Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Poetologische Lyrik
Literatur: Anthologie
5 | [VII] Weich sank die Nacht herab: auf stillen Wegen Durchwandelt' ich die schweigende Natur; Sehnsüchtig rauschte mir das Laub entgegen Und leise athmend schlummerte die Flur. Die Blumen träumten, ohne sich zu regen, |
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10 | Es wachte still die Nachtviole nur; Der Mond selbst schien sich trauernd zu verstecken, Die Welt aus ihrer Schwermuth nicht zu wecken. Und finsterschattende Gedanken zogen Durch meine Seele. In das kühle Moos |
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15 | Sank' ich mit Thränen: dunkle Zweige bogen Sich um mein Haupt, und aus der Blumen Schooß Fühlt' ich die Stirn von heißem Duft umflogen, Als rängen sich verhüllte Seufzer los. "Wie?" rief ich, "bergt auch ihr denn Schmerz und Leiden, |
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20 | Ihr Blüthen, die so innig wir beneiden?" Da aus dem Kelch der Nachtviole stiegen Wie Geisterstimmen Klagen an mein Ohr: "Ach, warum unter grünem Laub verschwiegen Blühn wir zu reiner stiller Luft hervor! |
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25 | Warum in süßem Hoffnungswahn uns wiegen, Wozu schwebt freudig Duft und Glanz empor? Der Sonne Gluth, des Sturmes feindlich Wüthen, Sie tödten grausam unsre schönsten Blüthen!" [VIII] "Und nicht ein Wort, ein Laut war uns gegeben: |
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30 | Stumm leidend sehen wir von rauher Hand Den Glanz und Duft gestreift von unserm Leben, Das selig sich dem Lichte zugewandt. Ach, Niemand fühlt der Blumen heimlich Beben, Weil Niemand ihren Hoffnungswahn empfand! – |
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35 | Nun schlafen alle – ich nur wach' alleine, Damit ich einsam, ach, für alle weine!" "So laß uns denn", sprach ich, "gemeinsam tragen, Was uns gemeinsam reichte das Geschick! Dem Loos der Blumen gelten deine Klagen, |
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40 | Mir trübt der Frauen herbes Loos den Blick: Zu hoffen und zu leiden, zu entsagen Dem schönen Traum, das ist ihr ganzes Glück! Es darf ihr Harm sich keinem Auge zeigen, Der Mond verstummt und ihre Schmerzen schweigen." |
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45 | "Vor meiner Seele steht in dieser Stunde So manches theure halbvergeßne Bild. Wie Manche ist's, die eine tiefe Wunde, Die eine ew'ge bange Qual verhüllt Mit leichtem frohen Lächeln auf dem Munde! |
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50 | Wie manche stumme bittre Thräne quillt In heißer Sehnsucht, in verhaltnen Schmerzen Aus dem verkannten tiefgepreßten Herzen!" [IX] Ich schwieg bekümmert: durch die heil'ge Stille Ging plötzlich da ein Rauschen und ein Wehn, |
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55 | Und rosig schwebend durch die nächt'ge Hülle Sah ich ein himmlisch Wesen, hoch und schön, In holder Anmuth, in des Lichtes Fülle, In strahlender Verklärung vor mir stehn; Das Haupt geschmückt mit vollen Blüthenzweigen |
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60 | Sah ich sie mild zu mir sich niederbeugen. "Wie", sprach sie, "muthlos seh' ich dich verzagen? Kann denn ein Herz, das nie der Gram geweiht, Das nie gelernt zu dulden, zu entsagen, Verstehn ein fremdes Herz, ein fremdes Leid? |
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65 | Kann das zu helfen und zu trösten wagen, Kennt es des Mitgefühles Seligkeit? Vom Dichter lerne Wonn' und Weh vereinen, Durch Thränen lächeln und beseligt weinen." "Ihm blüht aus jeder stillen Lebensfreude |
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70 | Die heitre Blume süß und wunderbar, Ihm glänzt aus jedem tiefempfundnen Leide Der Wehmuth helle Perle licht und klar, Und der Begeistrung leuchtendes Geschmeide Flicht er mir liebend in das dunkle Haar; |
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75 | Er sammelt seinen Schmerz und sein Entzücken, Mit seinem ganzen Reichthum mich zu schmücken." [X] "Doch was er gab, ich geb' es freudig wieder: Verklärt, geheiligt schwebe seine Luft, Sein Schmerz als Trost, als süßer Frieden nieder |
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80 | In die verwandte sehnsuchtkranke Brust; Und Balsam gieße jedes seiner Lieder, Das er, des eignen Zaubers unbewußt, Gesungen hat in Wonnen oder Schmerzen, Mit stiller Kraft in tausend wunde Herzen!" |
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85 | So redend streu'te mild das holde Wesen Mit Götterhänden Blüth' und Perlen aus; Da fühlt' ich mich von allem Weh genesen Und band die Wundergabe mir zum Strauß. Es war ein dumpfer, banger Traum gewesen, |
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90 | Was mich gequält: in Tropfen milden Thau's Der Freude fühlt' ich jetzt der Wehmuth Zähren, In heitre Ruhe sich den Gram verklären. Und Euch, ihr Schwestern, weih' ich voll Vertrauen Die theure Gabe! Nehmt sie freundlich hin, | |
95 | Die Aus Freud' und Leid, wohl Vielen zum Gewinn, Doch reich vor Allen duftend edlen Frauen Und sich erschließend ihrem zarten Sinn: Ein Band von | |
Wie süße Wonne wird vom Weh durchdrungen. |
Druckvorlage
Blüthen und Perlen deutscher Dichtung.
Für Frauen ausgewählt von Frauenhand.
Miniatur-Ausgabe.
17. Aufl. Hannover: Rümpler 1868, S. VII-X.
PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.32044087126215
URL: https://www.google.fr/books/edition/Blüthen_und_Perlen_deutscher_Dichtung/WSoTAAAAYAAJ
Bibliographie der deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 – 1914
Literatur: Anonym
Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus.
Freiburg i.Br. u.a. 2019.
Catling, Jo (Hrsg.): A History of Women's Writing
in Germany, Austria and Switzerland.
Cambridge 2000.
Evers, Barbara: Frauenlyrik um 1800.
Studien zu Gedichtbeiträgen in Almanachen und Taschenbüchern
der Romantik und Biedermeierzeit.
Bochum 1991.
Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches.
Frankfurt a.M. 2001 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1510).
Häntzschel, Günter: "In zarte Frauenhand. Aus Schätzen der Dichtkunst".
Zur Trivialisierung der Lyrik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980), S. 199-226).
Krautwald, Barbara: Bürgerliche Frauenbilder im 19. Jahrhundert.
Die Zeitschrift "Der Bazar" als Verhandlungsforum
weiblichen Selbstverständnisses.
Bielefeld 2021.
Planté, Christine (Hrsg.):
Masculin-féminin dans la poésie et les poétiques du XIXe siècle.
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URL: https://books.openedition.org/pul/6258
Pott, Sandra: Poetiken.
Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke.
Berlin u. New York. 2004.
Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860.
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Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert.
Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken.
In: Grundfragen der Lyrikologie.
Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden.
Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a.
Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.
Zymner, Rüdiger: Funktionen der Lyrik.
Münster 2013.
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer