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Editionsbericht
Literatur: Raeder
Literatur: Der Bazar
Von England aus wurde vor einigen Jahren der poetischen Literatur eine Dichtung
zugeführt, die unzweifelhaft zu den hervorragendsten Schöpfungen dieser Art
zu zählen ist und die Gemüther der Nachwelt nicht weniger ergreifen wird,
als die der Gegenwart. Wir meinen das rührende Fischer-Idyll: "Enoch Arden",
von Tennyson. Gering an Umfang, birgt es eine unerschöpfliche Fülle
dichterischer Schönheiten in sich, im engsten Rahmen die fesselndsten Bilder
des menschlichen Herzens. – Enoch Arden, eines Seemanns Kind, und Philipp Ray,
des Müllers einziger Sohn, sind Jugendgespiele von Annie Lee, dem
niedlichsten kleinen Mädchen im Dorf am Strande.
Als die Rosendämmerung der Kindheit
schwindet, und die Gluth der Lebenssonne Beider Herz durchflammt, entbrennen
auch Beider Herzen für dieses eine Mädchen. Aber Annie liebt nur Enoch Arden,
reicht ihm die Hand und wird glücklich mit ihm, während Philipp "der
lebenslangen Sehnsucht Weh im Herzen trägt". Im siebenten Jahr der Ehe
treibt indessen die Sorge für Weib und Kinder den Schiffer Enoch Arden in
die Ferne; er will in fremden Ländern verdienen und sparen, um seinen
heranwachsenden Kindern eine bessere Erziehung verschaffen zu können.
Sein Weib liebt ihn unsäglich, sie widerstrebt seinem Vorhaben, aber er
tröstet sie:
"Mein Weib, sei muthig und getrost,
Sieh nach den Kleinen, und bis heim ich kehre,
Halt. Alles wohl in Stand, denn ich muß fort.
Sorg' nicht um mich mehr, oder wenn Du sorgst,
Wirf Deine Sorg auf Gott;der Ankerhält.
Ist Er nicht dort in jenem fernsten Theil
Des Ostens? Wenn ich dorthin auch entfliehe,
Enteil' ich jemals Ihm? Das Meer ist Sein,
Das Meer ist Sein – Er schuf's."
Mit der Sorge für die Kinder und einem für das Leben kümmerlich zureichenden Handelsgeschäft bleibt Annie daheim. Aber die Rückkehr des Mannes verzögert sich, das Geschäft geht zurück, schon "entflieht die jüngste Seele himmelwärts, wie jäh ein Vöglein aus dem Käfig flieht", und das Unglück steht an der Schwelle der ärmlichen Hütte.
Da wird Philipp, der inzwischen reich geworden, zum Retter der Familie. Er trifft Annie wieder – er, der nur bedacht auf ihren Frieden war – und sie, seit Enoch fortgegangen, nicht gesehn. – Er bittet die Trauernde um die Gunst, für die Kinder, den Stolz ihres Vaters, zu sorgen. Nur mit Zögern gewährt sie es ihm. Aber Enoch kehrt nicht zurück, schon sind zehn Jahre vergangen, und im Herzen Philipp's ist das Jugendfeuer wieder aufgelodert. Er faßt neuen Muth und bittet Annie, sein Weib zu werden; doch Annie erwiedert mit sanftem Ton:
"Du warst ein Engel Gottes unserm Haus,
Gott segne, Gott belohne Dich dafür
Mit einem Wesen, glücklicher, als ich.
Vermag ein Mensch zum zweiten Mal zu lieben?
Kann ich Dich lieben, wie ich ihn geliebt?
Was ist's, das Du begehrst?
"Ich bin's zufrieden," versetzt Philipp, "wenn nach Enoch nur Du mich ein wenig liebst." "O," ruft sie aus, geängstigt,
" – lieber Philipp, wart ein Weilchen!
Wenn Enoch kommt – doch Enoch kommt wohl nie –
Ach, wart' ein Jahr, ein Jahr ist nicht so lang,
In einem Jahr werd' ich verständ'ger sein;
O, wart' ein Weilchen!
Philipp antwortet trüb:
"Annie, da ich mein Leben lang gewartet,
Kann ich's auch länger noch.
"Nein," ruft sie aus:
"Du hast mein Wort, es sei – in einem Jahr!
Willst Du nicht Dein Jahr tragen, wie ich meines?
Und Philipp spricht: "Ich will mein Jahr ertragen."
Dies Jahr verrinnt, ja noch mehr, und Annie wird endlich Philipp's Weib, mit "nimmer heiterem Herz". Eine Ahnung lebt in ihr, eine Aengstigung, die sich erst verliert, als sie ihrem zweiten Manne ein Kind schenkt.
Aber Enoch Arden lebt noch. Er hatte Schiffbruch erlitten, war verschlagen und kehrt jetzt, da der Zufall ihm die heißersehnte Gelegenheit verschaffte, nach unsäglichen Leiden frühergraut und unerkannt zurück in die Heimath. Unerkannt! So erfährt er sein Unglück daheim, wo er das verloren gegangene Glück wiederzufinden hoffte; er sieht es mit eigenen Augen, ach, und muß sich überzeugen, daß der neue Kreis seines Weibes ein glücklicher ist, daß Philipp geliebt wird, daß seine eigenen Kinder an diesem hängen. Da erfaßt ihn unendlicher Schmerz, er stiehlt sich "leise" hinweg und findet nur in einem Gebete zu Gott die Kraft wieder, nach der er in noch nicht erloschener Liebe zu Annie ringt:
gib mir Kraft,.
Ihrs nicht zu sagen, daß sie's nie erfahre.
Hilf mir, daß heilig mir ihr Friede sei
Darf ich auch nicht zu meinen Kindern reden?
Sie kennen mich nicht – ich verriethe mich
Kein Vaterkuß dem Mädchen, das der Mutter
So gleich ist, noch dem Knaben, meinem Sohn!
Mit diesem verzweiflungsvollen Entschluß sucht Enoch Arden Arbeit im Hafen und verdient sich ein kärglich Brot, ohne Lebenskraft zu gewinnen, "da er hoffnungslos für sich allein nur schaffte". So winkt ihm der Tod, das Ende alles Leids. Vor seinem letzten Weggang aber sendet er an Annie als Abschiedsgruß und Erkennungszeichen die einst in die Ferne als Andenken mitgenommene Haarlocke seines Kindes, das ihm schon vor Jahren in die Ewigkeit vorangegangen.
Unbeschreiblich ist die Kunst des Dichters, mit welcher er diese einfache Geschichte vertieft hat, wie psychologisch er die Gefühle, die Leidenschaften im Herzen des Mannes und Weibes bloslegt, wie charakteristisch er in den Schilderungen der Personen, der Landschaft und Staffage verfährt, welche tiefen Gemüthsseiten der menschlichen Natur er uns erkennen läßt.
Wird daher der Schöpfer dieses Kunstwerks, Alfred Tennyson, heute unter
den ersten Dichtern der Gegenwart genannt, so verdient er diesen Ruhm
in vollem Maß
Nicht im Sturme hat der Dichter die Welt erobert. Geboren 1810 zu Somersby, zählt er heute bereits 61 Jahre. Von seiner Jugendzeit, wie überhaupt aus seinem Leben ist wenig bekannt. Als Sohn eines Geistlichen und einer Mutter, die ebenfalls aus einer geistlichen Familie stammte, mag er eine Erziehung genossen haben, die jene Eigenschaften des Ernstes, der Tiefe, der Beschaulichkeit zeitigte, der wir in fast allen Dichtungen Tennyson's begegnen. Als Student der Hochschule zu Cambridge veröffentlichte er 1830 die ersten Gedichte, nachdem bereits ein Preisgedicht seiner Feder Aufsehen erregt hatte. Aber die Kritik behandelte die dichterischen Ergüsse des jungen Studenten, wie einst die Edinburger Reviewer die des jugendlichen Byron. Während nun Byron seine Gegner mit Spott und Satire überschüttete, legte Alfred Tennyson drei Jahre später einen neuen Band poetischer Versuche vor, der aber nicht minder schroffe Beurtheiler fand.
Da zeigte sich, daß die Geißel der Kritik eine echte ringende Dichterseele getroffen, vielleicht verwundet hatte. Tennyson warf seine bisherigen Arbeiten in das Feuer und schwieg. Er schwieg fast 10 Jahre. Welche Klärung, welches Wachsen der dichterischen Kraft in ihm mittlerweile vorgegangen war, bewies er im Jahre 1842, als er zuerst wieder 2 Bände Gedichte veröffentlichte. Jetzt schwieg die Kritik. Man staunte, bewunderte, und Tennyson, vom Jüngling zum Mann herangereift, wurde in England als ein Dichter erkannt, der berufen sei, an die Spitze der poetischen Bewegung zu treten.
Jene Gedichte bestehen in Legenden, Balladen nach schottischer Art, welche
alle Accorde und Disaccorde der Liebe und
der Liebesleidenschaften erklingen lassen, lyrischen
Ergüssen, Trauergesängen und Klagen über die Vergänglichkeit des Lebens,
Zornesrufen über den Materialismus der Gegenwart, epischen Erzähungen und
Naturschilderungen, auch didaktisch gehaltenen Gedichten, Visionen,
Phantasien und Allegorien. Sie zeigen den Dichter in den verschiedensten
Richtungen, bewundernswerth in der Form und Sprachgewalt, die namentlich
da, wo die Natur selbst hörbar wird, eine großartige musikalische
Reproductionsgabe bekundet und allen Naturschilderungen, denen sich der
Dichter mit Vorliebe bei jeder Gelegenheit zuwendet, einen unendlich
tiefen Reiz verleiht. Diese Naturscenen, in denen das englische Eiland,
das Moor- und Dünenleben (der sterbende Schwan), besonders das Meer in
eigenthümlichen Farben und Tönen vorgeführt werden, bringen den Dichter in
Zusammenhang mit jener berühmten Schule der "Laker", der Seepoeten, die im
Anfang dieses Jahrhunderts in England hervortrat, während die Aufnahme
moderner Elemente, das Empfinden für die Bedürfnisse der Gegenwart, der Drang
am Glücke der Menschen mitzuhelfen, an diesem Glück nicht zu verzweifeln
und und menschliche Natur in ihrer Stärke und von ihrer edelsten Seite aus
vorzuführen, Tennyson weit ab von der Richtung Lord Byron's führten und es
allerdings gerechtfertigt erscheinen lassen, wenn der Historiker Alison
behauptete, daß Tennyson der englischen Poesie eine neue Ader entdeckt habe.
In den anziehenden epischen Erzählungen Tennyson's,
z. B. Dora, die als Weib eine
ähnliche Erscheinung ist, wie Enoch Arden als Mann, und mit der größten
Selbstverleugnung das Glück derjenigen, um derenwillen sie verschmäht wurde,
fördern hilft, tritt der für Tennyson höchst charakteristische Zug am meisten
zu Tage, im Kampfe des Lebens auf eigenes Glück zu verzichten oder vielmehr
das höchste Glück nur im Glücke Anderer zu suchen und zu finden. Einem goldenen
Sonnenstrahle gleich zieht sich diese in der That moderne Anschauung durch
alle Dichtungen Tennyson's und verleiht auch
seiner mehrfach angehauchten philosophischen Lyrik
eine nicht abzuleugnende Tiefe, einen sittlichen Heroismus, der an und für
sich bewunderungswürdig genug erscheint in einer Zeit, die, wie der Dichter
selbst sagt:
statt des Wie nur fragt nach dem Wieviel
Und gleich Blutegeln gierig schreit: "Gieb her,
Her, was Du hast!"
Nur in längeren Pausen kehrte Tennyson, der inzwischen sich glücklich verheirathete, mit poetischen Schöpfungen zur Oeffentlichkeit zurück, 1847 mit einem "Medley" d. i. Gemisch, benannt "die Prinzessin". Er "mischte" darin Modernes und Romantisches, um, angeregt durch durch die Zeitfrage von den Rechten des Weibes eine neue "Bezähmung der Widerspenstigen" vorzuführen. Das tiefste Gemüth sprach 1850 aus einem Cyklus von Trauergesängen (In Memoriam) über den Tod eines geliebten Freundes, die schon dadurch hervorragen, daß die Virtuosität des Poeten einem einzigen Objecte unerschöpflich neue Seiten abzugewinnen wußte. Tennyson erhielt damals von der Königin Victoria, einer seiner wärmsten Bewunderinnen, die Würde des poeta laureatus, die vor ihm Wordsworth und Southey eingenommen hatten. Diese Hofstellung ließ mehrere wirkungsvolle Oden entstehen, auf den Tod des Herzogs von Wellington u. A., ohne des Poeten Begeisterung für die Freiheit zu beeinträchtigen. Sang er doch selber von seinem heißgeliebten Vaterlande, daß er es verlassen würde:
Verfolgte je ein Schergenbund
Die Meinung, käm' ein Tag am End',
Wo man Gedanken Frevel nennt,
Dem freien Manne schließt den Mund. –
Auch der Krimkrieg ging nicht vorüber, ohne seiner ernst gestimmten Leyer ergreifende Klänge zu entlocken (Maud, 1855) und ihn zu eigenthümlich originellen Schilderungen von Kriegskämpfen anzuregen. In dieser Hinsicht sticht besonders sein "Reiterangriff auf Balaclava" hervor. Als die Perle der Dichtungen Alfred Tennyson's wird indessen immer das oben vorgeführte überaus kunstvolle Fischer-Idyll "Enoch Arden" bezeichnet werden müssen, welches neuerdings auch in Deutschland durch Uebersetzungen von Adolf Strodtmann (Tennyson's ausgewählte Dichtungen 1867) und Robert Waldmüller (1870) populär geworden ist und die glänzenden Eigenschaften des Dichters am klarsten darlegt. Auf den Genius Tennyson's, auf sein Streben, auf seine Richtung kann nur angewendet werden, was er selbst vom Dichter singt:
Der Dichter unter goldnem Stern geboren
In einer goldnen Zone,
Hat Haß dem Haß, der Liebe Lieb' geschworen
Und Hohn dem Hohne
Erstdruck und Druckvorlage
Der Bazar.
Illustrirte Damen-Zeitung.
Jg. 17, 1871, Nr. 22, 12. Juni, S. 182.
Gezeichnet: Theodor Raeder.
Der Bazar online
URL: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/periodical/titleinfo/2083461
URL: https://digipress.digitale-sammlungen.de/calendar/newspaper/bsbmult00000096
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/551436-8
URL: https://anno.onb.ac.at/static_tables/dba.htm
Zeitschriften-Repertorien
Literatur: Raeder
Albrecht, Jörn / Plack, Iris: Europäische Übersetzungsgeschichte.
Tübingen 2018.
Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus.
Freiburg i.Br. u.a. 2019.
Goßens, Peter: Weltliteratur.
Modelle transnationaler Literaturwahrnehmung im 19. Jahrhundert.
Stuttgart u. Weimar 2011.
Häntzschel, Günter: "In zarte Frauenhand. Aus Schätzen der Dichtkunst".
Zur Trivialisierung der Lyrik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980), S. 199-226.
Ormond, Leonee (Hrsg.): The Reception of Alfred Tennyson in Europe.
London 2017.
Pott, Sandra: Poetiken.
Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke.
Berlin u. New York. 2004.
Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert.
Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken.
In: Grundfragen der Lyrikologie.
Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden.
Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a.
Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.
Literatur: Der Bazar
Bacot, Jean-Pierre: La presse illustrée au XIXe siècle.
Une histoire oubliée.
Limoges 2005.
Bacot, Jean-Pierre: The Iillustrated London News et ses déclinaisons
internationales: un siècle d'influence.
In: L'Europe des revues II (1860-1930). Réseaux et circulations des modèles.
Hrsg. von Évanghélia Stead u. Hélène Védrine.
Paris 2018, S. 35-47.
Barthold, Willi W.: Der literarische Realismus und die illustrierten Printmedien.
Literatur im Kontext der Massenmedien und visuellen Kultur des 19. Jahrhunderts.
Bielefeld 2021.
Günter, Manuela: Im Vorhof der Kunst.
Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert.
Bielefeld 2008.
Krautwald, Barbara: Bürgerliche Frauenbilder im 19. Jahrhundert.
Die Zeitschrift "Der Bazar" als Verhandlungsforum
weiblichen Selbstverständnisses.
Bielefeld 2021.
Ledbetter, Kathryn: Periodocals for Women.
In: The Routledge Handbook to Nineteenth-Century British Periodicals and Newspapers.
Hrsg. von Andrew King u.a.
London u. New York 2019, S. 260-275.
Podewski, Madleen: Mediengesteuerte Wandlungsprozesse.
Zum Verhältnis zwischen Text und Bild in illustrierten Zeitschriften der Jahrhundertmitte.
In: Vergessene Konstellationen literarischer Öffentlichkeit zwischen 1840 und 1885.
Hrsg. von Katja Mellmann und Jesko Reiling.
Berlin 2016, S. 61-79.
Weber, Wolfgang: Johann Jakob Weber.
Der Begründer der illustrierten Presse in Deutschland.
Leipzig 2003.
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer