Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Wiener Zeitung
I.
Jedermann dichtet in diesem ehernen Zeitalter; mit lyrischen Gedichten wird der Anfang gemacht, mit Dramen die sogenannte individuelle Entwicklung geschlossen. Ich glaube nicht, daß es Leute gibt, welche die Thatsache läugnen, da man von uneingefangenen Sperlingen, d. h. von solchen, die nicht im Käfig des nett ausgestatteten Buches zwitschern, auf Schritt und Tritt behelligt wird. Und an Vogelhäusern ist denn doch auch kein Mangel. Nicht Jeder ist ein Dichter, der einen Kitzel zum Reimen verspürt, wie nicht Jeder die Liebe kennt, der in seinem Leben Liebschaften hatte. Das starke Naturgefühl, das den Poeten allein macht, manifestirt sich eben so selten in der Neigung eines Mannes zu einem weiblichen Wesen, wie in dem Drang, Gedichte zu produziren. Man sagt mit Recht, es existire kaum ein Mensch, der in seiner Jugend nicht verliebt gewesen und in seinen Flegeljahren nicht poetisirte. Beides ist, wenn wir wollen, sogar menschlich schön, aber es entscheidet nichts in Bezug auf jene beiden Fragen. Das starke Naturgefühl, im allgemeinsten Sinn genommen, muß die Wurzel alles Produzirens sein: ein Baum, ein historisches Ereigniß, eine menschliche Individualität muß vom Dichter durchempfunden werden, bis die elementare Kraft selber, aus der das Phänomen hervorging, in der Darstellung zur künstlerischen Erscheinung kommt. Dieses starke Naturgefühl ist es, was uns in der Kunst überhaupt so unsäglich ergreift und was gerade von der Wirkung, welche die empirische Natur auf uns ausübt, ganz und gar verschieden ist. Denn diese wirkt durch das Einzelne, von der Gesammtheit Losgelöste, sie bindet uns nicht, weil wir unter dem Eindruck des Willkürlichen stehen, für welches wir hundert Prämissen suchen, aus dem wir hundert Konsequenzen ziehen können. Die Natur jedoch, die der Kunst innewohnt, steckt ihre unverrückbaren Grenzen ab, sie knüpft die Fäden, die sich dort in's Unendliche fortspinnen, und der Eindruck, den wir von ihr empfangen, ist der der Nothwendigkeit. Blos der Poet vermag, wenn ihn die dichterische Stimmung überkömmt, die Natur künstlerisch zu genießen, weil er in diesem Zustand instinktiv jenen Akt an ihr vollzieht, indem er augenblicklich die Landschaft z. B. die ihn gerade fesselt zu individualisiren anfängt und alles Zufällige von ihr ausscheidet. Der echte Dichter, der einen Sommerabend schildert, verleiht der Darstellung eine so spezielle Färbung, daß der Leser ein bestimmtes Gesicht, welches blos eine generelle Familienähnlichkeit mit jeglichem Sommerabend besitzt, zu schauen bekommt. So nur erzeugt er im Leser die beiden einander scheinbar aufhebenden Empfindungen: der Dichter habe Klänge aufgefangen, die Keiner vor ihm noch vernahm, und so hätt' ich's auch gemacht, dies hab' ich immer dunkel geahnt. Hier stehen wir vor einem der merkwürdigsten Geheimnisse in der Kunst. Der Mittelmäßige dagegen nimmt wohl auch mit Recht das Prärogativ für sich in Anspruch, daß nur er solch einen Sommerabend kennen lernte, aber nicht ein einziges fühlendes Geschöpf wird ihm diese autodidaktische Empfindung streitig machen. Und trotzdem setzte er nicht Eine spezefische Farbe auf, sondern war "allgemein-menschlich" wie die Luft, die wir einathmen, wie ein knurrender Magen, der lange nichts zu essen kriegte.
[171] Ist nun dieser primitive Mangel des poetischen Zeugungsvermögens bei den meisten Lyrikern, die jetzt auftauchen, die Ursache ihrer Unzulänglichkeit, so ist bei einer ganzen Reihe anderer, theilweise begabter Dichter, die Sucht, das bereits Vorhandene in seiner Eigenthümlichkeit unnahbare nachzuahmen, der Hauptgrund warum sie Unfertiges und Krankhaftes zur Welt bringen. Diese Nachahmer würden gewiß in keinem Falle bedeutende Erscheinungen sein, wenn sie sich auch noch so glücklich entwickelten, und die eigene Individualität nach Kräften zur Geltung brächten. Aber sie könnten dann zum mindesten Respektables leisten und wären nicht der Gegenstand des Mitleids und des Hohnes, sobald man die kritische Sonde an sie legt. Doch der Eine imitirt Goethe, befleißt sich der Simplizität, wendet kühle Adjektive u. dgl. an. Der Zweite strebt nach der Formvollendung Platens, schneidet Gemmen aus Kieselsteinen und sucht in Torfstücke Basreliefs zu graben. Der Dritte geht in Heines Fußstapfen, verleiht der Bildsäule einen schmierigen Strich über der Nase, kokettirt mit nachlässigen Versen, zieht die Strümpfe plötzlich ab, wenn man erwartet, daß er sich mit dem Helm schmücken soll u. s. w. Dazwischen laufen die Lyriker, die der Mode Genüge thun. Da trägt man durch einige Zeit rothe Mützen mit der Devise: "Reißt die Kreuze aus der Erden!" dann morgenländische Gewänder mit Freiligrath'schen Tigerfellen, später Geibel'sche Mäntelchen, amaranthne Schleier und wie die Waaren alle heißen, die stets für ein Paar Lenze oder Sommer großen Absatz haben. In Schwaben toben die "Versballadenkrämer", in Berlin wühlt Scherenberg den märkischen Sand auf, am Rhein kochen sie Maitrank und bringen die Johanniswürmchen in Verruf, in Oesterreich wüthen noch die Reste der alten Bilderstürmer und in München floriren die Paul Heyses und Consorten, die Gutzkow jüngst in einem vortrefflichen Artikel: "die Lyrik in der philologischen Phase" charakterisirt hat. Wie oft Tannhäuser buhlen und Barbarossa aufwachen mußte, ist schwer anzugeben, wie viel Variationen das Loreley-Thema, die Melodie vom Fischer zu erdulden hatte, das entzieht sich menschlicher Berechnung. Jeder Pfad wurde von Tausenden breit getreten, über jede Fähre schlug man eine Anzahl von kleinen Brücken, kein Ton existirt, den nicht die gemeinen Singvögel, wie die krächzenden und schnatternden Luftbewohner zum Ueberdruß wiederholt hätten. Deutsche, Altenglische und Schottische Volkslieder wurden theils der Erfindung nach, theils in der Art der Behandlung von den Lyrikern dritten und vierten Ranges geplündert, die Hafisischen Perlen von Glasergesellen mit der krassesten Geschmackslosigkeit zu allerlei Zierrath verwendet, und in neuester Zeit kam sogar die Bibel für die epische Lyrik in Gebrauch und der nüchternste Patron faßte mit plumpen Händen die thauigen, in brennenden Farben glänzenden Blumen aus dem Thale Saron an. Doch nicht genug, daß jetzt in allen historischen, nationalen, heiligen und profanen Kreisen die Lyrik als Gespenst umherwandelt, ohne sich an die Bedingungen ihrer eigenen Existenz und an die einschränkenden und ausschließenden Gesetze, die wieder in jenen Kreisen wallen, weiter zu kehren, sie trägt sogar die babylonische Verwirrung, in der sie das Material durcheinander warf, in die Form hinein, so daß die Karrikatur an die Stelle des künstlerischen Gebildes tritt. Man betrachte nur einmal diese halb lyrischen, halb epischen Gedichte von Lenau und Grün, die am besten als Typus der zerstörten äußern Form gelten können, ebenso wie jene unreinen, in der Stimmung zerschlitzten, dem Hunde des Alcibiades gleichenden Lieder Heines die aufgelöste innere Form der neuesten Lyrik repräsentieren. Deßhalb schaudert der Gebildete vor den Liedern, Balladen, Romanzen, Elegieen und Äsiatischen Gedichten zurück, die Haufenweise aufgethürmt werden, wo die Gattungen wüst und chaotisch ineinander verschwimmen, wo man nichts zu fühlen und nichts zu sehen bekommt, wo entweder der Verstand den bildlichen Unsinn geboren, oder wo die überschwengliche, nie in einen bestimmten Punkt sich konzentrirende Empfindung sogenannte Poesie erzeugte. In beiden Fällen stehen wir vor ordinärer Reflexion, die ebenso ursprünglich, wie das naive Schaffen ist. Denn die Herren Dichter irren, wenn sie glauben, sie könnten den Vorwurf, reflektirt zu sein, dadurch vernichten, daß sie sich auf ihre "Unmittelbarkeit" im Momente des Produzirens beziehen. Freilich spintisiren sie nicht beim Dichten, freilich geben sie den Eindruck selbst – falls von einem solchen einmal die Rede ist – und nicht die Rezension des Eindrucks wieder, aber sie sind leider mit reflektirenden Augen, mit reflektirenden Herzen zur Welt gekommen; dieses Erdreich treibt höchst unmittelbar Rüben und Kohl, und jeder in dasselbe gelegte Mandel- oder Dattelkern vermischt sich in unbestreitbarer Naivetät mit den Knollen der Kartoffelstaude.
Niemand der den Geiz der lyrischen Muse kennt, der da weiß, wie selten sie selbst bei Goethe die reinsten Bildungen annimmt, wird mit ungemessenen Anforderungen an die Poeten herantreten. So haben z. B. bloß Goethe, Uhland und Heine eigentliche Lieder, unter den Dreien nur Heine eigentliche Liebeslieder gemacht; so kann man in der ganzen Deutschen Poesie bloß Bürger, Goethe, Uhland und Hebbel, wenn von der Ballade die Rede ist, nennen. Der wundersame Wassertropfen in Krystall ist freilich die keuscheste und schönste Form, in der die lyrische Poesie erscheint, allein auch aus der Quelle, die dem Felsen entströmt, aus dem stillen, den Himmel abspiegelnden See lächelt sie uns an. Nur dort, wo weder eine Stimmung waltet, noch ein Bild sich darstellt, hört die Toleranz von Seiten der Kritik auf und man muß dann der geistigen Falschmünzerei mit aller Energie auf den Kopf schlagen.
Wir wollen nun nach diesen allgemeinen Bemerkungen auf einige konkrete Fälle etwas näher eingehen.
II.
[179] Wir beginnen mit den Gedichten von Adolph Pichler. Diese
Sammlung vom Verfasser sorgfältig, wie es den Anschein hat, von allem
Unreifen, Ueberschwenglichen befreit, macht auf den ersten Blick hin
einen angenehmen Eindruck. Denn es wird nicht getändelt und gefaselt,
die entsetzlichen Versverrenkungen und falschen Reime, dieß traurige Vorrecht
der oesterreichischen Poeten, trifft man nicht an und namentlich pflanzt
sich nicht die Lüge der Empfindung unverschämt breit vor uns auf. Pichler
sucht den Objekten an den Leib zu rücken, bringt jeden Gedanken in eine
anständige Form, prunkt nicht mit Freuden, die er nicht genossen,
trocknet sich nicht die Augen, wenn sie nicht geweint haben. Zu diesen
meistentheils negativen Vorzügen gesellt sich eine gewisse wohlthätig
wirkende Derbheit im Ausdrucke und zuweilen eine glückliche Gabe,
Stimmungen anzuregen, oder besser gesagt, das Terrain abzustecken. Weiter
jedoch kommt es bei Pichler nicht.
Immer können die Felder, die der Poet von einander zu trennen glaubte,
durch das Wegreißen eines einzigen Marksteins wieder vereinigt
werden, seine
Stimmungen sind nur durch Linien abgegrenzt, allein jene
unsichtbaren, den äußern Sinnen
sich entziehenden, wie in den Zaubermährchen geschilderten
geheimnißvollen Gitter, durch welche keine Eidechse
zu schlüpfen, die kein Vogel zu überfliegen vermag, haben in Pichlers
Poesie nichts zu schaffen. Am besten gelingen ihm noch die Gedichte,
in denen die Naturschönheiten
Tirols, seines Vaterlandes, als Substrat genommen wurden.
Allerdings machen bei Pichler die Geier auf den Felsenbspitzen,
die Bergseeen, das Edelweiß
das die Abendsonne bescheint,
der Zitherspieler auf der Hochalpe keinen tieferen Eindruck, als die
wunderlichen, aus Gemshorn geschnitzten Becher und die Meteorsteine, die
man in Museen und Naturalienkabineten antrifft, auf uns ausüben. Allein hie
und da
rinnen denn doch die Farben zu einem Bilde zusammen, und die Phantasie
des Lesers spinnt den Faden willig weiter, den der Dichter
geworfen hat.
Man fühlt
übrigens aus dieser Sammlung heraus, daß ein Mann zu uns spricht,
der sich an den Mustern
der Alten, namentlich der Lateiner, geschult hat.
Pichler vermeidet überall die hypergenialen Hohlwege der neuesten Lyrik,
wie die glatten weißbesandeten Straßen der sogenannten Salonpoesie.
Er ist keiner von den Mittelmäßigen, er ist ein Halbdichter, der seine
Stärke nicht in der reinen Produktion, sondern in der Charakteristik
von Literatur-Erscheinungen und in der Darstellung von Land und Leuten,
nach Art der Forster'schen Ansichten vom Niederrhein, suchen sollte.
Hier würde er gewiß Vorzügliches zu leisten im Stande sein.
Ein neu aufgetauchter Poet, der in die Kategorie jener Nachahmer gehört, die
wir früher flüchtig beührten, ist Viktor Scheffel, welcher mit einem
lyrisch-epischen Gedichte: "Der Trompeter von Säckingen" debutirte.
Eine Liebschaft
zwischen einem Trompeter und einer Gutsherrntochter, welche sich am
Rhein entspinnt und in Rom zum Abschluß kommt, bildet den Inhalt des
Gedichts, das erfindungs- und einheitslos zugleich ist. Hie und
da stoßen wir auf ein gutes Detail, rücksichtlich von Naturschilderungen,
wie man denn dem Verfasser ein descriptives Talent nicht absprechen
kann. Von wirklicher Darstellungs- oder gar gestaltender Kraft ist
freilich nicht die Rede. Alle jene Dinge aber, um derentwillen Heine
populär geworden, die ihn zu einem Lieblingsdichter der Deutschen erhoben,
die jedoch gerade die faule Seite des Schöpfers der Loreley, der Bergidylle
und der Asra sind, hat Herr Viktor Scheffel mit sichtlichem Behagen
aufgegriffen und ein widerwärtiges Geköche daraus bereitet.
Landschaftsbilder werden mit sogenannten sozialen Lämpchen illuminirt,
in eine Schilderung objektiv sein sollender Art fährt der Poet plötzlich mit
seinem "bewegten" Ich hinein, Rheinsagen, Runen-Geschichten,
Bergmanns-Historien und Höhlen-Abenteuer, reflektirt durch und durch,
tischt er uns mit naivem Lächeln auf. Rechts und links erinnern uns
die Wegzeiger, daß die Helden des Gedichts in der Zeit nach dem
dreißigjährigen Kriege leben, aber ein Kater, welcher, in der Weise
des Atta Troll redend, auftritt und Welthumor entwickelt, macht uns
mit den Schmerzen des neunzehnten Jahrhunderts bekannt. Der Verfasser dieses
Trompeter von Säckingen, der jeder plastischen Bildung bewußt und
unbewußt ausweicht, der einen epischen Oberleib mit lyrischen Beinen
versieht, bei dem die Papageien zu singen anfangen und die Nachtigallen
zu stehlen als ob sie Elstern wären, liefert einen neuerlichen Beweis von
der schreckenerregenden Zerfahrenheit, die sich der modernsten Lyrik
bemächtigte.
Eine erfreuliche Erscheinung dagegen ist Hermann Lingg,
von Emanuel Geibel
in die Literatur eingeführt.
Sein Talent ist ein
echtes, wenn auch kein umfangreiches, sein Geist ein gesunder, wenn
auch kein ursprünglicher. Wer das kleine Bändchen der Linggschen Gedichte
oberflächlich durchblättert, dem mag es passiren,
dieselben als die ausgewählten Kleinodien aus
dem Schatze eines Crösus anzusehen: das Geringfügige
scheint zurückgelassen, jeder mit einem noch so winzigen Flecken
behaftete Edelstein ausgeschieden, jede auch unmerklich eingedrückte
Perle von der Schnur abgelöst zu sein. Allein das schärfere Auge
täuscht sich nicht. Lingg ist eigentlich blos ein wohlhabener Mann, der die
spärlich ihm von den Musen zugeflossenen Gaben zusammenhielt, dem es aber
freilich nicht in den Sinn kam, alle gereimten Versuche
der Veröffentlichung würdig zu finden. Lingg ist eine Natur,
[180] der man es nicht gar zu hoch anschlagen darf, mit sich in's
Reine gekommen zu sein. Denn Untiefen hat sie nicht; das Individuum
steht nicht in einem solchen Nexus mit den allgemeinen Mächten, daß
diese es nach mancher Seite in den Bann zu legen im Stande wären; mit
einem Worte, Lingg kann nicht dämonisch genannt werden. Aber damit
fällt zugleich die Schwierigkeit, sich selbst zu behaupten, weg, damit
verschwinden die ungeheueren Kämpfe des Einzelnen, der von den gierigen
Elementen des großen Ganzen ewig durchzogen und angezogen wird, sobald sein
Verhältniß zu ihnen ein wurzelhaftes und verzweigtes ist.
Wenn wir also den Lyrikern
gewöhnlich den Mangel an Plastik, an Concretheit vorzuwerfen haben,
so müssen wir es dagegen bei Lingg beklagen, daß ihm jene höhere
Subjektivität fehlt, welche im großen Dichter alle Objekte der Welt
zu den seinigen macht, ehe sie als dichterische Gestaltungen erscheinen
können. Der sehr "objektiv gehaltene" Shylock hat ebenso grimmig in
Shakespeares Brust herumgewirthschaftet, wie der eine "Entwicklungsperiode
darstellende" Hamlet. Worin bestände auch sonst der
Unterschied zwischen Goethe
und Platen, zwischen Hebbel und Lingg, wenn nicht gerade in diesem Punkte,
der einen epochemachenden Poeten von einem mehr oder minder mit Talent
ausgestatteten scheidet!
Wir haben hier Hebbel genannt, denn dessen Gedichte sind die
Musterblätter der Lingg'schen. Es ist da von keiner ordinären Nachahmung
die Rede, aber Niemand, der sich mit den lyrischen Produktionen des ersteren
beschäftigte, wird den bestimmenden Einfluß verkennen, den sie auf
Lingg's Darstellungs- und Anschauungsweise genommen haben. Namentlich
zeigt sich dies in den Sonnetten, nebenbei gesagt, den am meisten
vollendeten Gedichten Linggs. Er ist der erste, der nach Hebbel, diese
Form zu behandeln versteht, der nicht in der Präzision der so und so sich
reimenden vierzehn Zeilen die Aufgabe des Sonnetts sucht, sondern in der
wundersamen Auffindung eines innern Grundes für eine äußerliche Norm,
so, daß die gesetzte metrische Schranke zu einer zufälligen heruntersinkt
und ein lebendiger Organismus an die Stelle mechanischen Spieles tritt.
Auch die Wahl der Stoffe zu Linggs Sonnetten ist Hebb'lisch:
Landschaftsbilder, die ein Naturereigniß spiegeln, geschichtliche
Momente, die den Geist einer ganzen Zeit repräsentiren sollen, ethische,
künstlerische und tellurische Symbole u. s. w.
Weniger gelingt ihm die
Darstellung des Unheimlichen und Geheimmißvollen in der Natur. Wir
fürchten uns nicht vor seinen Krähen, die unheilbringend über's Feld
fliegen, wir werden nicht sprachlos, wenn er uns in den Kreis des
Mittagszaubers treten läßt. Lingg bereitet uns wohl stets mit wahrhaft
poetischer Kraft auf Das vor, was er mit uns beabsichtigt, die
ersten Zauberformeln sind ihm geläufig, aber er hat nicht wie jene
hexenhafte Spanierin in einer altitalienischen Novelle den stillen
Hahn mit verbundenen Augen im Solde, wodurch es in ihrer Macht lag, sich
alles fremde Leben und Wirken unterthänig zu machen. Wie anders dagegen
bei Hebbel. Dieser unbedingt größte Meister in der Darstellung mysteriöser
Naturmomente, mögen sie nun im Wald, unter Blumen oder im Gemach, der
Jungfrau vorkommen, enthüllt uns wirklich die reale Geister-
und Gespensterwelt, während Lingg sich
augenblicklich in die Kreuzgänge der Allegorie
verliert, sobald er etwas Undefinirbar-Ahnungsvolles anfassen will. In der
Lingg'schen Sammlung gibt es keine Lieder und keine Balladen. Entweder
wir treffen Gedichte, in denen die Stimmung vorwaltet, oder wir treffen
Bilder an. Jenes nicht zu erklärende Medium, durch welches Stimmung und
Gestalt Eins werden, durch welches der "Fischer" mehr ist, als ein Bild
von einem Jüngling, den die Wassernixe in die Tiefe hinabzieht; durch
welches wieder des "Schäfers Sonntagslied" mehr ist, als ein der
plastischen Signatur entbehrender Ausdruck frommer Stimmung,
jenes nicht zu erklärende
Medium sagten wir taucht in Linggs poetischem Haushalt nirgends auf.
Trotzdem müssen wir seine Gedichte als die bedeutendsten bezeichnen,
denen wir seit einer Reihe von Jahren begegneten
*).
"Ich bin auch einmal angebetet worden", sagt der Junker Christoph von Blüthenwang in Shakespeares "Was ihr wollt." Diese merkwürdige Versicherung fällt uns bei, wenn wir die Lieder mit und ohne Weltschmerz, wie sie ununterbrochen am Büchermarkte hervortreten, in Augenschein nehmen. Denn auch diese Dichter finden ihre Bewunderer, die mit runzelnder Energie für diese "äußerst gesunden Dichter" zu Felde ziehen. Was soll man sagen zu den versifizirten Kundgebungen solch untergeordneter Menschengeister, die einen Witz für ein Stück Weltanschauung, einen Einfall für eine poetische Idee halten, die gar nicht wissen, daß Jeder in einer Abendgesellschaft, wo man nach gegebenen Endreimen zu dichten hat, die Verse, falls er nicht ausgelacht werden will, eben so gut fabriziren muß, wie diese Poeten, denen dies Geschäft bitterer Ernst ist. Wir dürften bei den Sängern solcher Lieder gar nicht verweilen, wären ihre Elaborate und der theilweise Erfolg, den sie manchmal erringen, nicht die schlagendste Rechtfertigung für die zu Anfang unseres Briefes ausgesprochene Ansicht von der nunmehrigen Anarchie im Kreise der Lyrik und folgerichtig auch in der Geschmacksrichtung des Publikums. Hier ist die poetische Form nicht zerfresssen, das gestaltende Element nicht von Reflexion durchlöchert, hier verflößen sich nicht die Gattungen, denn diese streifen nicht einmal die äußern und innern Gesetze der Poesie, sie können sie mithin auch nicht verletzen. Wer behauptet, daß die Armee Sir John Falstaffs gegen das Reglement, oder gar gegen die Taktik sich versündigt habe?! Wohl aber muß der physiognomielose Frevel, der uns aus diesen Gedichten entgegentritt, jeden, der es mit der Kunst aufrichtig meint, empören, weil durch die Verbreitung solcher Unpoesie es jedem wahren Poeten erschwert wird, heut zu Tage noch eine Wirkung zu erzielen. Die Leute sind ja in dieser Beziehung verwildert genug und lachen, Südsee-Insulanern gleich, die Versdreher an, welche ihnen Glasperlen und zinnerne Teller darreichen.
Die Thatsache, daß es den Buchhändlern jetzt schwer fällt, irgend
Jemanden Uhlands Gedichte "aufzureden" ist, so unglaublich es
klingen mag, eine konstatirte. Wohin soll es noch kommen?!
[Fußnote, S. 180]
*) Uns ist über Lingg und verwandte Dichter noch ein anderer
Bericht in Aussicht gestellt.
A. d. R.
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Erstdruck und Druckvorlage
Österreichische Blätter für Literatur und Kunst.
Beilage zur Oesterreichisch-Kaiserlichen Wiener Zeitung.
1855:
Nr. 24, 11. Juni, S. 170-171
Nr. 25, 18. Juni, S. 179-180.
Wiener Zeitung online
URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=wrz
URL: https://digipress.digitale-sammlungen.de/calendar/newspaper/bsbmult00000357
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
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Lyriktheorie » R. Brandmeyer