Johann Jakob Wagner

 

Poesie

(Sprachkunst)

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

[93] als Kunst des lebendigen Wortes, welches außer den angeführten Nachbildungen der drei vorigen Kunstformen noch ihre Vereinigung zum vollständigen Ausdrucke der Idee eines zugleich gemüthlichen und geistigen Lebens enthält.

Für die Plastik lag das Wesen in der Masse, und in der Malerei trat die Farbe, in der Musik der lebendige leibliche Ausdruck an ihre Stelle. In der Poesie liegt das Wesen im lebendigen Worte, als dem würdigsten und vollständigsten Ausdrucke der Idee, und wie die Masse in der Gestalt, das Gemälde in der optischen Erscheinung, die Mimik in der Bewegung ihre Form findet, so muß auch das lebendige Wort sich eine Form geben als Sylbenmaaß.

Wenn der Schauspieler das lebendige Wort ausspricht, so entsteht ein Spiel mit dem lebendigen Wort, wie der Gesang ein Spiel mit dem lebendigen Tone, der Tanz ein Spiel mit dem lebendigen Schritt etc. war. Da der Mensch in dem Worte seine ganze Reproduktion ausspricht, so wirft sich auch die Kunstform in das Material des lebendigen Wortes. Die in lebendigem Worte durchgeführte Weltansicht wird Sprache, sie ist das Material der Sprachkunst oder Poesie. Hier ist die Frage, wie das einzelne Wort gefaßt werden soll. Die Aufgabe der Wissenschaft ist, jede Vorstellung zur Idee zu bringen, die umgekehrte Aufgabe hat die Kunst, jede Idee zur Vorstellung zu bringen. Da kommt es darauf an, daß die Idee in das Sinnliche der Vorstellung als Leib verhüllt werde, wogegen in der Wissenschaft die Leiber vergeistigt werden müssen. Die Poesie muß die Welt zum Webstuhl machen, die Wissenschaft den Webstuhl zum Universum. In das Wort als sinnliche Vorstellung muß eine Idee als Seele gelegt werden, so daß die sinnliche Vorstellung von der Idee durchdrungen sei, wie ein Leib von einer Seele. Das Wort kann [94] die Idee in so hohem Grade aussprechen als nur möglich. In der Statue z. B. kann sich die Idee nur so weit aussprechen, als sie in Stein darstellbar ist. In der Poesie dagegen läßt sich Alles darstellen, nicht allein das Aeußerliche und Gemüthliche, sondern auch die Intelligenz. Sie ist die Kunst aller Künste.

Das Schema für die Poeste ist nach dem Anhang zum "Organon der menschlichen Erkenntniß" §. 20.

Idee       
Lebendigkeit   Spiel
Bild.

Die Idee macht wie bei allen Kunstwerken das Wesen aus. Daher kann ein gereimtes Ding, in dem bloß Begriffe liegen, aber keine Idee, nicht Gedicht heißen. In einem Gedicht über das Geschlechtsverhältniß z. B. dürfen also Mann und Weib nicht als Zeugende und Empfangende, sondern sie müssen als Weltformen erscheinen. So hat Walter Scott auch nicht in einem seiner Romane Poesie, und doch sind sie interessant. Das beruht auf der lebhaften Auffassung der äußerlichen Erscheinung des menschlichen Lebens und Handelns, der anziehenden Beschreibung von Gegenden etc. In allen aber fehlt die Idee, d. h. der Gegenstand ist nur nach der sinnlichen Erscheinung, nach dem Begriffe, nicht als Weltform aufgefaßt. Wenn man einen Scott'schen Roman liest und sich fragt, was will er denn mit all diesen Charakteren, Naturscenen etc., so wird man bei Scott dasselbe finden, wie im Leben der Menschen überhaupt: sie lieben sich, sie hassen sich, sie treiben sich herum, und wissen selbst nicht warum. In keinem Scott'schen Romane ist eine Weltanschauung, wie man sie bei Göthe fast auf jeder Seite findet. Auch bei Schiller findet sich häufig keine Idee, so daß er auch von dieser Seite kein gediegener Dichter heißen kann.

Die Idee darf sich aber auch nicht abstrakt aussprechen, sie muß in ein Bild gekleidet sein, sich in sinnlicher Anschauung aussprechen. Das Bild ist der Leib einer Vorstellung, den die Idee [95] angenommen hat, und die ihn durchdringen muß. In jeder poetischen Darstellung findet eine Schöpfung Statt, die Beseelung eines Leibes, eine universelle Idee in einem Leibe. Wenn ich z. B. sage: diese Menschen treiben vergebliche Arbeit, so ist das Prosa, die aber zur Poesie wird, wenn man sie in ein Bild kleidet, z. B. wie in den Xenien:

Lange schöpfen sie in ein Sieb und brüten den Stein aus,
   Aber das Sieb wird nicht voll, aber der Stein wird nicht warm.

Wendet man diesen doppelten Maaßstab von Idee und Bild auf die Gedichte an, so kommt über die meisten gereimten Dinge ein trauriges Schicksal.

Es giebt ein ganzes Gebiet der Poesie, die orientalische – hauptsächlich arabische Poesie, in der es gewöhnlich ist, daß die Idee neben den Leib hingestellt ist als Gleichniß. Z. B. wie der Quell den Durst des Wanderers stillt, so stillt ein Buch den nach Wissen durstigen Geist. In unserer Poesie ist aber mit dem Bilde die Idee vereinigt z. B.

das Pergament ist das der heilige Brunnen u. s. w.

Hier läuft die Seele nicht neben dem Leibe her. Wenn sie aber den Leib durchdringt und seine Bewegungen verursacht, so ist dieß die ächte Poesie. Das Bild, in welchem die sinnliche Anschauung liegt, muß so sein, daß die Idee darin leben und sich bewegen kann. Das ist die Lebendigkeit, die eine spielende, nicht eine methodische sein muß. Die Idee soll im Leibe Leben sein und mit den Bewegungen des Leibes spielen, während in der Wissenschaft Construktion ist. Beide, Spiel und Construktion, enthalten successive Entwicklung, aber in der Poesie müssen sich die Ideen nach ihrer sinnlichen und gemüthlichen Verwandtschaft, nicht nach ihren Construktionsverhältnissen an einander anschließen, indeß bei der Construktion die Entwicklung mit der Welt übereinstimmen muß. In der Poesie muß die Entwicklung individuell sein, d. h. aus den Verhältnissen des Individuums, aus seiner Phantasie, seinen Gefühlen, wie beim Componisten, hervorgehen. Man läßt [96] in der Musik die Töne nicht folgen wie in der Harmonielehre, sondern wie die Gefühle sie angeben. Wenn die Lebenserscheinungen der Idee nach subjektiven Gesetzen sich folgen, so hat man Spiel. Z. B. in Don Juan lassen sich die Erscheinungen auf Construktion bringen, aber sie folgen in diesem herrlichen Kunstwerke nicht nach der Construktion auf einander, sondern nach der Individualität und den äußern Begegnissen. Hätte Virgil in seinen Georgica eine methodische Anweisung zum Landbau gegeben, so wäre sie reine Prosa, so aber spielt er damit, wie die ländlichen Beschäftigungen das Gemüth ansprechen.

Wenn nun alle Poesie eine Verleiblichung der Idee im Bild verlangt, und die Ideen sich lebendig bewegen, die Bewegungen aber sich als Spiel folgen müssen, so entsteht hier ferner die Frage, ob in der Poesie jedes Wort ein Bild sein müsse. Da würde z. B. bei Homer ein großer Theil für unpoetisch gelten müssen, denn wie oft hat er nicht: er fragte, antwortete, sprach, gieng fort u. s. w., ja sogar ganze Seiten sind ohne Bild. Aber bei Homer ist das Ganze durch und durch Bild, das Leben ist so aufgefaßt. Da kann das Einzelne nicht auch Bild sein. Je weniger aber das Ganze Bild ist, desto mehr muß es dieß im Einzelnen sein. Die größte Vereinzelung ist das Epigramm und dieß muß durch und durch Bild sein.

Wenn die Poesie jedes gesprochene Wort als Bild nimmt, so kann sie plastisch werden und um so mehr, je mehr der Dichter das Bild sinnlich nimmt. Dann hat der Dichter die erste Kunststufe. Keiner ist so plastisch als Homer, wozu kommt, daß in der griechischen Sprache jedes Wort die strengste sinnliche Bedeutung hat, wie z. B. schön nicht in dem Zusammenhange von Denken (er hat schön gedacht) stehen darf. Homer ist so steinern plastisch, daß in ihm fast gar keine gemüthliche Seite zu finden ist. Z. B. im Kampfe begegnen sich zwei alte Gastfreunde. Statt gegen einander zu kämpfen, tauschen sie die Waffen aus. Nun ist der eine reich, der andere arm, [97] Des einen Waffenschmuck ist hundert Ochsen werth, des andern zehn. Darüber lacht nun Homer und sagt, dem müsse Jupiter den Sinn verrückt haben, einen solchen Tausch zu machen. Wie schnöde und gemüthlos!

Für die Plastik lag das Wesen in der Masse, und in der Malerei trat die Farbe, in der Musik der lebendige leibliche Ausdruck an ihre Stelle. In der Poesie liegt das Wesen im lebendigen Worte als dem würdigsten und vollständigsten Ausdruck der Idee, und wie die Masse in der Gestalt, das Gemälde in der optischen Erscheinung, die Mimik in der Bewegung ihre Form findet, so muß auch das lebendige Wort sich eine Form geben als Silbenmaaß.

Bei der Poesie liegt das Wesen in dem lebendigen Worte und geschriebene Gedichte können nur insofern gelten, als sie in lebendiger Sprache vorgetragen werden sollen. Das lebendige Wort nun muß eine ästhetische Form annehmen, und diese heißt Silbenmaaß. Die Gedichte, die kein Silbenmaaß haben, müssen bei der Poesie um Verzeihung bitten, daß sie diese Vollendung der Darstellung sich nicht aneigneten. Anfangs, bei der Bildung der Sprache, sind selbst Romane metrisch gewesen, und ihre Theile einzeln herausgehoben sind Romanzen. Die ungestaltete Sprache, die nicht metrisch organisirt ist, darf sich also an die Poesie nicht anschließen. Die Organisation des Silbenmaaßes kann man nun in das Materielle (Vokale und Consonanten) verlegen oder in das Fortschreiten. Auch hier geht die Form wieder aus von Gegensätzen, welche aus dem lebendigen Worte herausgehoben werden, und entweder als Reim in dem Materiellen der Vokale, oder als Versfuß in dem Formellen der Fortschreitung gesucht werden. Der Reim verlangt Identität des Vokals bei Differenz der Consonanten, wobei das Uebergewicht der letztern ihn in Assonanzen erlöschen läßt; der Versfuß bezeichnet die Silben verweilend (lang) oder flüchtig (kurz), entweder (griechisch) nach dem Pronunciationsverhältnisse der Vokale und Consonanten, oder (deutsch) nach dem Bedeutungswerthe der Silben. [98] In einer nach der Construktion gebauten Sprache müßte Beides zusammenfallen.

Aus der Verbindung des Reimes mit dem Versfuß entsteht ein vollständiges Silbenmaaß, welches in seinen geschlossenen Abtheilungen (Strophen) die Reime mit sich selbst als männliche und weibliche in Gegensatz bringend eine Abwechslung bewirkt, welche der Versbau durch die Unterbrechung correspondirender längerer und kürzerer Zeilen erreicht. Will der Versbau seinen Gegensatz in eine einzige Zeile zusammendrängen, so entsteht daraus der Hexameter oder der Alexandriner mit einer steigenden und einer fallenden Hälfte.

Die Sprache fieng mit dem Reime an sich für das Gedicht zu bilden, und die Assonanzen sind bloß unvollkommene Reime, beruhend auf der Identität der Endvokale z. B. Zahl und Stand. Unsere älteste deutsche Sprache war äußerst künstlich und reich in den Assonanzen; auch in den hebräischen Psalmen will man sie entdeckt haben. Die Grundsätze einer natürlichen Prosodie folgen der Aussprache, und zwar ist dieß durchgreifend bei den Griechen, wo eine Silbe durch Position lang wird, weil hier ein Vokal zwei Consonanten zu tragen hat, während im Deutschen die Länge dem Begriffe, dem Bedeutungswerthe folgt. Eine poetisch durchorganisirte Sprache müßte Beides verbinden. Die poetische Sprache bringt ihre Sätze in Abtheilungen, die am Ende sich reimen und innerhalb derselben am Ende in Rahmen, (Takte, Versfüße), gebracht sind. Den Gegensatz und die Geschlossenheit im Distichon hat Schiller sehr schön ausgedrückt und zugleich einen Beweis schöner Verleiblichung der Idee gegeben in dem Distichon:

Im Herameter steigt des Springbrunns silberne Welle,
   Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.

Ein Gedicht verlangt, um seine Bestimmung zu erreichen, durchaus die menschliche Stimme, damit neben dem Sinne, dem Gefühle und der Phantasie auch das Silbenmaaß sich geltend mache. Bei allem Lesen wird die Schriftsprache in Tonsprache übersetzt, denn die Schriftzeichen sind nur weitere [99] Objektivirung der Töne. Nur der laut Lesende kann sich auch am Silbenmaaße ergötzen. Daher sind die geschriebenen und gedruckten Gedichte bloß da, um von einem guten Deklamator oder Rhapsoden aus dem Grabe des Buchstabens in das Leben der Stimme erweckt zu werden, so daß die Idee wahrhaft äußerlich erscheint, in der sinnlichen Anschauung aufblüht, daß sie ihr Geistermäßiges ablegt und wirklich leibt und lebt. Auch hievon gilt Göthe's Wort:

Grau, theurer Freund, ist alle Theorie,
Doch grün des Lebens gold'ner Baum.

Nur hätte Göthe die Wissenschaft sollen weiß nennen, und so muß man auch hier, wie bei der meisten Poesie, das Mangelhafte hinweg-, das Fehlende hinzudenken.

In der Prosa enthält jede Periode einen Gegensatz des Sinnes im Vordersatz und Nachsatz, z. B. Durcharbeiten der Erkenntniß und Aussprechen der Erkenntniß (subjektiv und objektiv). Was hier Gegensatz des Sinnes ist, muß im Versbau zum Gegensatz der Silbenbewegung ausschlagen. Der Vordersatz muß steigen, der Nachsatz fallen, entweder in Einem Verse ´oder in zwei entgegengesezten. Das Urschema in den Perioden heißt: alles Wesen geht durch die Gegensätze aus sich heraus und durch die Vermittlung in die Form. Hier ist wieder der Gegensatz im Sinne: das Aufschließen und Zuschließen oder Vollenden. Wenn das in's Metrische übertragen wird, muß die eine Hälfte einen steigenden, die andere einen fallenden Vers geben. Die Form der Poesie ist, Alles, was im Bilde dargestellt ist, auch in's Versmaaß zu bringen.

Da in der Kunst sich die Weltanschauung des Geistes, die in der Wissenschaft zu Einem alles umfassenden Systeme der Weltform ausschlagen muß, theils vereinzelt, theils nach der objektiven also sinnlich anschaulichen Seite hinwendet, so kann die Poesie eine Weltanschauung im Ganzen nur in soweit aussprechen, als sie das in unserm Planeten sichtbare Naturleben zu einer Lebendigkeit des All ausdehnend Welt und Erde mit einander verwechselt, was Kosmogonie [100] giebt, und wobei die Richtungen des Naturlebens hypostasirt und universalisirt nach ihrer Subordination und Coordination als Götter erscheinen, so daß mit der Kosmogonie eine Theogonie sich verwebt. Außerdem ist die poetische Darstellung eingeschränkt auf das Menschenleben, in dessen Darstellung Gemüth und Geist sich durchdringen. Auf die Frage: was kann die Poesie durchführen? ist die Antwort: die Kunst muß überhaupt ihre Aufgabe in einzelnen vielen Anschauungen lösen, sie muß ein vielgeschliffener Diamant sein. Was ist nun die umfassendste Aufgabe der Poesie? Da die ganze Welt nicht in die Anschauung fällt, sondern nur die Erde mit dem gestirnten Himmel als ihrer Einfassung, der sich durch zwei Gestirne, Sonne und Mond, der Anschauung besonders aufdrängt, so tritt die Erdanschauung für die Weltanschauung ein und wird nebst Sonne, Mond und Sternen poetisch durchgeführt (§. 21 und 22 des Anhangs zum Organon der menschlichen Erkenntniß). Selbst Moses erklärt in seiner Kosmogonie nicht, wie die Welt, sondern wie die Erde erschaffen worden sei. Sonne, Mond und Sterne kommen dann bei ihm als Himmelslaternen für uns arme Erdbewohner vor, unselbständig und nicht als Sphärensysteme. Hier ist ebenfalls der poetische Standpunkt für die Lösung der Aufgabe, wie die Welt erschaffen sei. Dieß ist also das Erste, daß die Idee des Universums auf das Bild der Erde zusammengezogen ist. Wenn man nun weiter geht, so unterscheidet sich Moses von den heidnischen Kosmogonien. Bei ihm tritt der schaffende Gott ideell gegenüber der Welt, die er durch sein Wort geschaffen hat. Die Heiden dagegen bleiben bei dem Bilde stehen; sie lassen die Erde mit dem ihr innewohnenden Leben fortwirken. Hier lassen sich Stufen der Produktion unterscheiden: zuerst die allgemeinen Formen des Erdenlebens, die Elemente. Sie sind von dem Erdenleben die erste Produktion. Darauf folgen die mineralische, vegetative, thierische und menschliche Produktion, so daß hier die Idee des Erdenlebens mit ihrer Lebendigkeit fortwirkt. Diese Produktionsstufen des [101] Erdenlebens verlangen wieder Bild zu werden, d. h. individuelle Anschaulichkeit zu erhalten, indem sie sich zu individuellen Wesen gestalten und als Individuen handeln, durch Zeugung und nicht durch Stufenentwicklung produziren. Es sind zweierlei Geschlechter geworden, die sich begatten, und der Eros ist die Nothwendigkeit der Begattung. Dadurch haben die allgemeinen Stufen, die höhern Götter, immer speziellere Stufen, niederere Götter gezeugt, und so ist die Kosmogonie zur Theogonie geworden. Die höhern Produktionsstufen stehen immer über den niederern und beherrschen sie; das Bestimmte wird überall vom Allgemeinen influirt, und so ist das Allgemeine zu Göttern geworden, das Bestimmte zu Menschen. Da nun Sonne, Mond und Sterne ebenfalls entscheidenden Einfluß auf die Erde haben, so sind sie ebenfalls erdbeherrschende Götter geworden und unter allen ist keiner so mächtig als der Sonneneinfluß. Jeder Gott und jedes endliche Wesen schaltet und waltet in dem Gebiete, das er eigentlich selbst ist, z. B. der Gott des Wassers herrscht im Wasser. Die höchste Aufgabe der Poesie, die Kosmogonie, läßt sich nur lösen, wo Götter möglich sind. Wo aber Ein Gott die Götter vernichtet hat, läßt sich Kosmogonie nicht mehr als Theogonie durchführen. Dagegen ist unbeschadet des christlichen Monotheismus eine poetische Durchführung noch möglich, indem die Elemente und Stufen als Geister erscheinen, z. B. Faust's Erdgeist, die Waldgeister, die Gnomen u. s. w. des Volksglaubens. Sie sind Elementargeister, die neben der Einheit Gottes, dem sie unterthan sind, bestehen können. Wie die ganze Poesie ihre Entstehung aus Freiheit erwartet, so wird sie auch diese Geister aus Freiheit erwarten, obgleich die Wissenschaft nach dem Gebiete der Dichtkunst sie wieder aufhebt, wie man, wenn der Vorhang gefallen ist, auch die Coulissen nichts mehr gelten läßt. Um die in der Erde wirkenden Kräfte aus Freiheit wahrhaft poetisch aufzufassen, z. B. daß das Eisen eine Sehnsucht nach dem Magnet hat, fehlt es noch an einer Naturphilosophie, die diese Kräfte völlig [102] durchschaute, und so ist dieses Werk erst von der Zukunft zu erwarten.

So lange es noch nicht soweit gekommen ist, bleibt die höchste Aufgabe für die Poesie das Menschenleben mit seinem Dasein, Wirken und Handeln, und da gilt es wieder die höchste Aufgabe des Menschenlebens, wenn die Aufgabe der Menschheit in einer Gesammtheit – Volk und Staat – sich löst. Hier auf dem Gebiete der Kunst erscheint eine Volksmasse als Gesammtmenschheit, durch menschliche Triebe und Gefühle in Bewegung gesetzt, mit andern Völkern in Berührung und in dieser Berührung drängend und zurückgedrängt, vom Geschicke in seinen Bewegungen unterstützt oder gehemmt. Dieß ist das epische Werk, das die höchste Aufgabe der Gestaltung des Menschenlebens durchführt an einem Volke; und wenn seine Lebensbewegungen in die Geschichte fallen, so ist das epische Gedicht welthistorisch. Daher bearbeitet das epische Gedicht eine Aufgabe, die in der wirklichen oder Sagen-Geschichte für welthistorisch gegolten hat, wie der trojanische Krieg, die Befreiung Jerusalems. Des Menschenlebens höchste Anschauung liegt vor in der Weltgeschichte und ein herausgehobener poetisch dargestellter Moment derselben giebt das epische Gedicht, dem historischen Gemälde vergleichbar. Der Moment, welcher im Epos dargestellt wird, kann auch aus dem Mythus genommen werden, weil in diesem ebenfalls menschliches Leben und Handeln enthalten ist. Da nun bei einem solchen Moment immer Einer an der Spitze steht, den man den Helden nennt, so heißt das Epos auch Heldengedicht. Betrachten wir nun z. B. die Messiade, so ist sie im Ganzen der Ausführung aus ihrer Aufgabe gefallen, weil Klopstock, statt die welthistorische Ansicht durchzuführen, zu sehr ins Lyrische fiel. Sie ist daher kein eigentliches Epos zu nennen. In einzelnen Stellen aber hat sie ungeheuer viel poetischen Werth, namentlich in Beziehung auf das Lyrische, womit sie sehr an's Gemüth spricht, dann auch in dramatischer Hinsicht durch die Durchführung der Handlung etc.

Im Epos liegt ein Wirken, das vom Subjekt ausgeht [103] (subjekt-objektives) und welches Handlung oder That heißt, und eines, das vom Objekt ausgeht, objekt-subjektives, und welches Begebenheit heißt. Beide Arten dieses Wirkens kann man besonders herausheben, und dadurch erhält man zwei neue Dichtungsarten. Wie sich nun in dem epischen Gedicht die von dem Subjekte ausgehende That mit ihrer objektiven Verbindung als Begebenheit in Wirkungen vereinigt, so kann die Poesie beides gesondert im historischen (Erzählung) oder Drama darstellen, und weil dieß Alles auf Fühlen und Wollen, Erkennen und Wirken des Individuums zurückläuft, so hat die Poesie auch noch ihren individuellen lyrischen Theil. Wenn man die höchste Stufe des Epos verläßt und herabsteigt, wird das Gebiet immer enger. Im epischen Gedicht findet man Begebenheiten, in welchen das Volksleben sich fortbewegt. Die Begebenheiten sind äußere Zustände. Auf der andern Seite findet man veränderte Zustände durch Handlungen, so daß in einem Epos das Leben sich fortbewegt in Begebenheiten des Schicksals und Handlungen der Willkühr. Es ist also ein zweifaches Gebiet für die untergeordnete Poesie. Das eine ist, Begebenheiten zu erzählen. Sie hebt dann die unfreiwillige Veränderung der Umstände heraus und heißt die historische Poesie, wozu der Roman, das Märchen etc. gehört. Die andere Seite dieser Poesie ist die, welche die freiwilligen Thaten heraushebt, dramatische Poesie. Geht man von den Begebenheiten und Thaten bis auf den einzelnen Menschen, der die Begebenheiten erfährt, von dem Thaten ausgehen, und dem die objektive Welt gegenüber steht, so ist dieß die lyrische Poesie, deren Idee ist die Welt, wie sie mit Begebenheiten und Thaten im Subjekt, in seinen Ansichten und Gefühlen, sich spiegelt. Es wird also in der lyrischen Poesie die Welt nicht dargestellt, wie sie ist, an die Sache gebunden, sondern wie sie den Dichter anspricht. Daher ist die lyrische Poesie oft im Widerspruch mit der wirklichen Welt; sie hat nur den subjektiven Charakter ("wie sich mir der Gott im Busen regt"). In der lyrischen Form giebt der Dichter sich als Weltspiegel und auch seine [104] vorübergehenden Stimmungen darf er dabei darstellen, sobald er nur sie poetisch durchführt. So kann der Dichter in zwei Gedichten zwei entgegengesetzte Stimmungen preisen und dabei hat der Dichter Recht. Z. B. in dem einen Gedicht kann er sagen: "bleibe im Lande und nähre dich redlich", in dem andern "zieh' fort in die weite Welt", sobald nur Beides in seiner Seele sich poetisch gespiegelt hat. Göthe z. B. sagt: "ich hab' mein Sach' auf Nichts gestellt", und wenn es schon nicht wahr ist, so ist es doch poetisch durchgeführt, denn wie es in der Sache sei, geht hier den Dichter Nichts an. Im historischen Gedicht dagegen muß der Dichter dem Gegenstande im Ganzen treu bleiben, er darf nicht die Idee, die die Geschichte ausspricht, verrücken und wie Schiller aus dem Wichte Wallenstein einen Helden machen.

In der lyrischen als der individuellen Poesieform giebt sich das Individuum – also der Dichter – als Spiegel der Welt, in dem Drama tritt Individualität redend und handelnd gegen Individualität auf, in der historischen Poesie wird von dem Individuum nur erzählt, und in dem Epos spricht die Sache durch ihre welthistorische Organisation sich selbständig aus. Daher verhalten sich die vier Poesieformen wie die vier Pronomina: ich, du, er, es. Die erste Pronominalform heißt Ich, das handelnde Subjekt, die zweite Du, welches mit dem ersten in handelnden Verkehr tritt, die dritte Er, von dem beide reden, und die vierte Es, die Sache. Das Ich der poetischen Formen ist die lyrische Poesie, der Eindruck, den das menschliche Leben und Handeln auf das Ich, des Dichters macht. In dieser Form allein darf sich die Individualität des Dichters geltend machen, und die Dinge kommen hier vor, nicht wie sie sind, sondern wie sie den Dichter ansprechen. Der Dichter sagt hier, wie sich die Welt in ihm spiegelt, und da muß namentlich von Göthe gesagt werden, daß er ein wahrer Weltspiegel sei. Die dramatische Poesie ist das Du, denn Ich und Du, wir sprechen und handeln mit einander. Die historische Poesie heißt Er, denn da wird von Per[105]sonen erzählt. Daher ist die Odyssee eigentlich kein Epos, denn es wird hier von einem Dritten erzählt. Das Es gilt für das Epos, wo die Personen nur Werkzeuge der Sache sind.

Menschen sind miteinander verwebt durch die ihnen gemeinschaftliche formale Ansicht der Dinge, über welche sie sich durch die Sprache verstehen und durch das auf die Dinge gerichtete Handeln, mit welchem sie sich auf dem Gebiete der Dinge begegnen und welches ebenfalls formal ist. Daher entsteht für die ganze Menschenwelt ein adäquates Verhältniß der Form in der Ansicht und im Handeln zu der Sache als Regel, und wo dieser Gegensatz in dem einen Gliede hinkt, da entsteht das Komische. Die Dinge kümmern sich um die formalen Ansichten, wie von Recht, Eigenthum, Pflicht etc. nicht. Diese sind aber den Menschen nothwendig, die sich darüber durch die Sprache verstehen, die sie unter sich für sich selbst gemacht haben, so daß die Menschen dadurch sich eine ganz neue Welt schaffen. Nimmt man z. B. die Weinberge, so ist es diesen gleichgültig, wem sie gehören, wo ihre Gränzen seien, ob sie durch Steine, Mauern etc. bezeichnet seien. Die Menschen aber spinnen und weben über ihnen ein Netz formaler Begriffe und ökonomischer Ansichten. Sie verstehen sich in der Beurtheilung der Dinge und richten darnach ihre Handlungen ein. Also eine zweifache Welt ist über der Welt der realen Dinge: eine Welt der Ansichten und eine Welt der Handlungen, um welche sich die Dinge nichts kümmern. Dieß ist eine ganze Hälfte des Menschenlebens. Da giebt es eine Regel, nach welcher die Ansichten und Handlungen der Menschen in sich selbst consequent sind oder nicht. Wenn nun zwei Ansichten oder Handlungen auf einander bezogen sich nicht entsprechen wie Mittel und Zweck, so liegt hier die Idee des Hinkenden, die wesentlich in der Poesie ist, welche die einzige Kunstform ist, die das Menschenleben zur Aufgabe hat. Daher gehört das Komische, das Nichtpassen, das Nichtentsprechen der Ansichten und Handlungen, die einander nicht entsprechenden Glieder im Gegensatze in die Poesie. In der Malerei wohnt [106] das Komische nicht, denn ein gemaltes komisches Gesicht ist eben das wirkliche Gesicht, das in seinen Verhältnissen komisch ist. Die Musik kann wohl eine heitere Stimmung durchführen, aber komisch ist sie an sich nicht. In der Poesie aber ist sogar eine komische Ansicht möglich in welthistorischem Treiben, wenn man eben hier närrisch treibt, z. B. wie Don Quixote das Verhältniß seiner Zeit zu der menschlichen Aufgabe ganz falsch (ritterlich) gefaßt hat, und eine Nation kann ein Don Quixote im Großen sein. Dadurch ist Don Quixote, das Meisterwerk der komischen Dichtung, so tief komisch, weil die Ansichten, die er von den Dingen hat, den Dingen selbst nicht gleich sind. Man darf nur welthistorische Stoffe, so gut als Begebenheiten, Thaten und Handlungen närrisch machen, so sind sie komisch. So hat Göthe in seinem Lied "Die Musen und Grazien in der Altmark" (auf den Pfarrer Schmidt in derselben) das Mißverhältniß von dem geschildert, was der arme Pfarrer zu haben glaubte, zu dem, was er hatte, nämlich die gemeine ideenlose Armuth. Man weiß z. B., daß die Pferdefüße größere Schritte machen, als die Menschenfüße; um nun schnell über den Fluß zu kommen, steigt Einer zu Pferde in's Schiff. Nur ein Narr gräbt ein Gräbchen am Ufer, um das Meer darein auszuschöpfen. Wie bei den Griechen alle Poesie aus den Mysterien kam, so wurde auch Hephästos der hinkende Mundschenk der Götter. Wenn ein Gehender fällt, lacht der Pöbel, während die Humanität den Fallenden bedauert. Der Pöbel fühlt aber das Komische des Fallens richtig, denn auf die perpendikulare Fortbewegung des Gehens folgt eine horizontale des Liegens. Der Gehende fällt aus der Consequenz der Erscheinung. Noch mehr komisch ist, wenn man zwei Gesichter in einem Gesichte zugleich macht, wie Salomon Geßner dadurch jede Gesellschaft lachen machen konnte, da hier die entsprechenden Glieder in der Mimik so nahe zusammendrängen. Das Komische geht durch alle Poesieformen hindurch, ist aber auch nur der Poesie eigen und fehlt den übrigen Künsten, weil ihnen der vollständige Ausdruck des Menschlichen abgeht. Sie [107] können höchstens die Erscheinung des Komischen auffassen, aber das Wesen desselben bleibt formal.

Die niederste Form der Poesie, die lyrische, hängt noch durch die Sangbarkeit mit der unter ihr stehenden Tonkunst zusammen, sowie diese in ihren höchsten Formen von der Poesie die Sprache schon borgt. Diese Sangbarkeit giebt der lyrischen Poesie noch ein gemüthliches Verhältniß, aus welchem die höhern immer geistiger werdenden Formen sich losreißen. Die lyrische Poesie hängt in hohem Grade mit des Dichters Gemüth und Subjektivität zusammen und dieses Gemüthsspiel ist der musikalischen Form verwandt. Das lyrische Gedicht soll sangbar sein, hat es ja doch von der Lyra seinen Namen.

Der lyrischen Poesie einfachstes Produkt ist ein einzelner Gedanke, der in der höchsten Kürze des metrischen Ausdrucks Epigramm genannt wird, und ein Urtheil enthalten muß, mit welchem poetisch gespielt wird. Das Spiel zeigt sich hier theils in der Objektivität des Ausdrucks als Bild, theils in der Wahl des Ausdrucks, die unter mehreren möglichen Bezeichnungsarten herumgeht. Mag ein Gedanke dèr Phantasie noch so groß, dem Gefühle noch so tief rührend sein, ohne Bild ist er keine Poesie; nur wenn er sich als Bild ausdrückt, wird der einzelne Gedanke zum Epigramm. Es verlangt auch, daß die Idee mit dem Bilde spiele und dabei ist möglich, theils das Spiel in der Wahl des Ausdrucks, in mehreren Bildern, theils mit den Empfindungen. So spielt Klopstock in einem Epigramm über das Epigramm in mehreren Bildern

Bald ist das Epigramm ein Pfeil, trifft mit der Spitze;
Ist oft ein Schwert, trifft mit der Schärfe;
Ist manchmal auch – die Griechen liebten's so –
Ein klein Gemäld', ein Strahl
Zum Leuchten nur, nicht zum Entzünden.

Man hatte Schiller und Göthe vorgeworfen, sie haben in ihren Xenien Vieles, was nicht Poesie sei. Darauf antworteten sie:

Unbedeutend sind denn auch manche von euren Gedichtchen!
   Freilich zu jeglichem Satz braucht man auch Komma und Punkt!

[108] Die erste Strophe ist pure Prosa, die zweite durch und durch Poesie, die Zusammenstellung von Prosa und Poesie ist zugleich komisch. In den Achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war in Berlin ein Poet, der weniger selbst Dichter war, als daß er sich über andere Dichter hermachte, Ramler. Auf ihn heißt es nun in den Xenien:

Geht mir dem Krebs in Berlin aus dem Weg! Manch' liebliches Blümlein
   Schwellenden lieblichen Wuchs's geht durch die Scheere zu Tod.

Ein gleich gutes Epigramm ist das Xenion auf Fichte und Nikolai vom Taucher und dem, der im Kahn auf der Oberfläche umherfährt und Häringe fängt. Weil der Witz in der Kürze ausgedrückt sein muß, hat er sich der Form des Epigramms bedient, keineswegs aber ist das Epigramm bloßes Witzgedicht, sondern es muß eben irgend einen Gedanken ausdrücken, und da ist der Name Sinngedicht besser.

Der Gedanke des Epigramms kann von ernster oder komischer Art, auch geistig oder gemüthlich sein; weiter ausgeführt aber nach der gemüthlichen Seite wird er zum Liede, in welchem sich ein Gemüthszustand musikalisch durchspielt nach seinen Gradationen und Gegensätzen; dagegen nach der Reflexionsseite durchgespielt dieser Gedanke in die sogenannte didaktische Poesie fällt, von welcher die Ode die einfachste Form ist. Lehrgedichte sollen nicht lehren, sondern mit dem, was gelehrt werden könnte, geistreich spielen.

Wenn man das, was von Gefühl im Epigramm gelegen hat, als Spiel der Gefühle durchführt, so entsteht das Lied, das man eigentlich die musikalische Poesie nennen kann. Z. B. der Rechtsbegriff durch Gefühle durchgeführt giebt die Gefühle dessen, der seine Freiheit noch uneingeschränkt hat, des Wildfangs, oder dessen, der an die Schranken anrennt, oder dessen, der sich freiwillig Gränzen gesetzt hat. Das Lied ist ein Spiel entgegengesetzter Gefühle, ein Gedanke gefühlsweise getrillert. Dazu kommt nun noch eine Steigerung der Gefühle durch verschiedene Grade. Das Lied ist so musikalisch geworden, und muß sich componiren lassen. Was am höchsten nur [109] Gefühlsausdruck ist, ist am meisten musikalisch. – Die Ode entsteht, wenn Ansichten durch die Reflexionsseite durchgeführt werden. Z. B. das Zigeuner- und Wildfangsleben und das freiwillig sich Gränze setzen durch entgegengesetzte Ansichten im Bilde durchgeführt giebt die Ode. Ein treffliches Beispiel didaktischer Poesie, welche mit dem Lehrstoffe spielt, gab Virgil mit seinen Georgica, aber nicht Horaz in seiner Ars poetica, wo er in seiner eigenen Leichtigkeit und in dem Stoffe aufgegangen ist. Der didaktischen Poesie kürzeste Form ist die Ode.

Weil die didaktische Poesie weniger Verhältniß zum Gemüthe hat als zum Geiste, so wird sie auch der Musik schon mehr entfremdet als das Lied, und kann nicht nur auf die musikalische Begleitung Verzicht thun, sondern auch im Versbaue mit Hintansetzung des Reimes als materiellen Bestandtheils das Formelle suchen, wodurch theils die Ode das eigentliche Kunstgebiet der Silbenmaaße geworden ist, theils auch die didaktische Poesie sich der epischen Silbenmaaße. bemächtigt hat. Wer Klopstock'sche Oden mit Beachtung des Versmaaßes deklamiren kann, der hat schon etwas geleistet.

Was vom Epigramme theils musikalisch theils didaktisch ausgieng, kann in einer Scene menschlichen Lebens zusammentreffen, die in sangbarer Form durchgeführt Romanze genannt wird. Ritterabenteuerlied nach ihrem historischen Ursprunge kann sie jeden Moment des Menschenlebens durchführen, in welchem Geist und Gemüth sich vereinigen. Z. B. "das Veilchen" von Göthe, das Mozart so tief componirt hat, und "Röslein auf der Haide" sind Romanzen. Alle Lebensscene ist Romanze, welche das Gemüthliche der Ode, das Musikalische des Lieds und die didaktische Poesie mit ihren Ansichten zusammenfaßt.

Nun entsteht die Aufgabe, einen und denselben Gedanken durch alle vier Formen der lyrischen Poesie durchzuführen, z. B. den Gedanken der Einsamkeit im Epigramme, die Gefühle darüber im Liede wie Göthe, die verschiedenen Ansichten darüber in der Ode, und die Romanze kann eine einfache [110] Lebensscene erfinden, wo alles dieses vereinigt ist. Es ist unbegreiflich, daß noch niemals ein Dichter darauf verfallen ist, einen und denselben Gedanken durch alle diese Formen durchzuführen. Die Wissenschaft wird noch dazu kommen.

Ein Moment Menschenlebens mit seinem Eindruck auf Gemüth und Geist dargestellt, wobei zugleich die Ursache dieses Eindruckes gegenwärtig erscheint, heißt eine Scene. Für die Romanze kann das Ursachliche ganz einfach gewonnen werden; von der Romanze aus aber geht die poetische Darstellung des Menschenlebens auf zweifachem Wege einer weitern Entwicklung entgegen, indem nämlich die historische (erzählende) Poesie das Ursachliche selbständig setzt, so daß an seiner Einwirkung das Subjektive im Menschen sich entwickelt oder bewährt; die dramatische Poesie aber das Subjektive im Menschen als bestimmend über das Ursachliche setzt.

Das Ursachliche wird zwar immer nur in einzelnen Wirkungen und Rückwirkungen sichtbar, aber im Grunde ist es überall der Weltorganismus, welcher als Schicksal in der Poesie und Geschichte hervortretend letzter Grund alles Ursachlichen ist. Poetisch kann dieses Schicksal, wie in der Kosmogonie die Natur, individuell in Schicksalsmächten und Dienern organisirt werden.

In der historischen und dramatischen Poesie stehen Schicksal und Mensch sich gegenüber. Setzt man das Schicksal als thätig und den Menschen als leidend, so erhält man die historische Poesie, und läßt man umgekehrt das Schicksal von dem Menschen bearbeitet werden, die dramatische. Da der Mensch nur durch Handeln sich sein Schicksal machen kann, so muß das Drama die handelnden Menschen hinstellen. Das Schicksal steht entweder als absolute Macht obenan, oder es wird in Göttern, Geistern, Zauberern etc. individualisirt.

Für die historische Poesie erscheint die menschliche Subjektivität in ihrer Vollendung als letztes Ziel aller Wege des Schicksals, und so tritt also hier als höchste Aufgabe die Vollendung oder Reife des Charakters hervor. Diese wird [111] nun zuvörderst bestimmt durch ihre Anlage, dann durch Geschlechts- und Familien, dann durch Standes-Verhältnisse, und zuletzt durch das, was geographisch oder ethographisch allgemein ist. Ueberall aber muß die objektive Causalität in ihrer Aktion aus der Subjektivität Reaktion hervorrufen und dadurch den Charakter entwickeln, so wie umgekehrt die Subjektivität aktiv nach außen an der objektiven Reaktion die Welt erst erfährt.

Da es für den Menschen keine volle Subjekt-Objektivität giebt, als im Umgange mit seinesgleichen, und da wieder in dieser Sphäre selbst keine tiefere Aktion und Reaktion ist, als im beginnenden und seiner Vollendung entgegengehenden Verhältnisse beider Geschlechter, so ist in der historischen Poesie der Roman, den die Griechen nicht kannten, die vorherrschende Form geworden.

Bei der historischen Poesie wird der Mensch vom Schicksal bearbeitet und so muß im Menschen selbst das Resultat dieser Bearbeitung erscheinen. Da giebt es nun zwei Arten, dieses zu zeigen. Es kann entweder der Charakter des vom Schicksal bearbeiteten Menschen ein schon gereifter sein, und dann kann ihn das Schicksal nur noch prüfen, wie z. B. in der Odyssee, und diese Art heißt Märchen, oder es kann ein noch nicht gereifter Charakter durch das Schicksal zur Reife gebracht werden sollen, und das ist der Roman. Bei den Arabern tritt in ihren Zaubermärchen die Idee des Schicksals in Zauberern personifizirt dar. Die Griechen hatten die Märchen aus dem Orient unter dem Namen Mylesische Märchen. Am tiefsten greifen die Geschlechtsverhältnisse physisch und nach Geist und Gemüth in's Volksleben, und so kann der Roman zu Entwicklung eines jugendlichen Charakters die Liebe nicht umgehen. Daher ist der Roman ein Versuch geworden, die Aufgabe, was die Umstände aus dem Menschen zu machen vermögen, durch das Geschlechtsverhältniß zu lösen. Weil in neuerer Zeit der Liebe durch Standes-, Religions-, Finanz- und anderer Verhältnisse ungeheure Barrikaden in den Weg [112] gelegt sind, so hat sie dem Geschlechtsverhältniß in der Poesie besonders viele Aufmerksamkeit geschenkt. Die Idee des Romans haben dagegen die Griechen nicht gefaßt, weil sie die Liebe nicht kannten, indem sie ihr Geschlechtsverhältniß entweder pflichtmäßig mit der Gattin, oder geistreich aber herz- und und gemüthlos spielend mit der Hetäre trieben. In "Werthers Leiden" ist die Wirkung der Liebe auf die Entwicklung des Charakters herrlich dargestellt, und sie wirkt wirklich so, daß sie ihn völlig entfaltet und aufschließt. In diesem "Werther" ist die Grundidee des Romans, die den Charakter aufschließende Macht der Liebe, dargestellt. In "Wilhelm Meister" wollte Göthe einen Jüngling durch Liebe und Leben zugleich durcharbeiten, aber er kam auf einen ziemlich oberflächlichen Kaufmannsdiener, aus dem Liebe und Leben nicht viel machen konnten, weil nicht viel an ihm war. Göthe fühlte das später selbst und sagte in einem Briefe an Schiller schnöde lachend, er wisse nicht, wie dieser Wilhelm sich einen Meister nennen könne. Göthe hat hier den Roman zu erweitern gesucht, aber, wie es ihm öfter gegangen ist, im Stoff fehl gegriffen. Nun wurde auch noch in den Roman alles Beliebige hineingebracht. So hat Heinse einen Roman über Musik ("Hildegard von Hohenthal") geschrieben und einen über Malerei ("Ardinghello"). Hermes schrieb sechs Bände pfarrlicher Ansichten unter dem Titel "Sophiens Reise von Memel nach Sachsen;" und so ward Alles in dem Roman angebracht.

Wenn man die Aufgabe, einen Roman zu entwickeln, wissenschaftlich lösen will, so muß man auf die Anthropologie zurückkommen und die zeugenden Eltern, die Anlagen, die Zeit, die Nation, die Erziehung, die die Entwicklung hindernden und fördernden Umstände, das Geschlechtsverhältniß, das Standesverhältniß u. s. w. dabei berücksichtigen, so daß hier die Entwicklungsgeschichte von den Umständen abhängig dargestellt wird.

Wie es in der historischen Poesie darauf ankommt zu zeigen, wie der Mensch die Ereignisse und Berührung mit [113] andern Menschen aufnehme und zur Ausbildung oder Bewährung seines Charakters verwende, so hat dagegen die dramatische Poesie einen Charakter aufzustellen, der sich im Kampfe mit andern Charakteren und den Umständen durchführt. Anlage, Geschlechts- und Standesverhältnisse, dann das Welthistorische und Geographische sind aber für beide Arten eine gemeinschaftliche Rücksicht.

Die Organisation des dramatischen Werkes gründet vorzüglich auf reicher und tiefer Anthropologie, die in den Charakterformen und ihrem Gegensatze sich entfaltet. Die selbständige Bewegung der Charaktere giebt hier die Rollen, ihr Zusammentreffen im Handeln die Scenen, das zeitliche Fortschreiten der Handlungen die Akte, und für die Idee, die sich durchführt, ist das Gelingen oder Mißlingen an sich ganz gleichgültig, weil auch in der Realisirung gehindert die Idee auf ihrer innern Nothwendigkeit steht.

Dem Roman gegenüber steht das Drama, das eine bestimmte Charakterform (Rolle) darstellen muß, in der das menschliche Leben sich bewegt und sich sein Schicksal macht. Die Rolle ist durchzuführen in ihrem Verhalten gegen das Schicksal, wobei entweder die Durchführung des Planes gelingt, oder das Schicksal den Plan nicht durchführen läßt, in welchem leztern Fall das Drama Tragödie heißt. In der Tragödie wird der gegen das Schicksal kämpfende Held vom Schicksal erdrückt, aber nur äußerlich. Denn ist die Idee des Helden groß, so kann das Schicksal nie die Idee erschlagen, wenn auch der Held fällt. So begreift Hamlet sich selbst sehr gut. Er sagt, seine Bestimmung sei, die Welt, seine Menschenwelt, die aus den Fugen getreten sei, wieder einzurichten. Ob er nun die Umstände bezwinge oder unterliege, ist gleichviel. Das Erstere heißt Schauspiel. Ob aber der Held gewinne oder erliege, ist für die Poesie gleichgültig. Ist nur die Idee würdig, so ist das Drama gerechtfertigt, denn es kam nur darauf an, daß der Held an eine Idee sich setzt.

Im Drama kann die Charakteristik in den Rollen [114] sich entfalten, wovon die einen die Durchführung fördern, die andern hindern. Hier gilt es dem Dichter, eine reiche Anthropologie zu entfalten. Bei Shakespeare ist die Einsicht in die Verhältnisse der Faktoren herrlich; an seinen Charakteren kann man Anthropologie studiren, und alle haben mehrere Seiten, die aber Einer untergeordnet sind. Neben dieser reichen anthropologischen Lebensfülle steht der anthropologischarme Schiller, dessen Charaktere nur Eine Farbe haben, und von denen man nur so Viel erfährt, als er eben braucht. Bei Shakespeare ist jeder ein ganzer Kerl, bei Schiller nur eine Nase, ein Auge, ein Ohr etc. Göthe hat einmal von Shakespeare gesagt, den Shakespeare habe er sich aufbehalten, den fresse er zuletzt. Das ist durchaus wahr. Die Zeit wird Shakespeare zuletzt fressen, selbst wenn Göthe schon lange gefressen ist.

Die natürliche Zahl der Akte ist die Dreizahl, die Zahl der Parabel, des Steigens, Culminirens und Fallens. Gewöhnlich ist aber die Zahl der Akte die Fünfzahl, weil auf das Steigen zwei Akte verwendet werden, wovon der erste den Fötus, der andere die Entwicklung enthält. Dann kommt der Hochpunkt und in den zwei letzten Akten das Fallen, die Auflösung. Die Fünfzahl ist also nur die ausgeführte Dreizahl.

Die Umstände müssen gehalten werden wie im Tanze. Sie schneiden sich und werden Eins und gehen in diesem Punkte wieder auseinander. Durch das Uebergewicht der negativen Rollen sind die Umstände auf den höchsten Grad der Verwicklung gekommen, so daß das Durchführen des Planes fast unmöglich scheint. Dann muß die Entwicklung kommen dadurch, daß die negativen Potenzen ihren Einfluß verlieren und die positiven hervortreten, die den Plan des Stückes fördern und am Ende siegreich aus dem Kampfe mit den negativen Potenzen hervorgehen. Verwicklung und Entwicklung ist die Form des ganzen Drama's.

Macht man das eine Glied zu einem bloß scheinbaren, so erhält man das komische Drama. Ein Held, der selbst [115] eine Nichtigkeit ist und doch immer handelt und, weil er nichts ist, zappelnd nichts ausrichtet; oder ein ernsthafter Mann, der die Umstände falsch auffaßt und von ihnen gefoppt wird, sich mit dem Stiele des Rechens auf die Nase schlägt, indem er mit dem Fuße auf dessen Zähne tritt, ist auch komisch. Im Romane giebt es ebenfalls solche Umstände und Helden, die entweder nichts sind, oder wo der Held an den Umständen irr ist. Historische und dramatische Poesie können beide auch das Komische aufnehmen, wenn, wie bei dem "Don Quixote" des Cervantes, statt der wahren Idee ein Trugbild den Helden begeistert. Das Komische wird aber hier niedrig, wenn an die Stelle der Idee nur ein Begriff tritt.

Letzte Form der Poesie ist das Epos, welches als Durchführung eines welthistorischen Momentes sich zwar überwiegend an ein Individuum heftet, welchem die Weltgeschichte selber sich angehängt hat, wie z. B. Gottfried von Bouillon; aber der welthistorische Moment kann sich auch ohne Concentration in Einem Individuum in einer Mehrheit von Individuen durchführen, wie in der Ilias, wo dann die Organisation des Ganzen bloß geordnete Abtheilung in Gruppen verlangt und daß die Gruppen, wie in der Plastik, in einem hervorragenden Haupte sich zuspitzen. Begebenheiten und Handlungen müssen sich hier gegenseitig erzeugen.

Das Epos, das Letzte und Höchste, kann die Poesie nur erreichen, wenn sie das Epigrammatische, Lyrische, Historische und Dramatische vollkommen in seiner Gewalt hat, denn im epischen Gedichte soll alles Menschliche zusammentreten. Deßwegen muß es das Volksleben zum Gegenstand nehmen, einen welthistorischen Gegenstand haben. Das Epos nimmt in sich auf das Epigramm in einzelnen Gedanken, die der Dichter nicht weiter ausführt; als Sprüche, Sentenzen, kann man sie herausheben. Es nimmt ferner in sich auf das Lied, wo der Dichter sich seinen Gefühlen überläßt und mit ihnen spielt. So ist Klopstocks "Messias" leider fast nur eine Reihe von Gefühlsergüssen und Liedern, und der Dichter hat sich hier kein [116] Maaß und Ziel gesetzt. Daher ist die überwiegende Seite in diesem sogenannten Epos die Liederpoesie. Die Ode erscheint im Epos in den Reflexionen, aber spielend, besonders in Virgils Aeneis; die Romanze auch wie in der Aeneis die von Nisus und Euryalus; der Roman darin, wie die Umstände die Charaktere entwickeln oder bewähren; endlich die dramatische Poesie, indem hier der Held handelnd auftretend die Durchführung seines Planes von dem Schicksale ertrotzt. Das Letzte ist die Verschlingung von dem Allem zu einem historischen Völkerleben. Das Epos muß unter den vielen Personen, die es aufführt, eine haben, auf der die Idee des Ganzen ruht. Das ist der Held. Aber nicht seinetwegen ist das ganze Gedicht gemacht, sondern er ist darin nur die Hauptperson.

Eine herrliche Aufgabe für eine zukünftige durchgearbeitete Wissenschaft ist: das Epigramm bis zum Epos durch alle Dichtungsarten durchzuführen.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Johann Jakob Wagner: Aesthetik.
Nach dessen Vorträgen und handschriftlichem Nachlaß herausgegeben von Philipp Ludwig Adam.
Ulm: Adam 1855, S. 93-116.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015023071593
URL: https://books.google.fr/books?id=wRNfIGa9LuYC

 

 

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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer