Text
Editionsbericht
Literatur
II. Lyrische Poesie.
Ihr Wesen und ihre Eintheilung.
Die lyrische Poesie (vom griechischen
λύρα,
Leyer, weil die Griechen
mit diesem Saiteninstrumente den Gesang zu begleiten pflegten) auch
melische Dichtung genannt (von
μέλος,
Glied, strophisch gegliedertes
Lied) bildet zur epischen Poesie einen entschiedenen Gegensatz. Während
nämlich diese den Stoff in
[35] seiner vollen Objectivität erfaßt, ihn mit ruhiger Anschauung
wiedergibt, spricht jene dagegen die unmittelbare, subjective Stimmung
aus, welche derselbe im Gemüthe des Dichters hervorruft. Da nun das
Gefühl der verschiedenartigsten Abstufungen und Neuerungen fähig ist,
und auch die Eigenthümlichkeit des Dichters – seine Individualität, –
hier in ungehemmter Freiheit waltet, so erwächst für die Lyrik eine weit
größere Mannigfaltigkeit des innern Lebens. Doch kann den Empfindungen,
welche der Lyriker ausspricht, nur in so weit eine wahrhafte Bedeutung
und ein ästhetischer Werth zuerkannt werden, als in ihrer Besonderheit
zugleich auch allgemein menschliche Empfindungen sich spiegeln. Um
eine solche Wirkung zu üben, um zum Organe dessen zu werden, was jedes
menschliche Herz zu bewegen vermag, muß dem Dichter nicht bloß eine
ungewöhnliche Stärke der Empfindung eigen sein, er bedarf auch der
höchsten Empfänglichkeit, der größten Feinheit des Gefühles. Wenn daher
mit dem Epos die bildende Kunst, insbesondere die Plastik, verglichen
wurde, so wird der Lyrik vorzugsweise die Musik entsprechen, welche ja
ebenfalls ein Ausdruck lebhaft bewegter Gefühle ist. Die Erregung des
Gefühles darf aber in dem Dichter niemals eine so gewaltsame und
stürmische sein, daß sie ihn verhindert, jene Freiheit und Besonnenheit
sich zu bewahren, durch welche alles Trübe verklärt, das Individuelle zum
Allgemeinen, zur Idealität erhoben wird. Nur so wird auch das
gelegentlich Hervorgerufene und Locale die unvergängliche Weihe der Kunst
erhalten. Dieß Ziel wird der lyrische Dichter um so sicherer erreichen,
je mächtiger, reiner und edler seine Empfindung ist und auf je größerer
Höhe sein ganzes Gemüthsleben steht.
Das innere Leben kann aber
1) als Erguß des Gefühles die Subjectivität des Dichters in seinen persönlichen Erlebnissen, individuellen Lagen und Stimmungen unmittelbar abspiegeln. Es kann aber auch
2) auf große Objecte der Begeisterung und bewundernder Anschauung, auf herzerhebende Wahrheiten oder zur Wehmuth stimmende Ereignisse und Verhältnisse gerichtet sein; und endlich kann es sich
[36] 3) der Außenwelt mahnend und belehrend zuwenden. Der Dichter ergießt dann sein Gefühl theils in sittlich berechtigten Tadel oder Spott, theils folgt er dem Drange vertraulicher Mittheilung der eigenen Lebensansicht. Oft aber auch ringt sich das Gefühl ganz in die Region des Gedankens empor und verweilt in ihr mit stiller Betrachtung. In allen zuletzt genannten Fällen zeigt sich somit ein vorwiegend didaktisches Element.
Hieraus ergibt sich nun für die Lyrik eine ähnliche Eintheilung wie für die Epik. Man hat zu unterscheiden
A. Die reine Lyrik oder Lyrik des Gefühles –
wohin besonders das Lied zu zählen ist.
B. Die Lyrik der Anschauung,
wohin die Ode und die Hymne, dann die Elegie zu rechnen sind.
C. Die didaktische Lyrik, welche die Satire und
Epistel in sich befaßt,
auch als Gedankenlyrik sich verschiedener kleinerer Formen wie der
des Sonettes, der Ghasele, Glosse
u. s. f. bedienen kann.
Erstdruck und Druckvorlage
Friedrich Beck: Lehrbuch der Poetik
für höhere Unterrichts-Anstalten wie auch zum Privatgebrauche.
München: Fleischmann 1862
(= Friedrich Beck: Theorie der Prosa und Poesie.
Ein Leitfaden für den Unterricht in der Stilistik (Rhetorik) und Poetik
an Gymnasien und verwandten Lehranstalten wie auch zum Privatgebrauche.
Zweite Abtheilung: Poetik).
Unser Auszug: S. 34-36.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
PURL: https://hdl.handle.net/2027/umn.31951002122239x
URL: https://www.google.de/books/edition/Theorie_der_Prosa_und_Poesie/xSdKAAAAcAAJ
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Edition
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