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Editionsbericht
Werkverzeichnis
Literatur: Freiligrath
Literatur: Allgemeine Zeitung
Literatur: Whitman-Rezeption
Walt Whitman! Wer ist Walt Whitman?
Die Antwort lautet: ein Dichter! Ein neuer amerikanischer Dichter!
Seine Bewunderer sagen: der erste, der einzige Dichter welchen Amerika
bisher hervorgebracht. Der einzige specifisch amerikanische Dichter. Kein
Wandler in den ausgetretenen Spuren der europäischen Muse, nein, frisch
von der Prairie und den Ansiedlungen, frisch von der Küste und den großen
Flüssen, frisch aus dem Menschengewühl der Häfen und der Städte, frisch
von den Schlachtfeldern des Südens, den Erdgeruch des Bodens, der ihn
gezeugt, in Haar und Bart und Kleidern; ein noch nicht Dagewesener, ein
fest und bewußt auf den eigenen amerikanischen Füßen Stehender,
ein große Dinge groß, wenn auch oft seltsam, Verkündender.
Und weiter noch gehen die Bewunderer: Walt Whitman ist ihnen der einzige
Dichter überhaupt in welchem die Zeit, die kreißende, ringende, suchende
Zeit, ihren Ausdruck gefunden hat; der Dichter par excellence; der
Dichter – "the poet."
So, auf der einen Seite die Bewunderer, in deren Reihen uns sogar ein Emerson begegnet; auf der andern dann freilich die Tadler, die Herabwürdiger. Neben dem ungemessenen Lobe, der begeisterten Anerkennung der bittere, der beißende Spott, die kränkende Schmähung.
Das freilich kümmert den Dichter nicht. Das Lob nimmt er hin als ein ihm gebührendes;
der Verachtung setzt er die Verachtung entgegen. Er glaubt an sich, sein Selbstgefühl ist
unbegränzt. "Er ist" (sagt sein englischer Herausgeber W. M. Rossetti) "vor allen selbst
der eine Mann, welcher die ernste Ueberzeugung hegt und bekennt, daß er,
jetzt und in Zukunft, der Gründer einer neuen poetischen Literatur ist – einer
großen Literatur – einer Literatur wie sie zu der materiellen Größe
und den unberechenbaren Geschicken Amerika's im Verhältniß steht. Er glaubt daß der
Columbus des Erdtheils oder der Washington der Staaten nicht wahrhaftiger ein Gründer
und Auferbauer dieses Amerika's gewesen ist als er selbst in Zukunft einer seyn wird.
Gewiß eine erhabene Ueberzeugung, und vom Dichter mehr als einmal in prächtigen
Worten ausgesprochen – keine prächtiger als das Gedicht welches mit der Zeile
beginnt:
"Kommt, unauflöslich will ich dieses Festland machen."
Das klingt stolz. Ist der Mann in seinem Rechte so zu reden? Treten wir ihm näher! Hören wir von seinem Leben und seinem Schaffen! Schlagen wir zuerst sein Buch auf!
Sind das Verse? Die Zeilen sind wie Verse abgesetzt, allerdings, aber Verse sind es nicht. Kein Metrum, kein Reim, keine Strophen. Rhythmische Prosa, Streckverse. Auf den ersten Blick rauh, ungefüg, formlos; aber dennoch für ein feineres Ohr, des Wohllauts nicht ermangelnd. Die Sprache schlicht, derb, gradezu, alles Ding beim rechten Namen nennend, vor nichts zurückschreckend, manchmal dunkel. Der Ton rhapsodisch, prophetenhaft, oft ungleich, das Erhabene mit dem Gewöhnlichen, bis zur Geschmacklosigkeit sogar, vermischend. Er erinnert uns zuweilen, bei aller sonstigen Verschiedenheit, an unsern Hamann, oder an Carlyle's Orakelweisheit, oder an die Paroles d'un Croyant. Aus allem heraus klingt die Bibel – ihre Sprache, nicht ihr Glaube.
Und was trägt uns der Dichter in dieser Form vor? Zunächst sich selbst, sein Ich, Walt
Whitman. Dieses Ich aber ist ein Theil von Amerika, ein Theil der Erde, ein Theil der
Menschheit, ein Theil des Alls. Als solchen fühlt er sich, und rollt, das Größte ans
Kleinste knüpfend, immer von Amerika ausgehend und immer wieder auf Amerika
zurückkommend (nur einem freien Volke gehört die Zukunft!), ein großartiges
Weltpanorama vor uns auf. Durch dieses Individuum Walt Whitman und seinen Amerikanismus
geht, wir möchten sagen, ein kosmischer Zug, wie er sinnenden Geistern eignen mag, die,
der Unendlichkeit gegenüber, einsame Tage am Gestade des Meers, einsame Nâchte unter
dem gestirnten Himmel der Prairie verbracht haben. Er findet sich in allem und alles
in sich. Er, der eine Mensch Walt Whitman, ist die Menschheit und die Welt. Und die Welt und
die Menschheit sind ihm ein großes Gedicht. Was er sieht und hört, was er berührt,
was immer an ihn herantritt, auch das Niedrigste, das Geringste, das Alltäglichste –
alles ist ihm Symbol eines Höheren, eines Geistigen. Oder viemehr: die Materie und der Geist,
die Wirklichkeit und das Ideal sind ihm eins und dasselbe. So, durch sich selbst geworden,
steht er da; so schreitet er singend einher; so erschließt er, ein stolzer freier Mensch,
und nur ein Mensch, weltweite sociale und politische Perspectiven.
Eine wunderbare Erscheinung! Wir gestehen daß sie uns ergreift, uns beunruhigt, uns nicht los läßt. Zugleich aber merken wir an daß wir mit unserm Urtheil über sie noch nicht fertig, daß wir noch vom ersten Eindruck befangen sind. Unterdessen wollen wir, wahrscheinlich die ersten in Deutschland *), wenigstens vorläufig Act nehmen vom Daseyn und Wirken dieser frischen Kunst. Sie verdient daß unsere Dichter und Denker sich den seltsamen neuen Genossen näher ansehen, der unsere gesammte Ars poetica, der all unsere ästhetischen Theorien und Kanons über den Haufen zu werfen droht. In der That, wenn wir in diese ernsten Blätter hineingehorcht haben, wenn uns das tiefe volltönige Brausen dieser wie Meereswellen in ununterbrochener Folge auf uns einstürmenden rhapsodischen Gesätze vertraut geworden ist, so will unser herkömmliches Versemachen, unser Zwängen des Gedankens in irgendwelche überkommene Formen, unser Spielen mit Kling und Klang, unser Silbenzählen und Silbenmessen, unser Sonettiren und Strophen- und Stanzenbauen uns fast kindisch bedünken. Sind wir wirklich auf den Punkt angelangt wo das Leben, auch in der Poesie, neue Ausdrucksweisen gebieterisch verlangt? Hat die Zeit so viel und so bedeutendes zu sagen, daß die alten Gesätze für den neuen Inhalt nicht mehr ausreichen? Stehen wir vor einer Zukunftspoesie wie uns schon seit Jahren eine Zukunftsmusik verkündigt wird? Und ist Walt Whitman mehr als Richard Wagner?
[Fußnote, S. 1999]
*) Das Londoner Athenäum bespricht den neuen amerikanischen Poeten
in sehr kühlem Ton.
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Erstdruck und Druckvorlage
Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
1868, Nr. 131, 10. Mai, S. 1999-2000.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Allgemeine Zeitung online
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Werkverzeichnis
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer