Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Anthologie
Literatur: Morgenblatt für gebildete Stände (ab 1837: Leser)
Fünf Bücher französischer Lyrik vom Zeitalter der Revolution bis auf unsere Tage in Uebersetzungen von Emanuel Geibel und Heinrich Leuthold. Stuttgart, 1862.
[161] Indem wir auf diese Sammlung, aus der wir neulich einige Proben mitgetheilt haben, in eingehenderer Würdigung zurückkommen, müssen wir hiebei von der allgemeinen Bemerkung ausgehen, daß die literarische und poetische Thätigkeit sich gegenwärtig überhaupt gerne solchen Sammelwerken, Chrestomathien und Anthologien zuwendet, wenigsten in Deutschland und England. Es ist das auch ein Symptom des allgemeinen Triebs nach encyklopädischer Uebersicht und internationaler Ausgleichung, welcher unsere ganze Zeit beherrscht. Die verschiedenen Nationalitäten wollen ihre geistige Bilanz gegen einander ziehen, um sich ihres eigensten Besitzes bewußt zu werden, damit zugleich aber auch der allgemeinen Solidarität und Wechselwirkung, in welcher sie zu einander stehen. Daß diesem Zweck mit Sammlungen von Gedichten einheimischer oder fremder Poeten, durch Uebersetzungen gewöhnlichen Schlags, wie sie so oft aus zufälliger Laune oder literarischer Spekulation bervorgehen, nicht gedient seyn kann, versteht sich von selbst. Es ist aber auch klar, daß sich derartige Auswüchse bei einer allgemeinen Erscheinung niemals vermeiden lassen; im Gegentheil ist immer, auch bei solchen Bestrebungen, die an sich vollkommen berechtigt und verdienstlich sind, die Masse des Ordinären, des bloß äußerlich Gemachten überwiegend, und nur einzelne Leistungen gehen aus eigentlichem Beruf bervor, sind mit tieferer Einsicht und nach höheren Gesichtspunkten gearbeitet. Diese ragen dann aber auch um so höher hervor aus ihrer handwerksmäßigen Umgebung und haben in der That eine nationale oder internationale Bedeutung.
Zu dieser Klasse dürfen wir vor vielen andern das vorliegende Buch
rechnen. Mit geringen Mitteln, in kurzen fünf oder vier Büchern,
gibt es ein sehr anschauliches Bild der ganzen poetischen Entwicklung
in Frankreich, von 1792 bis auf die Gegenwart. Ein Commentar hiezu ist
für einen halbwegs kundigen Leser überflüssig. Die Einfachheit der
Eintheilung springt von selbst in die Augen. Es ist im Großen genommen
eine dreitheilige: in der Mitte stehen die Romantiker; auf der einen
Seite derselben die Vorläufer, auf der andern die Epigonen und Dichter
verschiedener Richtungen. Der Begriff der Romantik ist für die
französische Poesie allerdings noch schwerer festzustellen als für
die deutsche; daher man, was uns in jeder Geschichte der französischen
Literatur auffällt, zu den Vorläufern der Romantik Männer rechnet,
die wir nach unsern Begriffen als die ausgesprochensten Romantiker,
fast als die einzig eigentlichen, anzusehen geneigt sind.
So vor allen Chateaubriand. Ist dieser chevalereske Kämpe für Thron
und Altar nicht an und für sich der größte französische Romantiker,
der eigentlichste und reinste in unserem Sinn? Freilich gehört er eben
wegen dieser seiner conservativen und retrospektiven Richtung auch
wieder ganz entschieden der alten Schule an, als ihr letzter und
glänzendster Vertreter. Denn darin liegt wohl hauptsächlich der
Unterschied der deutschen von der französischen Romantik, beide als
concrete literarhistorische Erscheinungen genommen, daß diese ihr
geschichtliches Ideal nicht, wie jene, in der Vergangenbeit, sondern
in der Zukunft hat. Wohl knüpfen, wie bekannt, auch die romantischen
Dichter der Franzosen an die historischen Gestalten der Vergangenheit,
des Mittelalters an. Man müßte noch nie etwas von den Romanen und
Dramen Victor Hugos gehört haben, um das nicht zu wissen. Eben so
wenig aber kann man sich darüber täuschen, daß das Interesse an
diesen Gestalten für sie kein eigentlich historisches, kein innerliches
und positives ist, daß sie dieselben, in weit höherem Grad als unsere
Romantiker, nur als äußeres glänzendes Material, als phantastisches
Costüm für ihre Figuren zu verwenden suchen, die einem ganz andern
Ideenkreis angehören. Mit Einem Wort: das subjektive Moment überwiegt
bei den französischen Romantikern, ganz anders als bei den deutschen,
das historische; oder, politisch ausgedrückt: jene sind ebenso
entschiedene Republikaner wie diese Royalisten. Darum ist Chateaubriand
kein Romantiker, und umgekehrt sind es andere, wie z. B. Alfred de Musset,
die nach unsern Begriffen nicht zur romantischen Schule, sondern höchsten
zu ihren Epigonen, zum "Verwesungsproceß" der Romantik gehörten.
Von solchen begrifflichen Distinktionen, die in solcher Kürze doch nicht gründlich zu erledigen sind, können wir aber hier absehen. Was uns an der gesammten neueren französischen Lyrik, wie sie in diesem übersichtlichen Umriß an uns vorübergeführt wird, zunächst und ganz vorzüglich auffällt, das ist der allgemeine Gegensatz des Classischen und Romantischen, der in Frankreich noch viel tiefer und schärfer ist als in Deutschland. Diese Kluft ist so groß, daß wir, die wir der neueren lyrischen Poesie in Frankreich nicht speciell gefolgt sind – und in diesem Fall sind wohl, trotz unserer gerühmten Polyhistorie, wohl die meisten Deutschen – uns gar nicht mehr zurecht zu finden wissen. In unsern Gedanken lebt, trotz allem, was wir Gegentheiliges schon erfahren haben, doch im Ganzen die alte Vorstellung von der classisch steifen, aristotelisch alexandrinischen [162] Poesie der Franzosen noch ungeschwächt fort. Wenn wir aber diese fünf Bücher französischer Lyrik von Anfang bis zu Ende durchgelesen haben und uns Rechenschaft geben wollen von dem allgemeinen Eindruck, den diese Lektüre auf uns gemacht hat, so können wir denselben nicht kürzer ausdrücken als in den Worten: die Gedichte sind überraschend, sie sind ganz erstaunlich deutsch. Oder müssen wir nicht bei sehr vielen, bei den meisten sagen: sie könnten eben so gut von einem deutschen Dichter herrühren? Wenn wir nicht das unzweifelhafte Ursprungszeugniß auf dem Titelblatt hätten, so würden wir fast die ganze Sammlung als eine deutsche hinnehmen können. Damit wollen wir natürlich nicht gesagt haben, daß der specifische Unterschied deutscher und französischer Poesie gänzlich vermischt sey; ist er doch unter den Dichtern derselben Nationalität immer so groß, daß sich bei genauerem Eingehen die Eigenthümlichkeit eines jeden aus den einzelnen Produkten, die uns von ihnen vorliegen, mit ziemlicher Sicherheit erkennen läßt. Ein Gedicht von Geibel und eines von Freiligrath, oder von zwei beliebigen andern deutschen Dichtern, wenn sie auch keinen poetischen Gegensatz repräsentiren, kann in den meisten Fällen doch jeder leicht unterscheiden. Und so ist es ganz auch bei den französischen, auch bei solchen, die einer und derselben Schule angehören, z. B. bei Hugo und <Sainte>-Beuve oder de Vigny. Es versteht sich also wohl von selbst, daß wir nicht gemeint seyn können, französische und deutsche Lyrik so ganz identificiren zu wollen, daß wir für den Unterschied der nationalen und individuellen Eigenthümlichkeit kein Auge mehr hätten; aber das behaupten wir unbedenklich: die Scheidewand, welche und früher die Produkte der französischen Poesie als fast etwas ganz Fremdartiges ansehen ließ, für das uns Empfänglichkeit und Verständniß so gut wie ganz fehlten, diese Scheidewand ist gefallen; es gibt eine Solidarität, eine Gemeinsamkeit der lyrischen Empfindungs- und Ausdrucksweise, die gegenwärtig alle großen Hauptnationalitäten umfaßt, und zwischen uns und den Franzosen eben so besteht, wie schon von länger her zwischen Deutschen und Engländern.
Wenn unser Buch kein anderes Verdienst hätte, als diese Wahrheit uns recht anschaulich vor Augen zu stellen, so wäre damit schon genug geleistet. Einiger Zweifel steigt uns dabei freilich auf, ob und nicht gerade die Vortrefflichkeit der Uebersetzungen bis auf einen gewissen Grad täuscht, ob uns diese französischen Gedichte nicht vielleicht deßwegen auch in ihrer ursprünglichen Anlage so ganz deutsch vorkommen, weil ihnen das deutsche Gewand so gut sitzt, als wären s Uebersetzung vieles aus; durch den vertrauten Laut erscheint uns auch der Gedanke verwandter, als er in Wahrheit ist. Wir sind nicht in der Lage, sämmtliche Uebersetzungen mit den Originalen vergleiden zu können; aber wir müssen gestehen: wo uns dieses möglich ist, bei Gedichten , die wir von Jugend auf in französischem Text auswendig wissen, wie bei den Liedern von Beranger, haben wir allerdings die Wahrnehmung gemacht, daß sie in der Uebersetzung sich uns ganz anders in's Ohr legen und einen ganz andern Eindruck auf uns machen als im Urtext. Man sagt wohl von Uebersetzungen, die sich wie das Original lesen, und wir haben die Erfahrung selbst auch schon gemacht; dieß ist aber nach unserer Ansicht bei Uebersetzungen aus dem Französiichen am wenigsten und seltensten der Fall. Der Genius der französischen Sprache steht von dem der unsrigen weiter ab als der irgend einer andern uns bekannten Hauptsprache. Wenn daher die vorliegenden Uebersetzungen auch Treue und Freiheit in ausgezeichnetem Maße vereinigen, so halten wir es doch der Natur der Sache nach für ganz unvermeidlich, daß sie nicht, gerade je fließender sie sind, nur um so mehr, durch die Verwandtheit der Form uns über die Verwandtheit des Inhalts täuschen; dieses aber, wie gesagt, doch nur bis auf einen gewissen Grad. Alles in Anschlag gebracht, bleibt so viel immer gewiß, daß die Lyrik der beiden Nationen einander in dem angegebenen Zeitraum unendlich näher gekommen ist, als sie vorher war, daß ein gemeinsamer Zug durch beide hindurch geht, ein Band, das sie für unsere Empfindung verbindet, daß wir das Fremde fast wie ein Eigenes genießen können. Und wenn wir fragen, wem bei dieser Assimilation die Initiative gehöre, so dürfen wir unbedenklich sagen: die Receptivität ist mehr auf Seite der Franzosen, während das active, mittheilende Moment überwiegend uns zukommt. Es ist hier nicht der Ort, auf die Einflüsse, die von der deutschen Literatur und Philosophie aus vom zweiten und dritten Decennium dieses Jahrhunderts an auf die Entwicklung des französischen Geistes sich geltend gemacht haben, näher einzugehen; nach unserer Ueberzeugung sind dieselben so überwiegend, daß wir uns fast zu der Behauptung hinreißen lassen könnten: die ganze französische Romantik und der durch sie eingeleitete Bildungs- oder Umbildungsproceß sey nichts anderes als die Gährung des noch nicht vollständig aufgenommenen und verarbeiteten deutschen Sauerteigs.
[185] Unsere Aufgabe wäre es nun freilich, was wir als das deutsche Element in der französischen Lyrik bezeichnet haben, im Einzelnen nachzuweisen. Vielleicht machen die vorliegenden Gedichte doch nicht auf jeden Leser denselben Eindruck wie auf uns, und wir hätten unsern subjektiven Geschmack zu rechtfertigen, unser Urtheil im Concreten zu begründen. Das können wir natürlich nicht, indem wir auf jedes einzelne Gedicht, oder auch nur auf die bedeutendsten unter den Dichtern uns näher einlassen; aber wir zweifeln nicht: wenn wir auch nur ganz im Allgemeinen fragen, ob hier nicht etwas ganz anderes und von dem, was man sonst unter französischer Poesie sich gedacht hat, specifisch verschiedenes gegeben sey, so müßte jeder kundige und einsichtsvolle Leser entschieden mit Ja antworten. Form und Inhalt sind gleichmäßig neu und wie umgewandelt. Wir verweisen vor allem auf die erotischen Gedichte, in welchen der Unterschied des nationalen Genius sich am meisten charakteristisch auszuprägen pflegt. Wir waren bisher immer der Ansicht, daß die romanischen Völker überhaupt und die Franzosen insbesondere das Sentiment in unserem Sinn nicht kennen, daß das erotische Gefühl bei ihnen entweder rein sinnlicher Natur sey, oder in einer leidenschaftlichen Galanterie bestehe, daß ihnen, mit Einem Wort, das abgehe, was wir Gemüth nennen. Geht aber aus den Proben französischer Lyrik, wie sie uns hier vorgelegt werden, nicht unzweideutig hervor, daß auch dieses so lange in absoluter Geltung gestandene Axiom doch nur sehr relativ zu nehmen ist. Die französischen Lyriker durchlaufen die ganze Scala der Empfindung so gut wie die deutschen Dichter; der tiefere Griff, der eigentliche Schmelz mag ihnen hiebei immerhin abgehen; aber ihre Schule haben sie durchgemacht. Der Unterschied, der bei aller wirklichen und scheinbaren Aehnlichkeit immer noch bleibt, läßt sich vielleicht am besten erkennen auf dem Punkte, wo die französische wie die deutsche Romantik sich selbst auflöst, wo sie von der äußersten poetischen Position in den absoluten Nihilismus ber Selbstironisirung übergeht. Vergleichen wir in dieser Hinsicht unsern Heine – wir nennen ihn immerhin so – mit dem französischer Seits ihm so vielfach verwandten Alfred de Musset. Von letzterem finden wir ein Gedicht: "Die Heimkehr;" ein schönes Gedicht fürwahr, es schildert auf's trefflichste das Wiedereinrücken des fashionablen Poeten in Paris, nach seiner sentimentalen Villeggiatur, "beim ersten scharfen Frost im Herbst." – "Das ist die Zeit der Stadt."
– – – – Wie fürstlich zogen
Im rothen Lampenglanz dahin der Seine Wogen!
Schon ahnt' ich Winterlust und dich, mein Leben, dich.
Das ist gewiß höchst stimmungsvoll. So kehrt der Pariser heim; der frostige Novemberabend, die im rothen Lampenschein schimmernden Wogen der Seine geben ihm ein um so wärmeres Gefühl der Freuden, die ihn erwarten. Nun aber die niederschlagende Heine'sche Douche!
Mich trieb's, in deinem Blick die Seele zu versenken,
Und stürmisch jauchzt' ich auf. – Denn o, wie konnt' ich denken,
Daß gar so rasch. Madame, Ihr Herz erkühlt für mich!
Jedermann wird hiebei unwillkürlich an die bekannten Strophen von Heine denken: "Nur einmal noch möcht' ich dich wiederseben .... und sterbend zu dir sprechen: Madame, ich liebe Sie!" Aber welch großer, himmelweiter Unterschied bei aller Aehnlichkeit! wie ist der Vortheil dabei so ganz auf Seite des Deutschen! Wir sprechen so gerne von der unnachahmlichen Leichtigkeit und Leichtfertigkeit der Franzosen; aber es gibt auch eine französische Steifigkeit und Pedanterie, die sie nicht los werden, sie mögen in eine Schule gehen, in welche sie wollen. Oder hat nicht die Musset'sche, die französische Pointe etwas unverkennbar Kühles und Steifes? Und rührt dieß nicht daber, daß die poetische Frivolität um so frostiger wegkommt, je größer die poetische ist? Oder vielmehr, so paradox dieß auch klingen mag, der Franzose ist nie so ganz und gründlich frivol wie der Deutsche, weil ihm eben das tiefste Gefühl für den Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit, vom Himmlischen und Teuflischen abgeht, weil er es nicht versteht, beides wirklich auf einander zu beziehen und mit wahrhaft dämonischer Strahlenbrechung in einander spielen zu lassen. Das Hohngelächter der Hölle schneidet um so entsetzlicher durch Mark und Bein, ein je tieferes Gefühl aller himmlischen Wonnen ihm vorangegangen ist und ihm immer noch wie ein mitleidiger Engel gegenüber steht. Diesen tiefsten poetischen Gegensatz haben die Franzosen nach unserer Ueberzeugung noch immer nicht gefunden, und sie [186] erreichen ihn auch nicht, wenn sie mit äußern Mitteln noch so sehr sich selbst überbieten, wie z. B. Victor Hugo in seiner früher schon von uns in diesen Blättern besprochenen "Weltlegende."
Wir bleiben dabei, die französische Lyrik ist der deutschen nach Form und Inbalt auf eine überraschende Weise ähnlich geworden, ähnlicher als wohl die Meisten es wußten und ahnten. Dabei verkennen wir aber keinen Augenblick, welch tiefgehender, in der ganzen Anlage der beiden Nationen wurzelnder Unterschied immer noch auf dem letzten Grunde verborgen ist. Wir wollen als Beleg hiefür nur noch ein Gedicht anführen, eines der glänzendsten der ganzen Sammlung, "die Favorite" von V. Hugo. Wieder sagen wir mit voller Ueberzeugung: ein ausgezeichnetes Gedicht, von einer Pracht und einem Farbenreichthum, die selten übertroffen worden sind.
Balsora, Trapezunt, das hehre,
Nimm hin und Cyperns alten Ruhm,
Nimm Mosul mit dem Weltverkehre
Und Fez, das Goldstaub schickt zum Meere,
Und das bethürmte Erzerum.
Nimm Smyrnas Markt, wo an die neuen
Paläste blau der Hafen stößt,
Den Ganges, den die Wittwen scheuen,
Die Donau, deren Wogendräuen
Sich friedlich in fünf Ströme löst.
Was schaust du auf Circassiens Schönen,
Damansurs Lilien neidisch hin?
Was auf die Mohrin, die mit Stöhnen
Nach Liebe lechzt in fremden Tönen,
Wie eine junge Tigerin?
Diese Strophen, von denen fast jedes einzelne Wort mit so vollwichtigem Klang hinfällt, erinnern nach ihren Licht- wie nach ihren Schattenseiten an so manche neuere deutsche Gedichte, an Freiligrath z. B., vielleicht noch specieller an Lingg; auch nach ihren Schattenseiten, denn auch unsere glänzendsten und berühmtesten Gedichte leiden nicht selten an ähnlichen gewaltsamen und bizarren Bildern und bedecken mit den tönendsten Worten oft nur ein hohles Pathos. Aber doch gewiß selten fehlt einem Gedicht eines deutschen Meisters von der überragenden Stellung, wie sie V. Hugo in der französischen Poesie einnimmt, in so hohem Grad die tiefere psychologische Motivirung, wie wir sie hier vermissen. Wenn wir in der ersten Strophe lesen:
Es folge deines Fächers Schlägen
Nicht steis ein Schlag des Beiles nach,
so können wir das nicht gehörig verstehen und erwarten weiteren Aufschluß vom Folgenden. Warum ist die Favorite so blutgierig, daß sie des Sultans ganzes Frauengemach entvölkert? vielleicht weil sie Jüdin ist? Das möchten das sollten wir wissen. Eine leise Andeutung hierüber würde dem Ganzen erst den rechten Hintergrund geben, auf dessen dämonischer Nacht sich der verschwenderische Glanz dieser überreichen Bilder um so blendender abhöbe. Aber auch nicht den leisesten Wink erhalten wir, der uns mehr verriethe, als daß die Favorite von einer allgemeinen, fast möchte man sagen von einer abstrakten Eifersucht gegen alle Frauen erfüllt ist. Und eben so wenig vermögen wir den Sultan recht zu begreifen, der für seine schönen Circassierinnen bittet mit "zartem Erbarmen," und dann die Hand am Griff schließt:
Dem Sultan stehen Sultaninnen
Dem Dolche stehen Perlen gut.
Was ist seine eigentliche Willensmeinung? Ein rechter Sultan läßt entweder sein ganzes Harem köpfen und sacken, der Einen zulieb, die "liebkosend sein Verlangen mit ihrer Lippen Balsam stillt," und nachher kauft er sich ein neues, oder er taucht ohne weiteres seinen Dolch in den Busen "Der grimmsten der Sirenen" und will "der Rose wegen nicht die blauen harmlosen Blumen sterben sehen." Der Sultan der Poesie ist zwar nicht so ganz streng an diese Alternative gebunden, aber wissen müssen wir doch, wessen wir uns etwa von ihm zu versehen haben; sonst haben wir eine Pointe, so scharf wie eine Damascener Klinge, und ist doch nicht gehauen und nicht gestochen. Und das ist es eben, was nach unserer Ansicht der französisichen Poesie leichter begegnet als der deutschen, weil ihr bei aller sonstigen formellen und auch materiellen Uebereinstimmung doch die letzte und tiefste philosophische und psychologische Begründung fehlt.
Wir verlassen aber die rein geistige und ästhetische Seite der Sache und geben zur socialen und politischen über, wobei sich unsere Ansicht vielleicht noch deutlicher herausstellt. Die französische Lyrik liegt uns hier wie eine geschlossene Periode, wie ein vollständig abgewickelter Proceß vor; und sie ist dieß auch in einem andern Sinn, in einem weit höheren Grad als die deutsche. Wir können natürlich nicht der Meinung seyn, daß der Genius der französischen Poesie sich für immer erschöpft habe, daß nicht eine neue und höhere Entwicklungsreihe von ihm zu erwarten sey. Aber eine bestimmte Phase hat er nach unserer Ansicht vollkommen durchgemacht, deren Anfangs- und Endpunkte sich genau bezeichnen lassen, und die auch in unserem Buche durch die Gedichte von Chénier und Barbier sehr scharf markirt sind. Es ist dieß ganz anders als in der deutschen Literatur, wo wir die einzelnen Perioden freilich auch sehr bestimmt unterscheiden, wo sie aber doch keineswegs so schroff von einander getrennt und abgeschnitten sind. Wir nennen z. B. unsere heutigen Poeten wohl auch Epigonen; aber sie sind mit den Dichtern unserer classischen und romantischen Periode doch in [187] ganz anderer Weise verwachsen als die Vertreter der nachromantischen Poesie in Frankreich. Die geistige Continuität ist, mit Einem Wort, bei uns eine viel engere und stetigere. Dieß kann aber, wenn unsere Anschauung nicht eine durchaus irrige ist, nur daber rühren, daß die geistige und die politische Entwicklung bei den Franzosen viel genauer zusammenfällt als bei uns, d. h. also, daß die erstere von letzterer viel mehr abhängig, daß sie weit weniger tief und in sich selbst gegründet ist. Dieser Zusammenhang ist der bekannte Vorzug des französischen Lebens, ebenso aber auch sein Nachtheil; er scheint um so tiefer und innerlicher zu seyn, je mehr er bloß äußerlich und oberflächlich ist. Die Entwicklung der französischen Poesie ist mit der Entwicklung des französischen Freiheitsbegriffs verlaufen; beide sind mit einander am Ende. Das ist, kurz ausgedrückt, das Gesetz, unter dem sie steht, und dieß ist der Verlauf, wie er sich und auch in der gegenwärtigen Sammlung so klar und handgreiflich darstellt. Daß er sich hier so deutlich herausstellt, das gibt ihr gerade in unsern Augen einen so hohen Werth.
Die Subjektivität, die sich in der modernen Lyrik Frankreichs ihren Ausdruck gibt, ist in der That erst durch die Revolution von der Objektivität der alten classischen Form und Vorstellungsweise losgelößt worden. Von da an fallen ihre Entwicklungsmomente genau mit den Phasen der steigenden politischen Aktion oder Reaktion zusammen. Anstatt die Romantik als das Centrum der Entwicklung anzunehmen und um dieses die Vorläufer und Epigonen zu gruppiren, könnte man vielleicht noch richtiger sagen: die Poesie der Revolution, die des ersten Kaiserthums und der Restauration, des Julikönigthums und endlich des zweiten Kaiserthums, wenn es unter diesem noch eine Poesie und überhaupt eine eigenthümliche, selbstständige Literatur gibt. Wer die verschiedenen Entwicklungsphasen dieser Poesie näher charakterisiren wollte, für den wäre daber auch ein Eingehen auf die correspondirenden politischen Perioden unumgänglich. Dieß ist hier unmöglich, und es ist uns ohnehin erspart, auf die einzelnen Unterabtheilungen genauer uns einzulassen, da der Gedanke des Ganzen in den öfters erwähnten beiden Anfangs- und Endpunkten so deutlich ausgesprochen ist. Die rührende Klage der "jungen Gefangenen" ist der Schmerzensruf um die gemordete Freibeit, um die junge Republik, die niedergetretenen Hoffnungen Frankreichs. Aber noch in Chéniers "letzten Zeilen", wo er die Leier rührt am "Fuße des Schaffottes," klingt ein hoffnungsvoller Todesmuth, eine schöne ideale Begeisterung durch. Die Freiheit, ob man auch ihre Jünger wie Schwaden vor der Sense niedermäht, die Freiheit ist unsterblich. Dieser Ton klingt fort, in Chenedollés "Gladiator," in Casimir Delavignes "Parisienne," in allen folgenden Dichtern. Der politische Zug geht durch alle hindurch; wie oft kehrt in den Gedichten der Name Napoleon wieder! Fast ließen sich die Dichter darnach classificiren, wie sie, zürnend oder huldigend, zu diesem Schiboleth sich stellen. Sie sind alle Sänger der Revolution, ob der disciplinirten oder der undisciplinirten Demokratie; das ist ein Unterschied, der fast kein Unterschied ist. Die Hoffnung auf eine letzte, auf die rechte Revolution lebte unerschütterlich fort; der Glaube an das ewige Volk war unvertilglich. Aber jetzt! jetzt ist der Crater ausgebrannt, die Hoffnung scheint vorüber für immer.
Die Revolution, die Wolke schwarz und groß,
Hier borst sie oft; allein nur Blut enthielt ihr Schooß.
Und das Volk –
– Was ist das Volk? Es ist die Schenkendirne,
Die, wenn von Wein das Blut ihr kocht,
Sich den zum Buhlen wählt, der mit verwegner Stirne
Und eh'rnem Arm sie unterjocht.
Nichts ist übrig geblieben von allem Glauben und Hoffen, von dem ganzen höheren Leben Frankreichs, als Paris, der "Höllenkessel," der brodelnde Vulcan, der Schlund, in welchem jede Jugend rettungslos untergeht, der nur den Schmutz des Lasters, den Auswurf jedes Volks bestimmt scheint zu empfahn, und "der von Zeit zu Zeit, erhitzt von trüben Gluthen, aufkocht, mit seinem Schlamm die Welt zu überfluthen." Die Politik ist am Ende, und die Poesie mit ihr –
Fluch über dich, Napoleon!
So spiegelt sich das politische und sociale Leben in der Poesie und dieses in jenem. "Was habt ihr aus Frankreich gemacht?" Das Interesse für die französische Poesie, welches das im Bisherigen besprochene Buch in uns auf's Neue zu wecken so sehr geeignet ist, muß auch unsere Sympathie für die sociale und politische Lage Frankreichs auf's Wärmste anfachen. Sind wir es doch, die der brodelnde Höllenkessel mit seinem Schlamm vor allen andern zu überfluthen pflegt. Wenn wir an die alten Franzosen aller vorangegangenen Perioden, bis auf die orleanistische Zeit zurückdenken: wie liebenswürdig erscheinen sie uns jetzt, ob sie auch unsere Feinde waren – vivent nos amis les ennemis! Ihre Literatur, wenn auch von einem ganz andern Genius getragen als die unsrige, wie ist sie fein und geistreich! Die Prosa von classischer Anmuth und die Verse – "fast so schön wie Prosa." Das kann, das darf nicht für immer untergehen in dem napoleonischen Höllenkessel. Wir bedürfen, die Welt bedarf der "liebenswürdigen" Franzosen – aber noch mehr bedürfen sie unser. Vor vierzig Jahren haben wir angefangen auf ihre Literatur und Poesie den mächtigsten Einfluß auszuüben, aus dem unstreitig so vieles hervorgegangen ist, von was wir uns jetzt selbst überrascht finden. Beginnt nicht eben jetzt eine ähnliche Einwirkung auf das politische Leben Frankreichs von Deutschland aus sich geltend zu machen? Die Freiheit, die unter den Tritten des Despoten gegenwärtig auf's neue hervorzusprossen anfängt, die ihre zarten Keime [188] noch schüchtern, aber hoffnungsvoll dem Licht entgegenstreckt, sie wird zumeist von Deutschland aus, durch Deutsche und von deutschen Anschauungen und Begriffen aus, genährt und verfochten. Wenn die deutsche Freiheit, die Freiheit "wie in Oesterreich," wie in Deutschland, erst völlig auch in Frankreich durchschlägt: wird der Höllenkessel nicht ausgefüllt werden können? wird nicht ein neues politisches Leben und damit auch eine neue Poesie in Frankreich anheben?
Erstdruck und Druckvorlage
Morgenblatt für gebildete Leser.
Jg. 57, 1863:
Nr. 7, 12. Februar, S. 161-162
Nr. 8, 19. Februar, S. 185-188.
Ungzeichnet.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Morgenblatt für gebildete Stände
(ab 1837, Nr. 156: Morgenblatt für gebildete Leser) online
URL: https://digipress.digitale-sammlungen.de/calendar/newspaper/bsbmult00000491
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008919640
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Morgenblatt_(Cotta)
Zeitschriften-Repertorien
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Literatur: anonym
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Literatur: Morgenblatt für gebildete Stände (ab 1837: Leser)
Böning, Holger: Johann Friedrich Cotta - ein Zeitungsverleger neuen Typuss
In: Johann Friedrich Cotta. Verleger Unternehmer Technikpionier.
Hrsg. von Helmuth Mojem, Barbara Potthast.
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Fischer, Bernhard:
Morgenblatt für gebildete Stände / gebildete Leser 1807 – 1865.
Nach dem Redaktionsexemplar im Cotta-Archiv (Stiftung "Stuttgarter Zeitung").
Register der Honorarempfänger / Autoren und Kollationsprotokolle.
München 2000.
S. 9-28: Einleitung; Programm und Mitarbeiter des "Morgenblatts".
Fischer, Bernhard: Paris, London und anderswo.
Zur Welterfahrung in Hermann Hauffs "Morgenblatt" der 1830er Jahre.
In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 329-373.
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In: Lyrik des Realismus.
Hrsg. von Christian Begemann u. Simon Bunke.
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Mojem, Helmuth / Potthast, Barbara (Hrsg.): Johann Friedrich Cotta.
Verleger Unternehmer Technikpionier.
Heidelberg 2017.
Obenaus, Sibylle: Die deutschen allgemeinen kritischen Zeitschriften
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entwurf einer Gesamtdarstellung.
In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14 (1973), Sp. 1-122.
Peek, Sabine: Cottas Morgenblatt für gebildete Stände.
Seine Entwicklung und Bedeutung unter der Redaktion der Brüder Hauff (1827 1865).
In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 6 (1966), Sp. 1427-1660.
Peters, Anja: "Eine reine Geldangelegenheit"s
Nineteenth-Century Writers' Correspondence with
the Morgenblatt für gebildete Stände.
In: Forum for Modern Language Studies 46.3 (2010), S. 321333.
DOI: https://doi.org/10.1093/fmls/cqq011
Strohschneider, Moritz: Hermann Hauffs programmatische Aufsätze
über das "Morgenblatt für gebildete Stände" von 1827.
Mit einer Edition der Texte.
In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 64 (2020), S. 39-64.
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer