Text
Editionsbericht
Literatur: Honegger
Literatur: Hugo-Rezeption
Die That ist der Leib gewordene Menschengeist, die fortschreitende That bildet die Geschichte im engern Sinne, ein herrschendes Heraustreten des Geistes in die Materie. Den Grenzpunkt der Berührung zwischen dem menschlichen Geist und der Aussenwelt bezeichnet – als Gewordenes – das Wort. In Gedanken und Schrift bleibt der Geist in sich, und zieht nur so viel Materielles an's eigene Sein heran, als er selbst bedarf, um nicht an einem abgerissenen Einzelleben zu ersterben. Alles, was in dem Ausdrucke des Einzelgeistes sich zu universalem Charakter aufschwingt, wird Literatur. Das Geschlecht, der Stamm, der Stand können; das Volk muss, der Einzelne kann nie eine Literatur haben. So wenig ein Aeusseres ohne das Innere besteht, so wenig Literatur ohne Geschichte; was nur mit einander sein kann, das lässt sich auch nur durch und an einander begreifen. Geschichte und Literatur stehen in einer ewigen mit der menschlichen Natur angelegten Wechselbeziehung; sie bilden einen unauflösbaren Cirkel von Aktion und Reaktion. Was jetzt Folge, das wird im nächsten Zeitlauf Grund; das überwiegende Handeln oder Leiden kann auf Seiten bald der Geschichte, bald der Literatur stehen; das Uebergewicht ist immer nur momentan und hebt sich durch eine neue Wogung auf; beide Kräfte haben im Grunde gleichen Wert und gleiche Bedeutung.
Der Mensch denkt zuerst in Gefühlen; der zum vollendetesten Abschluss Gediehene kehrt als Greis wieder zu den ersten einfachsten Jugendgefühlen zurück. Ganze Völker (ein grosser Theil des Orientes) sind kaum zum abstrakten Denken erwacht; diejenigen aber, welche über dem Verstandes das Gefühlsleben vergassen oder verriethen, bewegten sich entweder ewig in einer dürren Mechanik von [2] Civilisation oder traten mit der umgestaltenden Crise in die Periode des Verfalles. Das Gefühl ist das Durchgehende, das Universalste. So ist es seine Natur, mit seinem Ausdrucke, der Lyrik, sich in besonders engen Zusammenhang mit dem Völkerleben zu stellen. Das Lied führt, vergleichbar dem geweihten Glockenklange, in's Leben ein und aus dem Leben; es ist sein Festlaut und sein Sturmestosen; das ist der tiefe Sinn des Volksliedes.
Die höchsten Kraftäusserungen cumulirten Lebens drängen sich nach ungleich langen Pausen der Ruhe in relativ kurze Perioden zusammen; sie erzeugen in der Literatur jene erhabenen Schöpfungen, selbst Thaten geheissen, in der Geschichte jene gewaltigen Ereignisse, in denen der Gedanken einer abgelaufenen Zeit in einem Volke, ja zuweilen im ganzen Geschlecht, scheinbar urplötzlich durchbrochen und zerschnitten wird; und überraschend, oft in Blut gekleidet, steht eine neue Idee als weltbewegende Macht da. Was im Stillen wirkte, von wenigen tieferen Geistern gesehen und geleitet, von den Massen dunkel geahnt, aber nur durch sie in's Leben hinaus gestellt: das wird der Impuls einer neuen Reihe von Jahren der Geschichte. Doch über diesen wechselnden Gedanken, deren Jeder das Leben einer Periode zu bilden und mit ihr in's Grab zu steigen bestimmt ist, stehen unwandelbar und fast ungeahnt regierend gewisse ewige Wahrheiten, das Universalste, was es für den Menschen geben kann. So zerschneiden sich an den höchsten Bergesspitzen die heranstürmenden Wolken- und Wetterschichten; doch über ihnen stehen in unentwegter Klarheit die alten ewigen Sterne.
Eine jener gewitterschweren Thaten der Geschichte, das grösste Ereigniss der neuen Zeiten, ist die französische Revolution. Es liegt im Verhängniss all dieser bedeutungstiefen Wendepunkte der Zeit, ein zerstörendes Element in sich tragen zu müssen; man hat die französische Revolution ihrer Trümmer und ihres Blutes halben so bitter angeklagt; diese [3] bald aus Tendenz, bald aus Gefühl stereotyp aufgenommener Klagen bezeichnen ein vollständiges Verkennen des geschichtlichen Ganges. Frankreich steht bis auf den heutigen Tag durchaus noch in der Periode der Revolution von 1789; das haben die gedankentiefsten der französischen Historiker erkannt und ausgesprochen. Revolution und Gegenrevolution, beide mit den von 1789 als Wahrzeichen aufgestellten Ideen, bilden in ihren Reibungen die Geschichte des 19. Jahrhunderts überhaupt, und werden sie so lange bilden, bis jene Gedanken sich ausgelebt und während dessen eine neue Idee sich gross genug gedacht hat, um sich als Triebrad in's Grosse des Völkerlebens hinauszuwerfen. Und wahrlich, die Idee ist da, höchstens als ein Notwendiges erkannt, kaum noch klar geschaut, von Vielen in dunklem Triebe liebend erfasst, im Leben meist noch mit Spott verfolgt: so gräbt sie leise, leise weiter, wie jene unterirdischen Feuer, die in Vulkanen ausbrechen. Darin liegt die Bedeutung, darin auch die dunkle Schwere unserer Zeit, die auf so vielen Geistern drückt und erst dann sich heben wird, wann das innere Weben zur lebendigen Aktion – zum neuen Kampfe, sei's! – sich wird entsponnen haben.
Die Revolution hat in Frankreich erst eigentlich ein Volk mit öffentlichem Leben und Bewusstsein geschaffen. Zuvor war es ein Provinzialleben, und auch als dieses einer lange nur illusorischen Concentration wich, erbte sich doch nur ein Ständeleben und Ständebewusstsein hinüber. Die Literatur der Revolution sind Beredsamkeit und Journalistik; jene von den glänzenden, kühnen, bizarren, zornsprühenden und doch reinen Sätzen eines Mirabeau bis zu den langsamen, zähen, methodischen, gleich strengen als überzeugten Argumentationen Robespierre's. Zu grossen künstlerischen Produktionen konnte das thatenschwere, stürmende Drängen des Augenblicks kaum angethan sein: dazu mochte der Geist die klare Ruhe und idealisirende Abstraction nicht gewinnen. Doch haben mitten in den Stürmen ein David für die Malerei, die beiden Chénier für die Poesie gewirkt. [4] André Chénier, der bedeutendere, das Opfer der Revolution, die er erst freudig begrüsst, hernach gefürchtet hatte, tritt als geschlossene Gestalt erst 1820 in die Literatur mit der Sammlung seiner lyrischen Gedichte. Er bildet ein Mittelglied zwischen der alten und der neuen Zeit; jener gehören Form, Ausdruck und der antik bestimmte Geist an, dieser die Tendenz und der Wille. Zwar hat auch er, als Dichter, die blutigen Szenen des Terrorismus und seine Träger theils mit schneidenden Worten gezüchtigt, theils mit bitterer Ironie verfolgt: dennoch steht er als Kind einer grossen Zeit so entschieden in den Reihen der Freiheit und Gleichberechtigung, wie die kommenden Schriftsteller, das durch die eiserne Ruthe des Kaiserreiches oder die wesenlose Ohnmacht der Restauration gezogene Geschlecht, theils gar nicht mehr, theils erst nach inneren Kämpfen und einer ihr ganzes Leben durchlaufenden Entwicklung. Das ist Chéniers Bedeutung, das ist's eigentlich, was man in ihm verehrt. Künstlerisch hat die Lyrik seit Ch. eine neue und grossartige Entfaltung genommen, von der er selbst noch keine Ahnung hat. Er denkt und schreibt noch überwiegend in der Manier der alten abstrakten Reflexionsdichtung: der Ausruf, die Betrachtung, die Sentenz füllen den lyrischen Rahmen. Ch's. Idyllen, Elegien und Episteln haben nicht nur Manier und Form, sondern zum Theil auch die Denkweise der Alten; manche Stücke gehen nach bestimmten Mustern. Seine seltenen Bilder und Gleichnisse sind zumeist aus dem Altertum genommen. Die Phantasie trägt weder weit noch schnell; auch schafft sie keine abgeschlossenen Gestalten. Die kurzen, scharfen, abgebrochenen, sentenziösen Hauptsätze offenharen ebenso sehr eine innere Gewalt der Ueberzeugung, als eine nüchterne Trockenheit in Ton und Anschauung. Wo Frische des Gefühls, Kraft der Leidenschaft, Wärme des Ausdruckes über die Dürre der Früheren hinausweisen: da hat die Gewalt der Zeit ihren zündenden Stral auf ihn geworfen.
[5] Das und andere sind die direkten Wirkungen der 89er Revolution auf dem Felde der Schrift und Kunst; neben und über ihnen hat dieselbe eine grössere und weitere Geburt, die nach den Gesetzen des geistigen Werdens langsamer und gemessener reift, als die That. So gewiss es ist, dass dieselbe revolutionäre Idee bis auf die Geschichte der Gegenwart hinunter die leitende ist; so gewiss die grossartigen und schauerlichen Szenen der gewaltsamsten Revolutionsjahre und ihre sturmentwachsenen Leiter Vorwurf der verschiedensten Künste geworden sind; so gewiss die Revolution alle alten Formen des Lebens umwarf und mit neuen ersetzte: ebenso unzweifelhaft hat sich diese Umgestaltung auch auf die Formen des Denkens und der Sprache übergetragen; die neue Schule der Literatur ist revolutionärer Geburt. Das gilt wieder in erster Linie von der Lyrik; diese hat in Frankreichs jüngsten Zeiten eine ganz neue Gestalt angenommen.
Es darf mit Fug behauptet werden, dass Frankreich nach Villon, also durch volle drei Jahrhunderte, keine naturwüchsige Lyrik mehr besass. Marot mit seinen geschwätzigen, graziösen Toilettenstückchen der Poesie; Ronsard mit seinen Gott und aller Welt zu Lehen verpflichteten Liedern und Oden, einem Wuste leerer Reimereien von burlesk hohem Trabe, darunter wenige Lieder der Liebe von leidenschaftlichem Gefühl und lebendiger Färbung als Perlen begraben liegen; Malherbe mit seinen an langen, langen Geburtswehen ersterbenden Oden; Boileau mit der horazischen art poétique und den ledernen Episteln; J. B. Rousseau mit seinen geistlichen Liedern, den Oden und Episteln, zuweilen graziös, stets correkt und künstlich, immer ohne Erhebung und Gefühl; Louis Racine mit langen, aufrichtig religiösen, unendlich monotonen, christlichen Lehrgedichten: man mag wohl ohne Häräsie zweifeln, ob diese Meister, um die Gesellen nicht zu nennen, von den Musen gesäugt waren. Es fehlt dieser ganzen Dichtkunst nur Eines: Natur, Gefühl. Die [6] unselige Nachahmung, die sich nicht einmal auf die Alten beschränkte, und dafür keinen Zug vom frohen gallischen Elemente des Volksgeistes bestehen liess; ein fast feindseliges Abwenden vom Leben bis zum völligen Vergessen der Zeiten und ihres Geistes; eine dürre, an der Studirlampe ausgeheckte Reflexion; ein Beweisen und Abwägen von Gottes Gerechtigkeit und der Welt Leid; Kunstcritik und Epistolographie; geschmackloses Herumwühlen in allen Geschmäcken; ein Ton, der das eine Mal pedantisch lehrhaft, dann wieder gestossen von einer zum Himmel emporkletternden Erhabenheit, lauter Metaphern, Fragen, Ausrufe und Empfindungswörter auswirft, wahrlich, das ist die leibhaftige Alte: Stubenpoesie mit den eingeschrumpften Zügen und der unseligen Spindel (Uhland "Märchen.")
Wenn das 19te Jahrhundert in demselben Land und Volk eine Lyrik aufweist, welche der blühenden Schöne der Jungfrau die nervige Kraft des Mannes vermält, welche die Skala des menschlichen Herzens ergreifend durchspielt, von dem leisen, bezaubernden Lispeln der morgenroten Jugendliebe bis zum zerreissenden Sturmesrauschen der grabesdüstern Verzweiflung: so muss diese Thatsache, insofern sie Wirkung ist, doch wol einen Grund haben, und dieser kann kein anderer sein, als die Revolution. Langsam, unablässig wurde die Revolution durch die grössten Geister von Montesquieu ab zwar nicht geschaffen, aber heraufbeschworen; langsam, unablässig wirkte sie wieder auf die Geister fort. Sofern sie Gefühl und Form bestimmt und gewandelt hat, müssen ihre Wirkungen wesentlich die Lyrik treffen; der Ausfluss der Revolution, braucht diese darum nicht ihr Ausdruck zu sein.
Der eigentliche Lebensquell und Grundzug dieser Lyrik ist diess, dass sie mitten in ihrer Zeit und ihrem Volke steht, dass sie seine Grösse und seinen Fall mitfühlend begleitet, dass sie der Trommetenschall seiner Schlachten, die Trauerglocke der nationalen Gräber, die Harfe seiner re[7]ligiösen Feste, der Paukenschlag seiner rauschenden Tänze, dass sie immer der Wachruf seiner schlummernden Gefühle wird. Sie durchläuft und stellt neben einander alle Stufen dar; sie lebt in dem kindlich naiven Volksglauben, auch wo er Wunder- und Märchenglauben wird, der immer eine verborgene Poesie in sich trägt, gesucht und bewundert auch durch die vom sezirenden Zweifel zernagten Dichter (zuweilen V. Hugo); sie lebt in den gottbegeisterten Harfentönen der Bibel (Lamartine); sie lebt in den fremdartigen Engel- und Prophetenbildern eines dramatisch gestalteten, nachtfeiernden Mystizismus (A. de Vigny). Sie steigt von da ab durch Gleichmut und Zweifel, erst im Schmerze bitteren Herzenskampfes (Lamartine) oder der festen und umdüsterten Resignation (V. Hugo), bis zur hoffnunglos hingeworfenen Verneinung, und diese wieder gibt sich als nachlässig eleganter und übermütiger Spott (A. de Musset) oder als die ernste Trauer des verzweifelnden Denkens (V. Hugo). So wird sie der Spiegel aller Schichten der Gesellschaft und aller Jahre, durch die sie hindurchgegangen, ohne darum, wie grossentheils der Roman, blosser Reflex zu sein; in eigenster Kraft wirft sie ebenso sehr Stralen aus als sie aufnimmt. Sie durchläuft dieselbe Stufenleiter in den politischen und sozialen Tendenzen; in ihren früheren Vertretern vom alten fast absoluten Royalismus ausgegangen, wird sie mehr und mehr constitutionell und geht bis zum Glauben an die Republik über; sozial hat sie wenigstens in dem grössten ihrer Sänger jene erschütternden Bilder aus dem Leben entworfen, die mehr und dringlicher sprechen als trockene Lehrsätze; mehr kann hierin die Lyrik nicht thun; darf sie ja nicht systematisch werden. Denselben Stufengang weisen die politisch-kirchlichen Schriften auf (de la Mennais); einen ähnlichen, wenn auch unendlich unregelmässigeren und gefärbteren, geht der Roman. Durchaus neu, hat sich diese Lyrik auch in Ideen und Formen auf die überraschendste Weise bereichert. Sie trägt in sich eine [8] Erweiterung des Gesichtsfeldes, zu welcher die "Orientales" nur die hervorspringendste und äusserlichste Folie bilden; aber ebenso sehr innerlich geworden, schafft und beherrscht diese Regeneration neue Phantasieen, neue Gefühle, neue Gedanken. Ihr Werk ist auch die reiche, mächtige, hohe, lebenströmende Bilderfülle: die zauberhafte Welt der orientalischen Bilder erschliesst sich ihr neu. Durchaus in Leben und Geschichte wurzelnd, hat sich diese Dichtung in ihren innerlichsten und geistigsten Produktionen ein vorher nicht geahntes, das tiefste und reichste, das rätselvollste und bewegendste Feld erschlossen: es ist der Menschengeist, auf dessen Saiten vor Allen V. Hugo eine sturmesgewaltige Symphonie spielt. In den Tönen und Szenen der Natur bewegt sich die französische Lyrik, deren von Gesellschaft und Leben absorbirter Geist der einfachen Natur weit ferner steht, zwar mit ebenso viel Glanz, doch auch annähernd nicht mit der Tiefe der deutschen Lyrik; namentlich kommt ihr kaum eine Ahnung zu (Lamartine nach Chateaubriand) jener tiefsinnigen Natursymbolik, in welcher die reizendsten und duftendsten Gebilde der neuen deutschen Lyrik Wurzel schlagen. Auch die Worte Lamartine's in den Destinées de la poésie, jener eigentümlichen, blühenden, mit seltener Treue die Grundzüge seines Gemütslebens wiederspiegelnden Schrift: "La poésie est neuve, mélancolique, incertaine, timide et audacieuse à la fois, aux jours de renaissance et de reconstruction sociale comme aujourd'hui" (geschrieben Anno 1834); auch diese Worte haben ihre streng zutreffende Wahrheit.
Man hat, ohne Fug, die franz. Lyrik, speziell mit Bezug auf V. Hugo und seine Schule, romantisch genannt; V. Hugo selbst bestreitet die Berechtigung dieser Benennung, die er in verschiedenen, und ich kann nicht umhin zu bemerken, oberflächlichen Fassungen nimmt; nach seiner Deutung wird die Frage allerdings zu einem blossen Wortspiele. Es kann aber auch von einer Romantik, wie sie in Deutschland die sogenannte "Romantische Schule" be[9]eichnet, hier nicht die Rede sein. Der einzige entschiedene Annäherungspunkt liegt in der Aufnahme jenes träumerischen Momentes, welches der modernen Weltanschauung so charakteristisch innewohnt und sich in den gefühlstiefsten Geistern bald als herrschendes, bald als mitwirkendes Element kund gibt. Für die französische Lyrik hat die Aufnahme desselben die höchste Bedeutung; erst mit ihm kehrt in sie das Gefühl ein; es selbst wird in natürlichem Hange "rêverie", und die pedantische Reflexionslyrik ist überwunden. So hat Frankreich erst später eine Stufe erreicht, in welcher Deutschland bereits einen langen und schmerzhaften Reinigungsprozess durchgekämpft hat. Die romantische Schule hatte aus dieser Gefühlsträumerei das Nebelhafte, Verzerrte, Formlose, Sentimentale geboren; die französische Lyrik ist dieser Mängel nicht zu zeihen. Sofern das entschiedene Abthun der antiken Nachahmung in Anschauung und Form, das Ueberwiegen der Gefühlswelt, das freie Walten der Phantasie, die Entfesselung vom alten sogenannt classischen (Boileau) Regel- und Formelzwang gemeint sein soll: insoweit ist diese Lyrik eben nichts weiter als modern.
Ich wüsste nicht, woher diejenigen, welche der Revolution Fruchtlosigkeit auf dem Gebiete der Kunst vorwerfen, diese ganze mächtige neue Literatur ableiten wollen, wenn nicht aus dem Zufall. Man hat dieselbe Klage der Unfruchtbarkeit in erweitertem Sinn auf das Kaiserreich übertragen, und sie trifft. Es hat die spezifisch geistigen Interessen zur Seite gesetzt. Was Lam. in den Destinées de la poésie mit seinen blühenden Perioden urtheilt, das bleibt in den Grundzügen trotz Julien ("Die Literatur des Kaiserreiches") und grösserer Meister bittere Wahrheit. Das Kaiserreich hat tendenziös alle Geister herabgedrückt, um blos den Einen als einsame Pyramide über der dürren Wüste hinzuflanzen. Es ist an einem grossen innern Widerspruche zu Grunde gegangen: Kind der Revolution, ist es gegen seine Mutter aufgestanden; einer weltbewegenden Idee entwachsen, hat [10] es die Idee verfolgt; an die Stelle der Demokratie getreten, hat es als Regierungsprinzip den Absolutismus aufgestellt, im Staatsorganismus die Aristokratie neu geschaffen, im ökonomischen System die Macht der Bourgeoisie fest gegründet, und das Volk zerdrückt. Alles während der Revolution – die Forschung zeigt mehr und mehr, dass der Wille der Massen auch die Terroristen beherrschte –, galt der Volkswille unter dem Reiche Nichts. Merkzeichen dieser Periode ist das selbstvergessene Erschlaffen des politischen Bewusstseins nach gewaltsamer Ueberspannung, und die berauschte Hingabe an äussern Ruhm – ein von Sklaven geträumter Traum der Weltherrschaft. Regiment der combinirten Zahl, hat das Reich dieselbe zur geistleeren Form herabgesetzt; und doch mochte es in der entscheidenden Stunde, als die Aristokratie feig und übersättigt, die Bourgeoisie verräterisch abfiel, nur dadurch sich aufrecht halten, dass es den missbrauchten Massen, die immer noch mit Liebe an das revolutionsentsprungene Idol des nationalen Ruhmes sich zu klammern bereit waren, eine geistige Berechtigung zugestand. Napoleon verschmähte es und fiel. So konnte die Kaiserzeit kaum einen bedeutenden Geist, am wenigsten einen Dichter erzeugen: ihre Oden und Elegien sind die Schlachten. Auch Lebrun der jüngere mit seiner Odendichtung ist nicht gross genug, um diese Thatsache schwankend zu machen.
Das Reich hatte eine Fülle geistiger Kräfte zurückgedrängt oder ausgestossen; der erste Schimmer eines freiern Aufathmens musste sie entfesseln und mit freudiger Frische in's Leben werfen: das war ein der Restauration zu gut kommender Umstand, welcher verdient, geschichtlich tiefer gewürdigt zu werden, als es bis jetzt geschah. So stehen wie mit Einem Schlage gefestete, fast oder ganz entwickelte Geister da; sie treten mit der Restauration in die Geschichte, aber nicht durch sie; dieses geistige Aufblühen wirft auf die neue Herrschaft der Bourbons einen Glanz, an dem diese unge[11]fähr ebenso weit schuldig sind als die Nacht am Sternenschein. Die Restauration war in ihrem zweimaligen faktischen Auftreten das Werk der Bourgeoisie und lag in ihren Interessen, deren materielle Entwicklung sich auch durch Napoleon gesteigert hatte; die Machinationen Weniger vom Adel haben in kürzester Zeit und zum Erstaunen der Schiedsrichter selbst das Uebrige gethan. Das neue Regiment war gleich in seinem Ursprung ohne Nationalität, ohne Würde nach Innen, ohne Kraft nach Aussen; es trug bis an seinen Tod den Fluch, an die Schande und Erniedrigung Frankreichs geknüpft zu sein, ja mit ihr identifizirt zu werden. Die Bourbons waren sogar ohne Partei. Die Bourgeoisie nahm sie auf als eine ihr dienende Nothwendigkeit, und die ganze innere Geschichte der Restauration dreht sich um einen politischen Rivalitätsstreit zwischen König- und Bürgertum, in welchen dieses den offenkundigen Zweck hineintrug, das Königtum in Dienst seiner materiellen und industriellen Plane zu nehmen und zu schwächen, ohne doch es fallen zu lassen. Ludwig XVIII. betrachtet und gibt sich als die Fortsetzung des XVIten, mit dem er auch nach Geist und Neigungen viele Aehnlichkeit hat. Was er mehr aus stillem Gefallen und nachgiebiger Schwäche gestattet, was Karl X. und die Ultraroyalisten aus hartnäckiger Verblendung prinzipiell anstreben: die Rückführung der feudalen und clerikalen Macht, das stösst sich auf dem Boden des offenen politischen Lebens an den Tendenzen des Bürgertums, das in den zunächst von der Restauration erbenden grossen Capitalien (Bank) einen Finanzfeudalismus anbahnt, in aller seiner Weite aber mit der Kammer in die Politik eintritt. Keines der beiden streitenden Elemente, Kammer und König, vertritt nationale Interessen; dieselben sind zurückgedrängt in eine ganz kleine Kammeropposition zur Seite der grossen, die das parlamentäre System überhaupt vertritt, und in ein mehr zu gewaltiger Macht anschwellendes Wirken geheimer Gesellschaften. Was sich in den 15 Jahren bis 1830 Liberalismus nennt, das ist jener [12] Kampf des Bürgertums, das Wahlsystem erst souverän, dann für sich fruchtbar zu machen. Aus dem Stande der Parteien und des Thrones erklären sich die Schwankungen und Unregelmässigkeiten in der politischen Bewegung dieser Jahre. Bald verbünden sich die Extreme gegen einen gemeinsamen Gegner, bald kämpft eine Partei für feindselige Prinzipien, um zu Inconsequenzen und Uebergriffen zu treiben; bald stehen die Bürgerlichen, bald die Ultra, bald beide gegen die Krone auf; die Kammer selbst vertritt in ihrer Mehrheit nun das bürgerliche, nun das feudale Interesse: das Resultat bleibt für die Nation gleich unbedeutend, war ja sie selbst in der Kammer nicht vertreten. So stellt sich als Hauptmoment des Kampfes heraus, die fast Jahr um Jahr mit den heftigsten Diskussionen wiederkehrende Frage nach dem Wahlsystem.
Die Geschichte der Restauration stellt prinzipiell zwei Abschnitte dar, deren erster nicht mit, sondern vor Ludwigs XVIII. Tode zu Ende geht; ungefähr seit 1822 ist es bereits die entschiedene Uebermacht der Ultra's, der Congregation, Karls X., welche das Leben der Nation, zumal ihr geistiges, beherrscht. Zuvor leise, und im Innern der Regierung selber halb zugelassen, halb bestritten, wird nun der ausgesprochene Kampf mit allen Gedanken der Revolution Regierungsprinzip.
Die charakterisirenden Punkte aus dem Regimente der ersten Jahre sind in Summa folgende: Suspension der Pressfreiheit; die Prozesse der 100 Tage (Ney); wiederholte bedrohliche Schritte für die Restitution der Nationalgüter; Suspension der persönlichen Freiheit: System der willkürlichen Verhaftung aller "Verdächtigen" (Kammer von 1815/16); Verfolgung der Patrioten und Napoleonisten (Armee); dann auf die Vorschläge von Décazes einige Erleichterungen und Zugeständnisse: die Mässigung in den höchsten Sphären, aber Willkür und Verfolgung bleibende Regel für die Masse der Staatsangestellten; wachsendes Aufsteigen der geistlichen [13] Macht (Missionen), aber dagegen auch der liberalen Meinungen; unhaltbare Halbstellung des Ministeriums Décazes, das fortwährend zwischen Zugeständnissen an Volk und Krone schwankt und nach dem Morde des duc de Berry fällt. Ein vom zweiten Ministerium Richelieu gestelltes Wahlgesetz zu Gunsten der Höchstbesteuerten führt mit der Kammer von 1820 die Ultras der Macht näher, die Gegenrevolution tritt in den Rath der Regierung selbst ein; die Congregation und der geheime Jesuitismus, die bereits den Primärunterricht beherrschen, greifen auch auf den höheren über; dagegen entfaltet sich der Carbonarismus weit und gewaltig. So steht Frankreich durch eine doppelte Organisation geheimer Gesellschaften in direkt entgegengesetzter Richtung aufgewühlt und bewegt. Fall des Ministeriums bei Anlass von Klagen aller Parteien auf die äussere Schwäche der Regierung (Ereignisse in Italien); das neue Ministerium ist bereits dasjenige der Congregation und des Grafen von Artois; das Jahr 1822 mit seinen massenhaften Todesstrafen gegen die niedergedrückten Verschwörungen, seinem geschärften Pressgesetze, den Drohungen gegen die Hauptstadt und die mittleren Klassen, der offenen Complizität gegen das constitutionelle System auch nach Aussen (Spanien, Villèle) ist die Einweihung jener consequenteren Politik, die den Krieg zwischen Nation und Thron zum Wahrzeichen nimmt.
Auch das einzige grossartige Erbe, welches die Restauration vom Kaiserreich unverkümmert überkommen hatte: eine Reihe der bedeutendsten Geister, zum Theil schon vollständig gereift und im Zenith ihres Glanzes, zum Theil jung und mit dem eingepressten Bedürfniss, ihrer aufkeimenden Gedankenwelt Luft zu machen; auch dieses wusste sie nicht zu nutzen. Unverkümmert und mit der Fülle der Frische: das Kaiserreich hat alle Kräfte, deren es sich bediente, bis zur Verderbniss abgenutzt und aufgezehrt; es hatte den Geist und das Genie zurückgedrängt, verbannt; so kam es, dass nach seinem Falle diese Kraft comprimirt und gespannt [14] sich in's Leben warf. Der Ruhm fällt auf die Zeit zurück; die Dynastie hat nichts dafür gethan. Ja die mehrmalige willkürliche Beschränkung und Suspension der Pressfreiheit stiess auch die Geister an, die nach Sinn und Gemüt sich dienstbar an die Restauration lehnten. Selbst Chateaubriand, durch diesen geistigen Zwang verletzt, wandte sich zusehends freieren Ansichten zu und griff in der Kammer die Pressfesseln heftig an.
Ohne allen Zweifel war Chateaubriand der grösste Schriftsteller, von dem die Restauration erbte. Selbst eine durchaus poetische Natur, ist er der inspirirende Genius der französischen Poesie des 19. Jahrhunderts. Ein romantischer Geist: die nimmer ruhende Bewegung als ewige Jugend; die über den Trümmern schwebende Seele des edelsten Rittertums; die Freiheit des Gedankens und der constitutionelle Sinn zusammen mit der angeborenen Liebe zum Fürstenhause; der Geist die Vernunft der Zeit; das Herz: die grossmütige Liebe der Ruinen; der Sohn der Weite und des Meeres, immer mit grossen prachtschweren Fernsichten; der in Prosa schreibende Dichter einer glänzenden Phantasie; die kindliche Imagination des kampfbewegten Glaubens; die geheime Melancholie des Christentums und der fragenschweren Zeit, träumerisch, aus sich heraustretend, auf Meeren wogend, über Wüsten schreitend, mit unsicherm Aug' in den Tiefen des Himmels spähend; die weiche oder tonreich rauschende Harmonie der Klage; die reiche, glänzende, vielfarbige und doch von demselben Grundton getragene Naturmalerei mit einer Färbung von Natursymbolik; der blühende Zauber des Farbenreichtums im Bunde mit der Hoheit des Gefühles; die reizend üppige Naturjugend der neuen Welt ob dem geisterumspielten Sagengrau der alten: das ist Ch. Er vertieft und bewegt, weckt auf und veredelt, wie Prairie und Meer und Himmel, die Riesenspielplätze seines Gefühles und seiner Phantasie; das Unendliche entrollt majestätisch seine träumenden Geheimnisse.
[15] Ch., insoweit er der Prosaschriftsteller der Restauration heissen kann, ist ihr eher vorausgegangen als gefolgt. Er hat im entscheidenden Augenblick eine Broschüre in den Kampf geworfen, die seiner kaum würdig ist; er verhält sich der Restauration gegenüber durchaus erzeugend.
Ein von ihm gänzlich verschiedener Geist, durch die Restauration erst gross gezogen, ist ihr Dichter. Casimir Delavigne stellt sich dar als der Dichter des historischen Aktes der Restauration, aber keineswegs als ihr Parteigänger; er führt sie in die Literatur ein und fasst sie nach ihren zwei Seiten, schärfer verletzt von ihrer Erniedrigung als gehoben von neuem Hoffen. D's. Grundidee ist: Einigung, nationale Kraft und neue Grösse Frankreichs nach Aussen; er fordert ein Aufgeben aller Parteistellung; die Lilien sind ihm nun einmal die Regierung, für welche das Geschick sich ausgesprochen. Sein Begriff der Freiheit befasst ganz eigentlich die konstitutionelle Monarchie; innerhalb dieser Gränzen aber ist er weit rückhaltloser und entschiedener als in ihren ersten Zeiten V. H. und L.; er will durchaus freie Bestimmungen: wol der Reflex seiner klassisch bestimmten Denkweise. Während auch er die erste Revolution ihres Blutvergiessens wegen bitter anklagt (Ode 3) und Nichts über dem historischen Rechte begreift, übt er dagegen strenges Gericht in der Beurtheilung der Zustände des Auslandes, und schlägt für Italiens Unabhängigkeit, für Griechenlands Freiheit kraftvolle Töne an; seine Ode auf Napoleon gibt scharf und nackt die den Deutschen so bitter aufgestossene Wahrheit, dass sein Fall die Kette, welche die Könige drückte, auf die Völker übertrug, die für jene siegten.
Delavigne ist vor Allem Mann, herangezogen am Altertum und der Geschichte; seine Dichtung, die des Charakters, hat etwas Festes, Markiges, Entschiedenes, Direktes, Schmuckloses bis zum Nackten und Dürren. An- und Ausrufe, historische und malende Züge, Reflexionen und Ermahnungen enthüllen mehr Gesinnungstüchtigkeit als Poesie. [16] Das Classische überwiegt in seinem Gedächtniss und kehrt in häufigen Analogieen und Beziehungen wieder; es ist ihm ganz eigentümlich, dass er, nach That und Willen durchaus in der Zeit stehend, durch Neigung, Studien und Oertlichkeiten antik bestimmt, durchweg eine parallelisirende Verquickung und Vermischung bringt aus altklassischen Erinnerungen und den Zuständen der Gegenwart. Der Grösse einer patriotischen Idee, dem Ernst und der Wahrheit der Geschichte gehen gekünstelte Deklamationen und in's Unhistorische und Ungerechte geschraubte Anklagen auf die fremden Völker zur Seite. Seine Composition ist eine durchaus besondere: Es ist das künstliche, lange her Zusammengedachte, mit mannigfachem Wechsel der Impulse, zusammengehalten bloss durch die Gesinnung; ein überlegter Aufwand von Mitteln; wo eine grosse Idee fehlt, da sinkt der Componist zum Arrangeur hinunter. Seine Dichtung springt nie aus dem begeisterten Augenblick heraus; sie trägt darum mit den Zeichen der Ausbildung durch ein langsam bedachtes Werden oft auch den Mangel einer ergreifenden Kraft in sich; sie will überlegt sein. Der Bau ist derjenige der Ode; der Ton, unendlich ungleich, nicht selten im begeisterten Aufruf zur Freiheit dürr und rauh, nimmt oft eine dithyrambische Färbung; die Ausführung gewinnt durch einen überraschenden Wechsel von Metren und Strophen etwas Formreiches und Harmonisches.
Die Messéniennes wurden von der Zeit emporgetragen: die Schatten der Helden schweben schützend über ihren Grabdenkmalen; die Messéniennes nouvelles waren ihr blosser kaum mehr anklingender Nachhall. Ohne historische Wahrheit, ohne bedeutende die Zeit ergreifende Idee sinken mehrere schon aus den ersten Messén. in's Nichtssagende und Inhaltleere hinunter. Ich nenne mit besonderer Auszeichnung 6 und 11 der Messén., 7 der Messén. nouvelles; die letztere liefert eine interessante Parallele zu Byrons nach kühner Freiheit der Anschauung höher, nach poetischer Kunst nur [17] zum Theil an jene reichender Ode to Venice. 2 und 5 der Messén. nouvelles sind die auffallendsten Beispiele jener Manier, die scheint ihrem Stoff entfliehen zu wollen. – Auf's Entschiedenste durch die Zeit bestimmt, durch die Invasion Frankreichs zur rächenden Klage entfacht, durch Italiens Zuckungen und Griechenlands Kämpfe nach Aussen gelenkt, nur einmal noch (mit Foy) auf Frankreichs innere Politik geführt: scheint sich D. wie die schwindende Hoffnung mehr und mehr von dem Gange der Restauration ab- und der Volksfreiheit zuzuwenden – eine glückliche Richtung, wenn ihr das Talent gewachsen war.
Was in D. charakterschwerer Ernst, trauernde Erinnerung, freie Mahnung wird, das gestaltet sich in Béranger zur lachenden Ironie des Volksgeistes. Auch ihn hat die Invasion Frankreichs, die Rückkehr der Bourbons im Geleite der kosakischen Lanzenschäfte, auf's Lebhafteste influenzirt; auch er verfolgt, und weiter als D., und mehr den inneren Zuständen zugekehrt, die Restauration in ihrem Thun. Seinen Spott weckt die drollige Wirthschaft der fremden Truppen im Pariser Weltleben; seinen Hohn die verrosteten Ansprüche eines neuen Feudalismus; seinen Zorn die vor dem Geist erschreckenden Zwangs- und Schutzmassregeln; seine Ironie die egoistische Nichtigkeit der Kammerreden und Congressverhandlungen. B. ist der Sang gewordene Volkshumor. Doch ist er um diese Zeit noch keineswegs zu seiner vollen Entwicklung gekommen; sein Lied geht Stufen durch mit den Kennzeichen einer steigenden Vollendung, die heraustritt in den letzten Jahren der alten Dynastie; noch vor der Julirevolution steht er ausgewachsen da als der er ist: so in seiner Entwicklung die ganze Restaurationsperiode hindurch gegangen, ist er ihr launiger Recensent, die satyrisch Ton und Sang gewordene Reaktion jener Schichten, die in der Politik Nichts wogen. Die letzte Zeit Karls X. hat seine Gestalt in ihren vollen Zügen vorzuführen.
Die Restauration in ihrem ruhm- und thatenlosen Ver[18]laufe musste angethan sein, ein Zurückziehen vieler Geister auf Haus und Familie zu erzeugen, das Handeln zu ersticken oder in's Dunkel geheimer Umtriebe zurückzudrängen. Die Neigung zu diesem Rückziehen in's Innere der Familie und einer Geschäftigkeit von da heraus repräsentirte sich in Ludwig XVIII. selbst. Zu allen Zeiten hat diese still innerliche Richtung, sei es nach Seiten ihrer Naturwahrheit, sei es auch nur in dem Spiel und den Träumen fingirter Zustände, in der Poesie ihren Ausdruck gefunden; Idylle und Elegie sind ihre Formen. Dieses Sein erscheint, keineswegs erst durch die Zeitrichtung gerufen, sondern ursprünglich von Natur angelegt, in dem andern lyrischen Talente, welches sich mit der abgelaufenen ersten Periode der Restauration abgeschlossen darstellt: Mme Desbordes-Valmore. Wie Delavigne mit den ersten Messéniennes, so ist jene mit den ersten Poesieen eine in ihren Zügen bereits feststehende Gestalt. Sie, eine völlig subjektive Natur, ganz Weib, nur ihrem Leben und Fühlen entwachsen, hat nur Einen Ton: Liebe unter allen Gestalten, Liebe in allen Abstufungen, von dem vorahnenden Keimen dieses Gefühles, das ihr bedeutsam als schmerzende Unruhe entgegentritt, durch ein kurzes Glück hindurch bis zur herzbezwingenden Oede der unerbittlich Verlassenen, die ihren bangen Schrei in's Leere hinaussendet; und von da an kehrt unter den mannigfachsten Nüancen immer derselbe Ton wieder: es ist das verzweifelte, herzbeklommene, nachtumdüsterte Sehnen nach dem, der nimmer in die ausgestreckten Arme zurückkehrt. Es ist ein schwerer, lebenlanger Traum, dessen Wermut sie nährt, dessen dunkler Schleier ihr auch die Natur in klagende Farben hüllt. Ihre Elegien sind der naive, reine, herzlich gefühlte Ausdruck ihrer Stimmung; das Leben ist hier in den engsten Raum zusammengepresst, es verliert sich fast alles äussere Bewusstsein, nur das Frauenherz lebt, völlig in sich, allein mit seiner hoffnungslosen Liebe. Ihr Ton hat gewöhnlich ächt weiblich etwas plaudernd Erzählendes, das die auf- und absteigenden Wallungen ihres [19] Fühlens sich selber, den Gespielen, den Musen, ja den Tönen und Farben um sie her zutraulich darlegt: diese Manier ermangelt der Kraft und Tiefe eines hohen Talentes, und das lässt sich im Ausdruck vom Herzen allein nicht ersetzen. Wo sich das Gefühl in einem plötzlich aufgeschreckten, wie unwillkürlichen Schreie Luft macht: da wird sie stark und ergreifend; es finden sich bei ihr von jenen Lauten, die der höchsten Pressung des inneren Leidens entschlüpfen, als ob das Herz sich selber überraschte und aufschreckte. Von der Natur nimmt sie nur die allernächsten, einfachsten Züge bis auf's Kleinliche. Die äussere Ausstattung wendet nur das Allernotwendigste auf; der Bau ist derjenige der Fabel, meist ohne strophisches Abtheilen, entsprechend dem unbegränzten Laufe des innern Gespräches, als welches die meisten ihrer Stimmungsentfaltungen erscheinen. Das einleitende "l'arbris-seau" fasst in sich eine sprechende Allegorie ihres Trauergeschickes, sowie die Züge ihres Gemütes und Dichtens.
Neben ihr steht Mme Tastu, mehr von Aussen bestimmt, festerer Natur, mit Zügen von Bedeutung für das Leben der Zeit; ihr Talent reicht nicht an das der Desbordes-Valmore.
Die erste Periode der Restauration hat in diesen Gestalten kaum die Präludien der neuen Lyrik abgespielt; sie hat in V. Hugo und Lamartine und A. de Vigny bereits die Keime zu Grösserem entwickelt; sie hat Lamartine zur völligen Reifung seiner religiösen Dichtung an die angemessene Sphäre der ausgesprochenen Reaktion und der nominalen Herrschaft christlich-kirchlichen Geistes übergeben; sie hat V. Hugo anders bestimmt: face-à-face mit dem absolut sein wollenden Königtum ist er in unmerklichen Abstufungen weniger königlich gesinnt geworden. Dieselben Ursachen üben auf verschieden temperirte Geister den ungleichartigsten Einfluss; das ist die Reaktion des innern Lebens gegen Welt und Geschick.
Von 1822 an datiren Ultraroyalismus und Hierarchie ihre entschiedene Uebermacht. Drohungen und Blut im Innern, die schmachvolle spanische Intervention nach Aussen sind die [20] Einweihung dieser Herrschaft. Das Emigrantenentschädigungs- und Sakrilegiumsgesetz als momentane Kraftakte; Proselytenmacherei, geistiges Regiment der Jesuiten und Censurzwang als System bezeichnen das Ministerium Villèle; es fällt nach den Kammerwahlen von 1827. Die Jahre dieses Ministeriums begreifen eine von Seiten der Bourgeoisie faktisch versuchslose, aber intensiver erstarkende, eine weniger zahlreich vertretene, aber zähere Opposition; es ist nicht mehr die Zeit der grossartigen, ideebelebten, Gut und Leben auf's Spiel setzenden, jugendfrischen Erhebungen; es ist nicht mehr die Zeit der ersten 20er Jahre. Ein innerlicher Individualismus entwickelt sich; die Geister wie die Fragen der Zeit werden materieller; politisches Interesse und öffentliche Thätigkeit ziehen sich in engere Kreise zusammen; von höherer Bedeutung ist neben der Presse nur die Kammeropposition, erst von Wenigen getragen, aber immer weiter und bis in die Reihen des gemässigten Royalismus hinein um sich greifend.
Das Ministerium Martignac, gleich in seiner Geburt von allen Richtungen als transitorisch angefochten, aber durch weise Mässigung (Gesetz über den Unterricht etc.) sich festigend, ist ein Moment der Ruhe, der vom Jahre 1828 unter den günstigsten Auspicien auf 1829 übererbt. Die persönlichen Neigungen des Königs rufen dem neuen Kampfe; das Gesetz über Departemental- und Communalordnung, von der Krone aus den Diskussionen zurückgezogen, löst auch die Verbindung des Ministeriums mit der liberalen Linken; von da an ist dieser kurze Versuch einer friedlichen Ausgleichung zwischen den königlichen und den nationalen Tendenzen ohne Halt. Der August von 1829 bringt Jules de Polignac an's Ruder, den verkörperten Starrsinn des hierarchischen Ultraroyalismus. Zorn, Unruhe, eine allgemeine Bewegung der Geister begleitet sofort die Ernennung des Ministeriums Polignac, die als ausgesprochene Kampferklärung von Seiten des Thrones und Clerus auch gegen das parlamentäre System selber aufgefasst wird. Der Zustand des Landes bis zur Ent[21]scheidung ist derjenige einer heftigen Spannung; die Aktion entwickelt sich rasch und gewaltsam. Die Kriegsereignisse in Algier, die ersten und letzten Lorbeeren der Restauration, verschwinden vor dem Gewicht der Zeitlage. Tadelnde Thronadressen; Prorogation und Auflösung der Kammern; neue und ebenso heftige Kammeropposition; die Ministerräte in Saint-Cloud mit den 5 Ordonnanzen als Ausgang: ein Staatsstreich, gestützt auf jesuitische Auslegung von Art. 14 der Charte; nun der Strassenkampf: Das Volk, um das es sich in den Debatten der 15 Jahre nicht gehandelt hatte, entscheidet den Sturz der Regierung, um sich von denen, die dem Kampfe fern geblieben waren, eine neue setzen zu lassen. Die Adler träumen in den drei Tagen in blutiger Poesie einen kurzen Souveränitätstraum.
So fielen die Bourbons, schon durch das Prinzip ihrer Thronbesteigung die lebende Protestation gegen die von der Revolution ausgegangenen Rechte und Institutionen. Die Solidarität gegen ihre eigene Partei und den Clerus verfolgte sie bis zum letzten Augenblicke. Frankreichs Zustand unter ihrem Regimente begreift eine dumpfe Gährung; es ist ein fortlaufendes Sich-Messen des alten und neuen Geschlechtes, ein Kampf der Furcht und der Unruhe, ebenso sehr durch die materiellen als die geistigen Interessen geschürt. Die Revolution von 1830 hatte die Bestimmung, die Befürchtungen und die Hoffnungen auf eine Rückkehr der alten politischen Ordnung definitiv zu Grabe zu tragen. Noch war aber die republikanische Idee in Frankreich bloss im Keime vorhanden, und eine republikanische Partei existirte kaum anderswo als in einer Faktion des alten Carbonarismus.
Der Dichter der Restauration nach der Einen Seite ihres Verlaufes, derjenige der in seiner Entwicklung ihr folgt bis an ihren Untergang, der mit diesem in seiner vollen Ausbildung und Höhe dasteht, der als Dichter nach dem Sturze der Restaurationsperiode rasch selbst verfällt, aufgestiegen als Stern, niedergesunken als Meteor: das ist Lamartine. Der [22] Politik fremd bleibend, vertritt er in allgemeinster Weise die religiöse Seite dieser Zeit, wie sie namentlich das Leben der höheren Gesellschaft durchzog. Und wie die Restauration mehr und mehr kirchlich-hierarchisch, so wird Lamartine in steigendem Maasse christlich-religiös; er geht auch hierin der periodischen Entfaltung seiner Zeit parallel und steht auf seinem Feld am reinsten gerade für die späteren Jahre, die Restauration in ihrer vollen Blüte bis zum raschen Abbruch. Diese Bestimmung unterliegt, es ist wahr, einer Modifikation: Lamartine, die reine Dichterseele, vertritt das durchaus Universelle des Christentums, das er als die ewige Wahrheit in seiner Geltung und Weihe für Alle nimmt. Die spezifisch kirchliche Seite berührt ihn nicht; Alles, was an den Tendenzen der Congregation weltlich, unwahr und gemacht erscheint, liegt fernab von seiner Strasse; die Fragen und Einseitigkeiten der Schule und des Dogma, alle Verweltlichung und Veräusserlichung stösst seinen Sinn ab; Lamartine ist Christ in der höchsten Allgemeinheit; er stellt nur die reinste Blüte dieser Zeitrichtung dar. Wer aber darum läugnen wollte, dass er durch und durch von dem Geiste der Restauration bestimmt und wiederum ihn bestimmend sei: der setzt die parallele Entfaltung dieses Geistes in der Zeit und dem Dichter, der setzt das gesellschaftliche Leben in seiner Einwirkung ausser Acht.
Erstdruck und Druckvorlage
J. J. Honegger:
Victor Hugo, Lamartine und die französische Lyrik des neunzehnten Jahrhunderts.
Historisch-critisch dargestellt.
Zürich: Meyer und Zeller 1858.
Unser Auszug: S. 1-22.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.32044009889650
URL: https://www.google.de/books/edition/Victor_Hugo_Lamartine_und_die_französis/gCxAAAAAYAAJ
URL: https://archive.org/details/bub_gb_-8g-AAAAYAAJ
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10733100
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Lyriktheorie » R. Brandmeyer