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Editionsbericht
Literatur: Kneschke
Literatur: Anthologie
[1] Es ist Thatsache, daß die politische Situation einer Zeit, die Stimmung, welche im öffentlichen, staatlichen Leben herrscht, stets auch auf die jeweilige Kunstübung einen tiefgreifenden, ja bestimmenden Einfluß äußert. So war das Jahr 1848, das Jahr unsrer politischen Wiedergeburt, zugleich die Wiege eines neuen poetischen Geschlechts in Deutschland. Vor dem Donner der Revolution verstummten die letzten, allmählich altersschwach gewordenen Stimmen aus der romantischen und schwäbischen Epoche.
Wir wollen das Absterben der einen, das Werden und Entstehen einer anderen dichterischen Periode hier zunächst im Bereiche der Lyrik verfolgen. Ludwig Tieck, der Fürst der Romantiker, lebt zwar noch ein paar Jahre, aber er producirt nichts mehr; einer Zeit und Generation grollend, die ihm kein Verständniß mehr entgegenträgt, weil er selber sie nicht mehr verstehen kann, zieht er sich nicht ohne Bitterkeit und Starrsinn ganz aus dem Umgang der Strebenden zurück, und stirbt endlich, baar des Glanzes, der ehemals seine Erscheinung umfloß, ein von den Nachstürmenden überholter und vergessener Heros der Poesie. Kaum einen schwachen Wiederhall erregt sein Tod im Herzen der Nation
[2] Die Genossen seiner Jugend gingen ihm schon alle voraus im Sterben; Brentano, Arnim und die Anderen sahen nicht mehr das Licht einer neuen Epoche, nur Einer blieb noch neben Tieck: Joseph v. Eichendorff. Aber was war im Laufe der Jahre aus dem "Frühlingsvagabunden" geworden? Sein süßer Liedermund schwieg schon lange und machte blos noch ein paar greisenhaft erscheinende Versuche im Epischen. Dagegen richtete sich die Hauptthätigkeit des nunmehr zu den "Frommen im Lande" gehörenden Mannes auf Literaturgeschichte in specifisch-katholischem Sinne, bis auch ihn hochbetagt der Tod von dannen führt.
Ganz still sind ferner schon seit Langem die sonst so sangesfrohen Schwaben. Bei Ludwig Uhland ist auf eine ungewöhnlich frühe Reife ein verhältnißmäßig frühzeitiges Abblühen gefolgt, und auch seine ernste landständische Thätigkeit hinderte ihn am dichterischen Schaffen. Eduard Mörike producirte niemals viel und rasch, jede nicht aus dem Tiefsten quellende Poesie war diesem sinnigen, stets nur innerlich recht lebenden Genius verhaßt; kein Wunder demnach, daß, als die Jugend verflog und mit ihr der Drang zu dichten, der alternde Mann alsbald resignirend die Harfe an die Wand hing, um nie wieder in ihre Saiten zu greifen. Auch Gustav Schwab fühlt in seiner Pastorei, in den Pflichten des ihm lieben, ernsten Amtes, nicht mehr das Bedürfniß, sich lyrisch, im Gesange zu bethätigen. Carl Mayer, der immer nur gleichsam ins Schlepptau genommen schien von seinen begabteren Freunden, der durchaus auch dichten wollte, weil sie dichteten, verstummt nun ebenso folgerichtig, weil jene stumm werden: man begegnet, was doch sonst allenthalben geschah, in keinem Almanach oder Taschenbuch mehr seinen fingerlangen, gutgemeinten Liederchen. So bleibt blos Einer: Justinus Kerner. Dieser bietet noch den letzten, welken "Blüthenstrauß". Jetzt freilich ist auch er dahin gegangen, ebenso wie Uhland und Schwab.
Zwar Friedrich Rückert weilt noch unter dem gegen[3]wärtigen Geschlecht, aber der "Liebesfrühling" dieses Auserwählten ist längst entschwunden und der weise "Brahmane" steht in dem Alter, wo man zwar noch immer sinnt und denkt, aber das Sprechen und Singen als Last empfindet und deshalb in beschaulichem Schweigen verharrt. Zu "geharnischten Sonetten" ist wohl der Stoff da, wie einst, aber die alte Kraft, sie zu schmieden, fehlt, wie uns das ein neuerdings noch gemachter Versuch bestätigt hat.
Doch weiter: Heinrich Heine liegt auf jahrelangem Schmerzenslager im fernen Paris und aus seinem dunklen Krankenzimmer, wenn ein Landsmann es einmal öffnet, dringen Seufzer und Klagen zu uns herüber, aber keine Lieder. Daß der geplagte und zu Grunde gerichtete Geist sich schließlich doch noch emporraffte zu der freilich eher zweideutigen Schöpfung und Gabe des "Romanzero", berührt uns hier noch nicht, das werden wir erst weiter unten ins Auge zu fassen haben. Nicolaus Lenau, schon lange in der Nacht des Wahnsinns befangen, haucht endlich seine Seele aus. Wilhelm Müller, der unvergeßliche Sänger der "Müllerlieder", ging bereits lange vorher, allzufrüh aus dem Leben. Ebenso der zarte, sinnige Dichter des "Laienevangeliums", Friedrich v. Sallet. Zuletzt scheiden auch der liebenswürdige Robert Reinick und der gemüthliche August Kopisch, beide noch keineswegs in dem Alter, wo der Tod Naturnothwendigkeit, aber doch wenigstens schon älter, als der in der vollsten Jugend dahingeraffte Moritz Graf Strachwitz. Freilich zeigten dessen "Lieder eines Erwachenden" in ihrer leidenschaftlich erglühenden Hast und heißen, wilden Art deutlich eine Ueberfülle an Lebenskraft, die, ähnlich wie Shakespeare's Mercutio, das Dasein nicht schnell genug los werden zu können scheint.
Ueberall also, wo wir bisher uns nach den Koryphäen der Lyrik umschauten, Tod oder Schweigen. Wie steht es endlich aber mit den politischen Dichtern der vierziger Jahre? Nun, nicht umsonst hatten diese von Kampf und Untergang gesungen; die blutigen Scenen von 1848 und 1849 erfüllten, [4] was durch sie prophezeit war. Doch – wenn das Leben, die Wirklichkeit furchtbar ernst zur Geltung kommt, braucht Lied und Gedicht keine Rolle mehr zu spielen. So hört denn, als die Revolution nicht mehr blos auf dem Papier steht, sondern laut in den Straßen tönt, Georg Herwegh gleichsam instinctmäßig auf zu singen, und dasselbe thun Prutz, Hoffmann v. Fallersleben, Anastasius Grün, Carl Beck und alle Anderen. Nur der einzige Freiligrath giebt mit alter stürmender Wuth und fieberhafter Aufregung nochmals "politische und sociale Gedichte", während neben ihm auch Franz Dingelstedt und Moritz Hartmann, einst nicht minder in den allgemeinen kriegerischen Chorus einstimmend, nun den Ereignissen des "tollen Jahres" wo möglich eine scherzhafte Seite abzugewinnen suchen, indem sie ihre frühere Sturm- und Drangpoesie zur freilich etwas sehr gezwungenen und frostigen Satyre verkehren. Uebrigens schweigen alle diese Dichter nun auch auf anderen Gebieten, als dem der politischen Lyrik; die meisten von ihnen ließen einst gar verführerisch und reizend ihre Stimmen auch zum Preise der Liebe, des Weins und des Wanderns erschallen, aber wenn Haß und Rache im Völkerleben regieren, fliehen Amor und Bacchus, und die Verderben sinnende Menschheit sagt sich los von dem Zauber ihrer freundlichen Erscheinung.
Doch die mit so himmelanstrebenden Hoffnungen begonnene Revolution verlief endlich im Sande, und es folgte die Periode der Reaction. Hier ist denn der Abschnitt, wo factisch eine neue Entwicklungsepoche ins Dasein tritt, und zwar eben nicht nur in der Cultur- und Weltgeschichte, sondern auch in der Kunst, in der Dichtung. Die "nachmärzliche Zeit" hebt an, und den Geist, den Charakter derselben, so wie er sich in der deutschen Lyrik manifestirt, zu kennzeichnen, ist nun unsere Aufgabe.
Der einst vielfach citirte Ausspruch einer bekannten Persönlichkeit über das Jahr 1848 und seine Folgen lautet: Je unberechtigter und unnatürlicher der Rausch, desto berechtigter [5] und natürlicher der Katzenjammer. In der That – es klingt herb, von der Erhebung des Volkes in jenem ewig denkwürdigen März nur gleichsam wie von einem Rausche gesprochen zu hören, aber wenn man sich der Wahrheit nicht verschließt, daß dem Zustand des Katzenjammers jedes Mal ein Rausch vorangegangen sein muß, wird man selber doch kaum etwas Anderes thun können. Ein moralischer Katzenjammer in höchstem Grade hatte 1850 unsere Nation gefaßt – das ist unumstößlich richtig und Jeder kann also von da aus einen Rückschluß machen.
War man vorher wild, keck und trotzig gewesen, so wollte man das nun wieder gut machen und wurde zahm, sentimental, bigott. Die "Gedichte eines Lebendigen", in der Revolution gleich einem Evangelium und Erbauungsbuche hochgehalten, erschienen nun nicht viel besser, als das Werk eines Teufels; man glaubte die Zeit gekommen, wo die Menschheit in Sack und Asche trauern müßte, um die Frevel, welche begangen worden, wieder abzubüßen.
Diesem kleinlauten, verschüchterten, reuigen Geschlecht imponirte die erste Stimme, die ihm eindringlich ins Gewissen redete. Sie kam zwar aus dem Munde einer gar wunderlichen Heiligen, doch gleichviel – man berehrte diese als ächte und rechte Heilige, hob sie auf den Altar und kniete vor ihr, in Anbetung versunken. Wir sprechen von der ebenso gottseligen als liebeseligen Jungfrau "Amaranth"; sie erregte die allgemeinsten Sympathien und muß als Personification der Stimmung gelten, welche nun in unserem socialen und gesellschaftlichen Leben zur Herrschaft gelangte. Man war der Politik herzlich überdrüssig und versuchte es wieder einmal mit der Religion. Die Frömmigkeit wurde Modesache.
Freilich irrte sich das Publicum sehr, wenn es in "Amaranth" eine besondere Verherrlichung der Kirche, ja wohl gar eine Niederlage ihrer Gegner erblickte. Diejenige Kirche, die allein im Stande gewesen wäre, sich mit dem rebellischen Geiste der Zeit in Kampf einzulassen, diese trotzige, streitbare, welt[6]befehdende Kirche war dem weichlichen Sinne eines Oskar v. Redwitz auch niemals im Traume aufgegangen. Das ganze Wesen seiner lyrischen Poesie ist Hohlheit und Eitelkeit. Ein sittlicher Ernst, der die Bekehrung und Züchtigung der verwirrten Welt als seine Mission auf sich genommen hätte, würde aufgetreten sein mit flammendem Zorn, mit strafender Hoheit, mit Worten, die gleich Pfeilen träfen, nicht mit dieser geleckten Zierlichkeit und Niedlichkeit, die alle Gedanken und Einfälle eines Redwitz auszeichnet.
Doch war auch das Wesen seiner Muse halb Unwahrheit und Koketterie, halb Unreife oder Krankheit – gleichviel, man hob sie auf den Thron der Poesie und eine ganze lyrische Sippe that sich zusammen mit Räucherfaß, Altarkerzen und Gebetbüchlein. Das süße Schönthun mit "Golgatha", das Hätscheln des "Lammes Gottes", die abtödtenden Spielereien mit der Verwesung eines heiligen Leichnams hatten nicht umsonst bei Redwitz so begeisterten Anklang gefunden, es schaarten sich Genossen um ihn in Menge und sie Alle machten die Schlemmereien einer Ascese mit, die augenverdreherisch sich in die Wundenmale der Leidensgeschichte versenkte und als den süßesten Gottesfrieden den Bankerott an aller mannbaren Gesinnung predigte.
Von dieser "krankhaften Mauser des deutschen Geistes" weg sehnte man sich fast zu den Sängern der politischen Reaction – denn auch solche, und nicht blos Sänger der kirchlichen Reaction, gab es. Vor Allen ist hier Karl Friedrich Scherenberg zu nennen, den wir, als ausschließlich epischen Dichter, in unsrer Sammlung nicht berücksichtigen können. Er, der Meister und Erfinder des sogenannten "Schnurrbartstyles" in der Poesie, wurde mit seinen Epopöen: "Waterloo", "Leuthen" u. s. w. der Herold des preußischen Waffenruhms, der Troubadour der preußischen Armee, der "Blondel des Treubundes". Mit den genannten Werken gerade zu einer Zeit vor die Oeffentlichkeit tretend, wo die Meinung der Nation nichts weniger als gut auf Preußen zu sprechen war und nament[7]lich das Heer ziemlich allgemein mit den ungünstigsten Blicken betrachtet ward, kam Scherenberg zu der Ehre, als berufener Verherrlicher des schwarzweißen Kreuzzeitungsthumes zu gelten und auf Ministerialverordnung in allen Knaben- und Töchterschulen des Landes von herumziehenden Emissären des Vereines für Gott, König und Vaterland declamirt zu werden, ohne daß er, was man ihm zum Ruhme nachsagen muß, nach dieser Ehre jemals in Wahrheit gegeizt hätte. Im entgegengesetzten Lager, dem schwarzgelben, gab es nicht minder solche Troubadours. Man erfand da die Mode der "Tornisterbüchlein", kleine handliche Gedichtsammlungen, welche von oben herab unentgeltlich an die Soldaten vertheilt wurden und gewöhnlich aus entzückten Hymnen auf den "ritterlichen" jungen Kaiser, sowie noch viel mehr auf den "Jubelgreis" Radetzky bestanden, welch letzterem man geradezu die Glorie eines Kriegsgottes verlieh.
Kreise, die den adeligen, militärischen Interessen und Sympathien fern standen und ebenso auch von pietistischer Schönthuerei sich wacker frei zu halten wußten, wurden im Contrast zu der früher herrschend gewesenen Stimmung nun auch wenigstens harmlos und gemüthlich. Nachdem die Wirklichkeit gar so rauh und ehern erschienen, flüchtete man sich gern wieder in eine lächelnde, heitere Märchenwelt und versenkte sich in die Reize der ewig jungen Natur, diese mit den Gestalten mythenschaffender Phantasie nochmals, wie in alter Zeit, bevölkernd. "Prinz Waldmeister" zog daher mit klingendem Spiel, um sein holdes Lieb, Prinzeß Rebenblüthe, heimzuholen. Die Frucht ihrer Vermählung kennen wir Alle: es ist der süße Maitrank. Dergleichen war zwar nicht so bedenklich, wie "Amaranth", es war nicht ungesund und bigott, aber es blieb im Grunde doch immer nur Spiel und poetische Kurzweil. Auch lag die Gefahr einer Krankheit nahe genug und wurde in der That häufig nicht vermieden. Am Ende kam es dahin, daß man nicht zufrieden war mit dem, "was sich der Wald erzählt", wo möglich jedes Krautfeld und [8] jeder Heuhaufen mußten herhalten mit Herzensergießungen und zarten Geheimnissen. Eine besondere Rolle spielte bei dieser kindisch und läppisch gewordenen Naturanschauung, "was man den Vöglein abgelauscht", und vor Allen in Gunst stand die sentimentale, "zum Tod betrübte" Nachtigall, während die heitere Lerche für fast ebenso unpoetisch galt als der prosaische Gesell Spatz auf dem Dache.
Der Hauptgrund blieb immer: man hatte sich männlich bewährt im Leben und nur üblen Lohn davongetragen, so wollte man im Reiche der Dichtung noch einmal harmlos gemüthlich sein. Und dies ist der charakteristische Zug der ganzen "nachmärzlichen" Periode unsrer deutschen Lyrik, nachdem von jenen am Beginn derselben sich breit machenden Extremen wieder eingelenkt worden ist auf gewöhnlichere Bahnen: man empfindet wieder jugendlich, wie denn zumeist eine junge Generation Platz ergriff am Parnaß. Von Politik, Freiheit, Kampf und Tod ist nicht mehr die Rede, dafür wird "Wein, Weib und Gesang" von Neuem die Parole.
In Wahrheit freilich war das, was an den hier nun gemeinten Dichtern bei ihrem ersten Auftreten für neu gehalten wurde und in diesem ersten Moment auch in der That wie ein neues Element wirkte, doch etwas recht Altes, etwas so Altes, daß es darüber schier in Vergessenheit gerathen war: nämlich das uralte und doch ewig junge Thema von Liebeslust und Liebespein, von Lenz, Jugend und fröhlichem Wandermuth, mit einem – von Robert Prutz irgendwo in seinem "deutschen Museum" gebrauchten – Worte: alle jene naiven und unverfänglichen Themen, die der Poesie und namentlich der Lyrik von Alters her den reichsten Stoff geliefert und die der deutschen Dichtung nur für einige Zeit verloren gegangen oder in den Hintergrund getreten waren in Folge der politischen Aufregung, die sich von Anfang der vierziger Jahre an schon aller Gemüther bemächtigt hatte und die dann auch in der Poesie keine anderen Götter neben sich wollte aufkommen lassen. Gewiß war es eine Thorheit, als man die Liebeslyrik [9] ächtete, von der Pracht des Frühlings und süßer Waldeinsamkeit zu singen für ein Verbrechen am Vaterland erklärte, und statt vom Blut der Rebe nur immer vom Blut der Feinde hören wollte, aber ebenso gewiß ist, was Prutz an der angezogenen Stelle dann weiter sagt: man darf von der Wiederaufnahme dieser einfachsten Elemente aller lyrischen Dichtung derselben nicht einen neuen Aufschwung und ein neues Leben prophezeien. Selbst die Richtungen, welche der jüngsten auf das Naive und gemüthlich Unbefangene vorausgingen, d. h. sowohl die Heine'sche Frivolität als der Lenau'sche Weltschmerz, das blendende Colorit Freiligraths als das politische Pathos Herweghs, sind, was man auch im Einzelnen daran tadeln mag, doch bedeutendere Entwicklungsstufen gewesen und haben viel mehr neues Blut in unsre Poesie gebracht, als es diesem bloßen Zurückgehen auf Lenz, Liebe, Jugend gelingen konnte. Es ist eben gleichfalls eine Reaction, vielleicht die liebenswürdigste, und jedenfalls die unschuldigste, aber doch immer eine Reaction, kein Fortschritt, kein Aufgang zu Bedeutsamerem, Tieferem, Gediegenerem, als vorher schon vorhanden gewesen. Wir glauben, uns anschließend an Prutz, mit dem Gesagten nur gerecht über unsre moderne Lyrik geurtheilt zu haben. Eine Unterschätung derselben liegt uns fern, aber wir wünschen Maß gehalten in ihrer Achtung, die eine gewisse mittlere sein muß, natürlich zunächst nur vom objectiven, streng und rücksichtslos historischen Standpunkte aus. Unsre subjective Freude an den einzelnen Persönlichkeiten und Leistungen darf darum nicht minder lebhaft und herzlich sein.
Noch eine allgemeine Bemerkung, die sich zumeist auf
die Form bezieht, wollen wir jetzt machen, und folgen dabei theilweise den
Ausführungen Julian Schmidts. Die ungeheure Masse von Stoffen, die seit
der goldenen Zeit der deutschen Literatur künstlerisch behandelt worden
sind, hat der Empfindung unsrer Zeitgenossen eine ganze Fülle poetisch
zugerichteter Vorstellungen, Bilder, Töne, Wendungen und
[10] Redensarten, Wörter und Maße gegeben, die wir gleichsam mit der
Muttermilch in uns aufnehmen und als Vorhandenes, Gebotenes genießen.
So ist fast für jedes dichterische Gefühl eine sprachliche und metrische
Reminiscenz da, welche leise oder helle in der Seele mitklingt. Hieraus
entsteht die den Hörer oft ermüdende, bewußte oder unbewußte Nachahmung
bekannter Versmaße, Sätze und Ausdrücke, der wir bei unseren Dichtern
begegnen. Da nun die Masse der poetischen Tonweisen, Redensarten und
Bilder so unendlich groß geworden, ist es auch viel leichter, eine
menschliche Empfindung in guter dichterischer Sprache wiederzugeben,
als dies der Fall vor 60, 70 und mehr Jahren war. So brauchen die modernen
Lyriker keine so strenge und harte Schule der Ausbildung mehr
durchzumachen, als die früheren, und die Folge davon ist: es liegt
ihnen die Gefahr nahe, das, was man Technik nennt, ganz einzubüßen. Man
wird dann dilettantisch aus der Anzahl seiner Reminiscenzen von Stoffen
und Tönen mit unsrer ganz poetisch zubereiteten Sprache seine Verse
zusammenschreiben, diesen wird aber die künstlerische Durchbildung und
Gestaltung fehlen. Schon jetzt bemerkt man häufig genug etwas dem
Aehnliches.
Sehen wir uns nun einzelne Persönlichkeiten der Epoche ein wenig genauer an. Von altberühmten Namen begegnen wir nur einem kleinen Theil wieder. Hoffmann v. Fallersleben bringt, entsprechend dem Wesen und den Neigungen der Zeit, wie ehedem, Liebeslieder, Kinderlieder, Trinklieder. Prutz schweigt lange, dann plötzlich beginnt er nochmals, doch auch nicht mehr als politischer, sondern als erotischer Dichter. Kinkel, im Exil lebend, greift nicht mehr in die Saiten, ebenso Freiligrath nur noch bei einigen besonderen Gelegenheiten. Heinrich Heine erhebt vom Todtenbette aus nochmals seine Stimme im "Romanzero", das aber wird sein Schwanengesang, und nichts Treffenderes kann über das merkwürdige, sonderbare Werk gesagt werden, als der Bauernfeld'sche Vers:
[11] Dein halbes Buch ist krank und voll
Von Deinen irdischen Plagen,
Doch die gesunde Hälfte soll
Dich zu den Sternen tragen.
Franz Dingelstedt, Moritz Hartmann, Alfred Meißner und einige Andere geben neue Auflagen ihrer Gedichte, in denen wenigstens hier und da sich wirklich noch neuentstandene und neueingereihte finden. Am unverändertsten, zugleich noch mit dem alten Reichthum an Liedern, hat sich Emanuel Geibel in die neue Epoche hinübergerettet, die jedenfalls seiner Muse sehr verwandte Züge trägt.
Absichtlich erwähnen
wir Geibel hier zum ersten Male. Er war in früherer Zeit, unter damals
noch lebenden Altmeistern und Häuptlingen der deutschen Lyrik,
bereits ein brav nebenher Strebender, wacker und taktvoll im Chore
Mitsingender, gegenwärtig aber ist er der Chorführer unsrer lyrischen
Poesie geworden. Wir sprechen von ihm weiter unten, bei Mittheilung
einiger seiner Gedichte, hier zunächst nur das: Joh. Georg Fischer,
Paul Heyse, Otto Roquette, Julius Rodenberg, Albert Traeger u. A.,
welche den "jugendlichen" Charakter dieser Epoche vielleicht am
deutlichsten, schärfsten und wohl auch, gleich Geibel, am liebenswürdigsten
und poetischsten ausdrückten – sie alle sind aus seiner Schule
hervorgegangen, sogar das im weiteren Stadium der Entwicklung sich
freilich ganz original gestaltende, große Talent Hermann Linggs
erhielt von Geibel Anregungen und Stoffe zur Behandlung.
Aus der österreichischen Dichterschule, der Umgebung Anast. Grüns, empfingen wir unerwartet noch eine reiche und werthvolle Gabe an den nun erst gesammelten und veröffentlichten lyrischen Poesien Friedrich Halms und Eduard Bauernfelds. Ebenso sammeln auch im übrigen Deutschland noch gar manche in Literatur und Dichtung wohlbekannte und bewährte Männer das, was ihr Lebenslauf an lyrischer Production in ihnen zeitigte, und ohne damit epochemachend, umschaffend einzu[12]greifen, waren die betreffenden Bücher doch von Herzen und mit gebührender Achtung willkommen zu heißen. Wir meinen hier vor Allen Hermann Marggraff, Gustav Kühne, Melchior Meyr, Gottfried Keller, Edmund Höfer u. A.
Außer den bisher berührten machen sich endlich besonders noch zwei Richtungen geltend: einmal das orientalische Element in deutscher Lyrik, und dann die mit jenem stammverwandte Spruchpoesie. Was das erstere anlangt, so ermüdet Daumer nicht, Hafis zu sein und zu bleiben, ja Leopold Schefer zeigt uns, nach jahrelangem Schweigen nochmals productiv werdend, sogar diesen "Hafis in Hellas", vor Allen jedoch gelingt Friedrich Bodenstedt eine Rehabilitation der "Morgenländerei", wie man vielleicht analog dem in einer Geschichte der Malerkunst oft gebrauchten Namen "Niederländerei" sagen kann. Von seiner orientalischen Reise bringt der Genannte angeblich Lieder eines weisen Persers, des klugen Mirza-Schaffy, in Uebersetzungen zu uns herüber, und dieselben finden, in jährlich sich wiederholenden Auflagen ganz ebenso viel Anklang und Sympathie, wie früher der schon erwähnte Daumer'sche "Hafis" oder wie noch früher Hatem im Goethe'schen "Divan". Uebrigens stellt es sich später heraus, daß die Lieder des Mirza-Schaffy nicht schlechthin nur als Uebersetzungen zu betrachten, sondern daß sie vielmehr blos im Geiste dieses oder überhaupt eines morgenländischen Weisen gedichtet seien. Das Recht ihrer Autorschaft gebührt also Bodenstedt in demselben Maße, wie ein solches Julius Hammer mit Bezug auf die Gedichte in dessen "osmanischem Liederbuche: Unter dem Halbmonde" gebührt. Der eben genannte J. Hammer ist zugleich Matador der Spruchpoesie in unsrer Zeit. Seine Sammlung "Schau um dich und schau in dich", die bisher wohl schon in zwölf oder mehr Auflagen vorhanden ist, hat letztere nochmals vollständig in Mode gebracht, vielleicht sogar in noch höherem Grade, als sie es zu Rückerts, Schefers und Sallets Zeiten war. Die zum Theil innig gläubige, doch nie bigotte Gesinnung, welche sich in Hammers [13] Versen ausspricht, bringt uns schließlich auf die Erwähnung von Julius Sturms "frommen Liedern", die des reichen Beifalls wegen, den sie gefunden haben, gleichfalls noch eine nicht zu übersehende Erscheinung in unsrer modernen Lyrik bilden. Bei aller wahrhaften und tiefen Frömmigkeit, die sie durchdringt, bleibt es doch charakteristisch für sie, daß das eigentlich kirchliche Element in ihnen unbetont ist. Ebenso steht es mit Hessemers "Liedern der unbekannten Gemeinde", ja es setzen sich dieselben, laut ihrem Titel, wohl gar in Opposition gegen das heutige Priesterthum, und auch das darf als Merkmal einer sich nicht blos auf einzelne Personen beschränkenden Zeitstiminung nicht unbeachtet gelassen werden.
Das war es im Wesentlichen, was wir vom literarhistorischen Standpunkt aus hier zu bemerken hatten; Weiteres sehe man in den biographisch-kritischen Notizen über die einzelnen Dichter nach. Was aber ferner unsere Anthologie im Ganzen anlangt, so wird es aus dem Vorhergehenden klar geworden sein, weshalb wir als Ausgang und Beginn unsrer Sammlung das Jahr 1850 nahmen. Es geschah das nicht willkürlich und auch nicht blos deshalb, weil damit die zweite Hälfte des Jahrhunderts begonnen hat, der Grund liegt vielmehr eben in dem Umstand, daß, wie wir oben sagten, ein späterer Geschichtschreiber gerade etwa ins Jahr 1850 den Anfang einer neuen Periode unseres Lebens, unsrer gesammten Dichtung und also auch unsrer Lyrik setzen wird. Durch solche zeitliche Begrenzung glauben wir unser Buch literarhistorisch beachtenswerth und nützlich gemacht zu haben. Denn wir bieten das Gesammtbild einer bestimmten Epoche der Poesie, welches nicht blos für die Gegenwart Interesse hat, sondern sich dasselbe auch für die Zukunft erhalten wird.
Unendlich reich ist die deutsche Lyrik seit 1850 und übertrifft dieselbe im Umfang sogar die Zeit der großen Meister und ihrer nächsten Epigonen. Eine Sichtung und literarhistorische [14] Würdigung des Besseren aus dem Bereiche der modernen Lyrik, wie wir sie geben, ist wegen der fast überwuchernden Fülle des Dargebotenen zeitgemäß und nothwendig. In einer so unermeßlichen Schaar von Sängern findet sich natürlich auch mancher Unberufene, und es wird den Außerwählten schwer, ihre Stimmen weithin ertönen zu lassen. Ist aber der Chor ein kleinerer, so wird man alsbald mit Freuden hören, daß auch heute noch Manche "im deutschen Dichterwalde" singen, denen wirklich "Gesang gegeben."
Ueber einige Grundsätze, die uns bei Auswahl der Gedichte leiteten, müssen wir uns aber doch noch in kurzen Worten mit dem Leser verständigen. Wir sagten, das Jahr 1850 sei für uns Ausgangspunkt gewesen, und es wird dies natürlich so zu nehmen sein, daß das Jahr des Erscheinens eines Werkes als maßgebend galt, d. h. wir haben Gedichte aus Sammlungen aufgenommen, die seit 1850 im Druck erschienen sind. Ob einzelne dieser Gedichte schon vor dieser Zeit handschriftlich entstanden, können wir nicht wissen. Ebenso wenig kann es uns freilich kümmern, ob der oder jener Dichter, dessen Schöpfungen einer früheren Periode angehören, noch einige Lieder seit 1850 gedichtet. Wir vermochten durchschnittlich nur Rücksicht auf die zu nehmen, welche seit dem genannten Termin noch eine Sammlung von Gedichten haben erscheinen lassen. Balladen und Romanzen blieben grundsätzlich ausgeschlossen, ebensowenig gaben wir Fragmentarisches aus erzählenden, epischen Dichtungen; nur finden sich aus größeren epischen Werken einige in sich abgeschlossene lyrische Gedichte, doch dann stets mit Angabe der ersteren.
Was den Inhalt der ausgewählten Stücke anlangt, so beachteten wir besonders die drei nie ausgesungenen Themen: Gott, Natur und Menschenherz. In Bezug auf religiöse Poesien wollen wir uns noch näher dahin aussprechen, daß wir solche, worin von Gott in der kirchlichen Auffassung und Bedeutung die Rede, zu umgehen suchten, dagegen solche auf[15]nahmen, welche allgemein dem Gefühl des Unendlichen, der Ahnung eines Höchsten Ausdruck leihen, welche den göttlichen Geist in Welt und Leben zu erfassen trachten. Naturbilder, landschaftliche Stimmungsgemälde finden sich, entsprechend dem lebendigen Natursinn und der sinnlichen Beschaulichkeit, die in unserem Nationalcharakter liegt, verhältnismäßig viele. Kein anderes Volk erfreut sich ja an den Schönheiten der Natur so sehr, denkt und empfindet bei ihrer Betrachtung so viel, versenkt sich in ihren Geist, ihre Geheimnisse so tief, setzt sie zu sich selbst in so vertrauten Bezug, kurz verlebendigt und vermenschlicht sie in dem Maße, wie unser deutsches. Drittens endlich das Menschenherz mit seinen Freuden und Leiden, seinen Wonnen und Qualen – wo wäre es poetischer, wann böte es dem Dichter mehr Stoff dar, als wenn es die Liebe erbeben und erklingen macht?
Ein Bewußtsein haben wir: wir bringen für Alle Etwas. Der Ernst
männlichen Alters und seine Neigung zur Reflexion; das tiefinnerliche,
stille Dahinleben der weiblichen Seele mit ihrer schönen Beschränkung auf
Haus und Familie; die Leidenschaft und Sehnsucht liebender Gemüther;
Wanderlust; Freude an Wein und Gesang; jugendliche Schwärmerei; ja
auch die liebenswerthe, unschuldige Sentimentalität des eben zur Jungfrau
emporreifenden Mädchens; – ein Jedes
wird Gaben für sich ausgestreut finden
dem reichen Füllhorn, das wir darbringen. Weiter aber, als bis zu dem
letzt Berührten, sind wir nicht gegangen. Alles Kränkliche, Blasse,
Verschwommene, alle Tändelei und aufgeputzte Romantik haben wir vermieden;
wir wollten nur den guten Elementen unsrer Lyrik, dem Ungekünstelten,
Wahren, Einfachen, Gesunden, dem Lebenskräftigen und ächt Menschlichen
Raum geben.
Leipzig, Februar 1865.
Der Herausgeber.
Erstdruck und Druckvorlage
Anthologie Deutscher Lyriker seit 1850.
Herausgegeben mit literarhistorischer Einleitung
und biographisch-kritischen Notizen
von Dr. Emil Kneschke.
Leipzig: Lorck 1865, S. 1-15.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
PURL: https://hdl.handle.net/2027/coo.31924026153076
URL: https://www.google.fr/books/edition/Anthologie_deutscher_Lyriker_seit_1850/eYc7AQAAMAAJ
URL: https://archive.org/details/bub_gb_QaI6AAAAcAAJ
Bibliographie der deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 – 1914
Literatur: Kneschke
Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus.
Freiburg i.Br. u.a. 2019.
Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik.
In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
Hrsg. von Dieter Lamping.
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Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches.
Frankfurt a.M. 2001 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1510).
Pott, Sandra: Poetiken.
Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke.
Berlin u. New York. 2004.
Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860.
Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).
Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert.
Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken.
In: Grundfragen der Lyrikologie.
Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysedimensionen.
Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a.
Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.
Zymner, Rüdiger: Funktionen der Lyrik.
Münster 2013.
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer