sangesweise niemals über den engen Kreis derer hinausgedrungen, für welche die Blüthen der Poesie wirkliche Nahrungsstoffe des geistigen Lebens sind. Das "Mantellied" hat den Namen Holtei's, die "Soldatenliebe« das Andenken Hauff's in das Herz des Volkes mit unsterblichen Zügen eingegraben. Ja sogar Kotzebue's "Es kann ja nicht immer so bleiben hier unter dem wechselnden Mond" ist Eigenthum unserer sangesfreudigen Jugend geworden. Lenau's "Schilflieder" dagegen, seine "drei Zigeuner,« seine "Haideschenke«, diese ächtesten Perlen deutscher Dichtung, wer schätzt sie heute noch nach ihrem wahren Werthe, ja wer hat überhaupt noch ein Verständniß für die schmerzhaften Regungen einer Dichterbrust, welche das Weltleid in seinem ganzen Umfange auf sich nimmt und hegt und pflegt wie die Mutter ihr krankes Kind. Es ist wahr, die Lenau'schen Poesien haben vermöge der Isolirung und Outrirung des Gefühles, durch die der Dichter seiner Weltflucht das Gegengewicht zu halten bestrebt ist, einen vorwiegend leidenden Charakter. Aber sie sind doch himmelweit verschieden von und erhaben über jener modernen Lazarethpoesie, welche mit nicht empfundenen Schmerzen coquettirt oder Krokodilsthränen vergießt über ein verlorenes Menschenherz, das sie nie besessen. Die Wahrheit allein macht schön. Die Wahrheit des Schmerzes aber, welche vielen der besten Lenau'schen Lieder ein geisterhaft bleichendes Aussehen verleiht, ist ein Vorzug vornehmer Charaktere. Darum ist Lenau der Dichter der geistigen Aristokratie.
Nach einer anderen Richtung haben Platen, Rückert und in neurer Zeit Bodenstedt [155] dem deutschen Liede eine gewisse weltmännische Tournüre zu verleihen gesucht. Alle drei haben mit Vorliebe den bereits von Goethe betretenen Weg zu den poetischen Schätzen des Morgenlandes verfolgt und die Reichthümer Persien's, Indien's und Armenien's mit glücklichem Eroberungsgeist auf den Boden der deutschen Dichtung übertragen. Im Princip ist eine solche Tendenz vollauf berechtigt. Sie bildet einen wohlthätigen Contrast gegen den Bummellied- und Gassenhauerton, welcher einst unkrautartig gewisse Stellen unserer Literatur überwucherte. Aber sie bedarf doch auch des Maßes und der Einschränkung. Mir wenigstens will es scheinen, als ob z. B. der berühmte Rückert'sche "Liebesfrühling" durch das allzukünstliche und zierliche Ausfeilen der Form sehr oft in Gefahr geräth, den Eindruck der Spielerei zu machen. Auch in den schönen Mirza-Schaffy-Liedern von Bodenstedt ist diese Gefahr nicht gänzlich vermieden. Die übertriebene Glätte der Form verursacht Härten der Empfindung, welche dem eingeborenen deutschen Liede fremd sind.
Am Schlusse dieser Betrachtung bemerke ich zu meinem Schrecken, daß ich einiger unserer besten Neulyriker auch nicht mit einem Sterbenswörtchen Erwähnung gethan habe. Die vortrefflichen Leistungen der Möricke, Sturm, Storm, Lingg, Träger, Rittershaus, Gerok u. a. verdienen in einem besonderen Capitel beleuchtet zu werden: eben so das plattdeutsche Lied und seine beiden Hauptvertreter: Groth und Eggers. Ich behalte mir vor, hierüber so wie über die bedeutsame Form des politischen Liedes, dessen Anfänge in die vormärzliche Sturm- und Drangperiode fallen, den geneigten Leser in einem – wenn wünschenswerth – bald zu veröffentlichten Nachtragsartikel zu unterhalten.
[Fußnote, S. 149]
*) Complainte d'une de ces demoiselles. Chansons, vol. I.
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Erstdruck und Druckvorlage
Deutsche Warte.
Umschau über das Leben und Schaffen der Gegenwart.
Bd. 9, 1875:
Zweites Juliheft, S. 94-105
Erstes Augustheft, S. 147-155.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer