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Editionsbericht
Werkverzeichnis
Literatur: Prutz
Literatur: Literaturgeschichte
Wer also lüstern ist nach einem neuen klassischen Zeitalter der deutschen Dichtung, das vermöge seines größeren und reicheren Inhalts jenes frühere dann allerdings übertreffen wird, in ähnlicher Art etwa, wie Shakespeare Goethe und Schiller überragt; wen es verlangt nach einer neuen Blüte unserer Literatur, die dann eben so realistisch wie idealistisch, eben so politisch wie ästhetisch sein wird – der wird allerdings zunächst nichts besseres thun können, als wenn er darauf hinarbeitet, den politisch praktischen Sinn der Nation zu stärken und zu heben und eben dadurch den Eintritt jener neuen geschichtlichen Epoche, von der allein auch der Eintritt einer neuen poetischen Epoche abhängig ist, zu beschleunigen. Er studire denn also Geschichte und Nationalökonomie und Statistik, er sei ein regelmäßer Zuhörer auf den Tribünen unserer Kammern und stähle seine Geduld, indem er das hundertmal Vernommene zum hundert und erstenmale wieder hört; er sehe auch dem Bauern zu, wie er seinen Dünger fährt und dem Schuster, wie er Pechdraht zieht; ja er lade, wenn dies so zu seinem ästhetischen Katechismus gehört, auch unsere angehenden Dichter ein, ihm dabei Gesellschaft zu leisten und sich ebenfalls in den Realismus der Düngerbereitung zu vertiefen – –
Aber nur das Dichten verbiete er nicht! Er spiele nicht den kleinen Papst und belege nicht mit Bann und Interdict, die nicht überhaupt verstummen wollen, weil die Morgendämmerung jener neuen klassischen Epoche noch nicht da ist, und die, weil die Zeit ihnen [24] noch keine größeren Stoffe bietet, sich einstweilen noch begnügen, ihre eigenen kleinen Leiden und Freuden zu singen oder der – oft, wir geben es zu, sehr gegenstandlosen – Sehnsucht des Volkes Worte zu geben oder auch die Schäden und Schwären abzuzeichnen, mit denen der Leib des Vaterlandes in diesem Augenblick noch behaftet ist. Eine künftige glücklichere Zeit, welche das Siechthum abgeschüttelt hat, an dem wir noch darniederliegen, wird dies alles nicht mehr thun, weil sie es nicht nöthig hat. Aber diese glücklichere Epoche ist noch nicht da, wir leben noch in der Zeit der individuellen Leiden und Freuden, der patriotischen Sehnsucht, der nationalen Krankheit und Erniedrigung – "und der Lebende hat Recht!"
Und weil man nun dies auf Seiten unserer neuesten Kritiker und Literarhistoriker vergessen hatte, und weil ferner jede Uebertreibung auf der einen nothwendig eine andere nach der entgegengesetzten Seite hin hervorruft, so hat sich in jüngster Zeit ein bis dahin allerdings sehr vereinzeltes Bestreben kund gethan, die Literatur der Gegenwart vielmehr ins güngstigste Licht zu rücken und sie sogar als einen Fortschritt gegen unsere klassische Literatur zu demonstriren, und zwar nicht bloß einen beabsichtigten, gleichsam innerlich versteckten, sondern als einen auch schon wirklich ausgeführten und vollendeten Fortschritt.
Da diese enthusiastischen Lobredner unserer neuesten Literatur bisher im Ganzen nicht viel Anklang gefunden haben, weder beim Publicum, noch selbst bei ihren Kollegen von der Feder, so brauchen wir uns auch bei ihrer Widerlegung nicht lange aufzuhalten. Gemeinsam mit den Verächtern unserer neuesten Literatur ist ihnen der geringschätzige Seitenblick, den sie auf unsere klassische Epoche werfen. Und freilich ist das für sie noch eine dringendere Nothwendigkeit als für jene. Denn da sie uns ja beweisen wollen, daß wir glücklichen Menschen aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts [25] die Heroen aus dem Ende des achtzehnten bereits um mehrere Kopflängen überragen, so erfordert es allerdings ihr Vortheil, jene Heroen so klein wie möglich darzustellen. Diese Beurtheiler stützen sich dabei gewöhnlich auf einen Umstand, der auch von uns bereits angedeutet wurde: nämlich auf den ungleich reicheren Inhalt unserer Zeit, nämlich nach der historisch politischen, oder noch allgemeiner gesagt, nach der nationalen Seite hin.
Sie lassen dabei nur eines außer Acht, diese mehr liebenswürdigen und wohlmeinenden als scharfsinnigen Kritiker: nämlich daß, wie von uns ebenfalls erinnert ward, der Inhalt einer Zeit nur jedesmal zum vollständigen und in sich harmonischen poetischen Ausdruck gelangt, wenn die Zeit selbst dieses Inhalts vollkommen mächtig ist. Wer aber möchte wol behaupten, daß dies mit der Zeit, in der wir leben, der Fall? da ja im Gegentheil das Halbe und Unfertige, das erfolglose Streben nach Zielen, die wir gern erreichen möchten und doch nicht erreichen können, der wahre Charakter unseres Zeitalters ist. Zugegeben, daß der Inhalt unserer Zeit an sich ein größerer und bedeutenderer ist und daß somit auch der Poesie in unseren Tagen neuere und höhere Preise gesteckt sind, als zur Zeit unserer klassischen Dichtung: so hat doch diese letztere dafür ihren an sich kleineren und ärmlicheren Inhalt so rein und vollständig zur Darstellung gebracht, Absicht und Ausführung, Form und Inhalt decken sich in ihren gelungensten Erzeugnissen so vollständig, daß eben nichts darüber geht, und daß selbst Generationen, die der damaligen Bildung noch weit mehr überlegen sein werden, als wir uns augenblicklich rühmen dürfen, doch noch immer die Vollendung dessen, was damals geleistet ward und den Umständen nach allein geleistet werden konnte, mit Bewunderung anerkennen werden. Es ist richtig, daß gerade der reichere und großartigere Inhalt, dessen unsere Zeit sich zu bemächtigen sucht, eben [26] deßhalb auch die Aufgabe des Poeten bei weitem schwieriger macht; es ist allemal leichter, ein Goethe'sches Lied zu dichten, als ein Shakespeare'sches Drama. Wir gehen sogar noch weiter; wir gestehen zu, daß es Zeiten giebt von so revolutionärer Gährung und so krankhaftem, ungewissen Inhalt, daß ein vollendetes Kunstwerk innerhalb ihrer schlechthin nicht zu Stande kommen kann – und wir sind sogar sehr ernstlich gesonnen, unsere gegenwärtige Zeit für eine solche kranke, in sich zerspaltene und darum auch der reinen poetischen Darstellung unfähige Zeit zu erklären. Aber wenn es kindisch ist (und jene früher besprochenen Rhadamanthe lassen sich diese Kinderei zu Schulden kommen), diesen allgemeinen Fluch der Zeit den einzelnen Dichtern und Schriftstellern in die Schuhe zu schieben und sie dafür verantwortlich zu machen, daß unsere Staatsmänner nicht weiser, unsere Feldherren nicht glücklicher, unsere gesammte Nation nicht einsichtvoller und thatkräftiger: so ist es zwar gutmüthiger, aber darum nicht minder eitel und vergeblich, von jener allgemeinen Krankheit überhaupt keine Notiz nehmen zu wollen und sich für gesund zu erklären, bloß weil man es gern sein möchte. –
Erstdruck und Druckvorlage
Robert Prutz: Die deutsche Literatur der Gegenwart. 1848 bis 1858.
Bd. 1. Leipzig: Voigt & Günther 1859, S. 1-38.
Unser Auszug: S. 23-26.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10734488
PURL: https://hdl.handle.net/2027/osu.32435031074735
URL: https://books.google.com.bo/books?id=TlVUAAAAcAAJ
Werkverzeichnis
Verzeichnisse
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[PDF]
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100865826
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Nr. 216, 9. September, Sp. 1725-1728.
URL: http://www.ub.uni-koeln.de/cdm/search/collection/hallische
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URL: http://www.ub.uni-koeln.de/cdm/search/collection/hallische
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Jg. 3, 1840:
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Nr. 311, 28. Dezember, Sp. 2481-2484.
URL: http://www.ub.uni-koeln.de/cdm/search/collection/hallische
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URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10734484
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Gezeichnet: P.; Zuschreibung nach Klutentreter 1966, Teil 2, S. 219.
PURL: http://www.ub.uni-koeln.de/permalink/2018/00/katkey:455074
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Prutz, Robert: Die politische Poesie der Deutschen.
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URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10116502
URL: https://archive.org/details/bub_gb_J986AAAAcAAJ
PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.hntw7d
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URL: https://archive.org/details/kleineschriften02prutgoog
PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.32044051087914
URL: https://books.google.fr/books?id=hoccQeEhxIAC
Prutz, Robert: Kleine Schriften. Zur Politik und Literatur.
Bd. 2. Merseburg: Garcke 1847.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10135695
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Prutz, Robert:
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URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/217526-5
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/003948951
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PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.hnxsmp
URL: https://archive.org/details/neueschriftenzu00prutgoog
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Prutz, Robert: Neue Lyriker.
In: Deutsches Museum.
Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
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URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/217526-5
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/003948951
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Ein lyrisches Album.
Prag: Kober & Markgraf 1859.
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Prutz, Robert:
Die deutsche Literatur der Gegenwart. 1848 bis 1858.
Bd. 1. Leipzig: Voigt & Günther 1859.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10734488
PURL: https://hdl.handle.net/2027/osu.32435031074735
URL: https://books.google.com.bo/books?id=TlVUAAAAcAAJ
Prutz, Robert: Die deutsche Literatur der Gegenwart. 1848 bis 1858.
Bd. 2. Leipzig: Voigt & Günther 1859.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10814265
PURL: https://hdl.handle.net/2027/osu.32435031074735
URL: https://books.google.fr/books?id=RP49AAAAYAAJ
Prutz, Robert:
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In: Deutsches Museum.
Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
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URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/217526-5
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/010308807
Prutz, Robert: Ein Münchner Dichterbuch.
"Ein Münchner Dichterbuch. Herausgegeben von Emanuel Geibel."
(Stuttgart, Kröner).
In: Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
1862:
Nr. 34, 21. August, S. 289-299;
Nr. 35, 28. August, S. 331-337.
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/217526-5
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/003948951
Ungezeichnet.
[Prutz, Robert]: Hermann Marggraff. (Geboren 14. September 1809, gestorben 11. Februar 1864).
In: Deutsches Museum.
Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
1864, Nr. 10, 10. März, S. 337-352.
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/217526-5
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Lyriktheorie » R. Brandmeyer