Text
Editionsbericht
Literatur
[V] Eine Geschichte unserer Poesie nach dem besondern Gesichtspunkte, welchen ich mir gewählt habe, soll eine alte, doch nicht verjährte Schuld abtragen. Schon im vorigen Jahrhunderte, als das Princip des Volksmäßigen und des Naturschönen der herkömmlichen Dichtungsweise entgegentrat, und die Kritik mit Nachdruck darauf hinwies, daß neben dem antiken noch andere Elemente auf die Gestaltung unserer Poesie Einfluß gehabt oder haben sollten, vermißte Herder eine Geschichte des Geistes der neuern Literatur nach seiner Wandelung und Ausbildung unter den Einwirkungen der Orientalen und auch der Griechen und Römer. In neuern Zeiten sonderten sich die verschiedensten Geschmacksrichtungen nach zwei Hauptbegriffen: das Antike und das Romantische nahmen alle Gegensätze in sich auf und traten, obgleich sie eine Zeitlang mit dem günstigsten Erfolge zusammengewirkt, einander als unversöhnliche Feinde entgegen. Damals forderte Friedrich von Schlegel in den "Studien des classischen Alterthums" (179596), später auch Tieck in der "Einleitung zu Lenzens Schriften" (1828) eine geschichtliche Darlegung der Folgen, welche das Studium der alten Classiker für Poesie und Cultur gehabt, damit sich Vortheile oder Nachtheile klar herausstellten. Mehr noch mahnen uns die Verhältnisse der Gegenwart an eine solche Aufgabe. Der Sieg der Romantik über das [VI] Antike, ihre charakterlose Vielseitigkeit und ihr unermüdliches Bestreben, sich Alles anzueignen, was mit ihrem weiten Grundbegriffe verwandt ist, führte endlich zu dem schimmernden Resultate, daß wir in den Besitz einer Weltliteratur kamen. Allen Zeiten, allen Ländern haben wir ihre Dichtungen abgefordert. Es wurde jedoch nicht blos das Werthvolle gewählt; auch auf die flüchtigste Tagespoesie unserer Nachbarn lauert der gierige Uebersetzer. Die Wirkungen dieser sinn- und maßlosen Reproduction sind ebenso bedeutend, wie leicht zu erkennen. Die Erzeugnisse der selbständigen Dichtungskraft, die noch unserm nationalen Boden entsprossen, ringen sich mühsam unter der Aussaat fremder Elemente hervor, die Alles zu überwuchern und zu ersticken drohen. Dies gilt sogar von dem Romane und der Novelle, die doch in Zeiten, wenn für eine bestimmte und scharf ausgeprägte Gestalt, für eine anspruchlose, auf das Mitreden und Dociren verzichtende Objectivität der Darstellung und für das unvermischte Schöne der Sinn geschwunden ist, zur Blüthe zu gelangen pflegen.
Noch gilt in Betreff unserer Poesie das Wort Goethe's, daß auch der neuern Zeit die Natur nicht das Talent versagte, daß aber die Zeit für das Talent keine Schule und auch beinahe keinen Gegenstand hat. Manche neuere Dichter, namentlich die schwäbischen und österreichischen, welche dieselbe Gemüthswelt und Denkart darstellten, die als der unzerstörbare Kern des deutschen Wesens sich gleichmäßig in der Poesie des Mittelalters und der neuern Zeit ausgesprochen, fanden für die Behandlung noch einen festen Anhalt. Sie gingen zwar nicht mehr auf das Antike zurück, bildeten sich aber doch unter den Nachwirkungen desselben, indem sie sich von dem hohen dichterischen Geiste und dem reinen Formensinne leiten ließen, welche in den Werken unserer an der Kunst der Griechen gereiften Classiker, hauptsächlich [VII] Schillers und Goethe's, zur Erscheinung gekommen. Diese Werke liegen aber bereits hinter der neuen Zeit; ihr Einfluß verliert immer mehr an Kraft und Bestimmtheit. Man zählt jene Classiker selbst nicht mehr zu den modernen Dichtern und Diejenigen, welche in ihrer Weise dachten und dichteten, waren nicht die Lieblinge der neuern Kritik. Es sind auch wirklich Interessen in den Vordergrund getreten und Ideen herrschend geworden, die noch nicht in dem Gesichtskreise jener Meister lagen, und Vieles, was sie bewegte, gehört wol zu den ausgesungenen Dingen. Man hielt sich berechtigt, den Idealismus der classischer Periode zu verwerfen, da er sich nur auf das Wohl und Wehe im Einzelleben des Individuums bezogen, höchstens auf ein abstractes Humanum gerichtet, und von den allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft, hauptsächlich von den politischen und socialen Bewegungen im Leben des eigenen Volkes abgewendet habe. Nicht allein die Kritik, sondern die Poesie selbst bekämpfte jene Idealität. In den Dichtungen Heinrich Heine's durchkreuzte sich jenes tiefe Gesmüthsleben der classischen und der romantischen Kunstperioden mit einer humoristischen Negation. Die Frommen sowol wie die Kinder der Welt fühlten sich zugleich angezogen und doch nicht befriedigt. Das pikante Schauspiel der Selbstvernichtung konnte auch nur eine Zeitlang unterhalten, und da die bloße Verneinung nicht schöpferisch ist, gab sich die Kritik Mühe, der Poesie wieder zu einem positiven Inhalte zu verhelfen. Sie forderte, daß die Kunst entweder in die innigste Beziehung zu den geschichtlichen Erscheinungen und allgemeinen Interessen der Gegenwart treten, daß sie in der Gesellschaft mithandeln oder ihre Werkstätte schließen sollte. Die jungen Dichter zogen das Erste vor. Die politische Lyrik, die socialen Dramen und Novellen führten den Realismus in die Dichtung ein. Zu[VIII]gleich ward von Vielen ein Modernes in der Darstellung erstrebt. Sie verschmähten die alten, durch die Kunst geregelten Formen, und bekannten sich wieder zu dem Principe der Naturdichtung, in welcher Wahrheit und Energie die höchsten Forderungen sind.
Ehe wir die Frage aufnehmen, ob dieser modernen Poesie das Alterthum nichts mehr sein könne, verweilen wir einen Augenblick bei jenen Angriffen auf den Idealismus der classischen Periode, weil sie mit der gegenwärtig herrschenden Gleichgültigkeit gegen das Alterthum in Verbindung stehen. Es ist nicht richtig, daß die Poesie des 18. Jahrhunderts ohne ein modernes Zeitbewußtsein geblieben. Wenn man politische und sociale Interessen zu wenig vertreten findet, so lag es daran, daß das Volksleben solche Elemente noch nicht in sich ausgebildet. Es kam den Dichtern bei der Versteinerung aller herkömmlichen Zustände keine Wirklichkeit entgegen, an der sie selbst sich hätten entwickeln, auf die sie hätten Einfluß üben können. Solche Dinge blieben daher in der Sphäre der Idee. Die Ansichten konnten sich nicht in Zeiterscheinungen abspiegeln, sondern nur in erfundenen symbolischen Phantasiebildern oder in analogen Ueberlieferungen der Geschichte. Man macht also Forderungen, die damals gar nicht zu erfüllen waren, und es muß genug sein, daß sich in den Dichtungen der Geist der Reform auch nur in ahnungsvollen Symbolen äußerte. Wir wollen kein Gewicht darauf legen, daß es an einer Schlachtenlyrik zu keiner Zeit gefehlt hat. Auch Lessing's schöner Eifer, die religiöse Intoleranz auszurotten und der Aristokratie gegenüber den Bürgerstand zum Selbstgefühle zu erheben, sind allgemein anerkannt. Mußte nicht aber auch die Würdigung und Begünstigung der Volkspoesie nothwendigerweise an den Gedanken gewöhnen, daß die bis dahin verachteten Classen [IX] der Gesellschaft ihren Werth und ihre Rechte haben? Der Kosmopolitismus ist die politische, Philanthropie und Humanität sind die socialen Ideen des 18. Jahrhunderts und welche tiefe Spuren haben sie in den Dichtungen der Göttinger, in den Schriften Wieland's, Herders, Jean Paul's und Anderer hinterlassen? Klopstock ist der Urheber des nationalen Bewußtseins, und er besang auch die Reformen der französischen Demokratie mit einem Enthusiasmus, den er später zu bereuen alle Ursache hatte. Schiller's Dramen zeigen in einem planmäßigen Stufengange die politische Entwickelung seiner Gegenwart, und selbst in Goethes Dichtungen hat die neuere Kritik ein ganzes System des Socialismus entdeckt. Das bürgerliche Drama war ein Protest des dritten Standes gegen das Ansehen der Aristokratie. Es fehlte auch damals nicht an der Lächerlichkeit, daß die Hochgeborenen und die Hochgestellten schon nach Stand und Amt für die Unterdrücker der Menschenrechte galten. Aus ihrem Kreise versorgte sich die Bühne mit Bösewichtern und nur die jungen Herren von Stande wurden geschont, weil die Schönheit der Bürgermädchen ihnen gewöhnlich volksfreundliche Ansichten einflößte. Schiller's Präsident von Walter, der ohne ein Gefühl für den sittlichen Adel und Reichthum der Töchter aus dem Volke, mit herzlosen Vorurtheilen das Glück der Unschuld zertrümmert, ward eine stehende Rolle. Mit jener Behauptung, daß die classischen Dichter des 18. Jahrhunderts in ihrem imaginären Idealismus nur sich selbst gelebt, nur sich selbst einen künstlerischen Genuß bereiten wollen, werden nicht allein unzweifelhafte Thatsachen geleugnet, sondern sie gründet sich auch auf die höchst verderbliche Meinung, daß das Nationalleben sich ausschließlich oder doch hauptsächlich in politischen Reformen äußere. Zu dieser Armuth ist doch unsere Nation noch nicht herabgesunken. Die [X] Philosophie, die Wissenschaften, die Religion und die Kunst selbst haben einen gleichen Rang mit der Politik, und das Culturleben, welches in ihnen waltet, ist ein integranter Theil des Nationallebens. Wenn nun die innere, gewiß bedeutungsvolle Geschichte des deutschen Geistes einen Klopstock und Lessing, Schiller und Goethe zu den Schöpfern unserer hervorragendsten Culturperiode zählt, so sollen diese Männer doch außerhalb des Nationallebens gestanden, nur zur Ergötzlichkeit für sich, für eben solche kunstliebende Stubenhocker und für die Weiber gedichtet haben? Goethe äußerte gegen Eckermann (II, 356): "Was heißt denn sein Vaterland lieben und was heißt denn patriotisch wirken? Wenn ein Dichter lebenslänglich bemüht war, schädliche Vorurtheile zu bekämpfen, engherzige Ansichten zu beseitigen, den Geist seines Volkes aufzuklären, dessen Geschmack zu reinigen und dessen Gesinnung und Denkweise zu veredeln, was soll er denn da Besseres thun? und wie soll er denn da patriotisch wirken? Ich hasse alle Pfuscherei wie die Sünde, besonders aber die Pfuscherei in Staatsangelegenheiten. Um gewissen Leuten recht zu sein, hätte ich müssen Mitglied eines Jacobinerclubs werden und Mord und Blutvergießen predigen." Diese Worte werden heute mehr Gewicht haben als vor wenigen Jahren. Die großen Dramatiker der Griechen lebten in einer demokratischen Republik und zur Zeit eines nationalen Krieges gegen die Perser; dennoch behandelten sie nur selten einen Gegenstand aus der Zeitgeschichte, meistens dagegen die sagenhaften Schicksale der alten Königsgeschlechter, und doch hat es kein Landsmann ihnen vorgeworfen, daß ihre Dichtung nicht den politischen Interessen des Zeitalters gedient. Denn die Griechen suchten die Einheit der Poesie und des Lebens nicht in der Anwendung der erstern auf die Ereignisse des Tages, sondern in der Auffassung und Behand[XI]lung der Stoffe. War diese dem Charakter der Nation gemäß, zeigten sich die Dichter in ihren Schöpfungen von griechischer Denkungsart erfüllt, waren sie die Repräsentanten oder gar die Schöpfer der Geistesbildung, zu welcher das Zeitalter hinanstrebte, so ließ man ihnen in der Wahl der Gegenstände freie Hand und machte es nicht um jener äußern Einheit der Poesie und des Lebens willen zu einer unerlaßlichen Forderung, daß der moderne Nationaldichter den Miltiades oder Leonidas in einem Epos verherrlichte, daß er mit einem "Schleswig-Holstein meerumschlungen" zur Befreiung der asiatischen Griechen aufrief, daß er statt des verschollenen Oedipus den Sokrates zum Helden seiner Tragödie wählte und den Kampf der philosophischen Aufklärung und des Obscurantismus auf der Bühne auszufechten suchte.
Wenden wir uns nun zu der modernen Poesie, oder wie man lieber sagt, zur Poesie der Zukunft, um ihr Verhältnis zum Alterthum zu ermitteln. Da wir oben Werth darauf gelegt, daß der sogenannte Idealismus der classischen Periode mit den öffentlichen Interessen seiner Zeit in der innigsten Verbindung gestanden, so folgt daraus von selbst, daß wir dem Realismus der modernen Poesie nicht seine Berechtigung absprechen werden, auch wenn derselbe sich nicht auf das substantielle Culturleben der Nation, sondern nur auf die äußern Formen und Bedingungen unserer Existenz und Geistesfreiheit, auf die politischen und socialen Zustände richtet. Was ist nun aber die Ursache davon, daß diese moderne Poesie, namentlich die Dramen und Novellen, selbst vor der modernen Kritik zum großen Theile so schlecht besteht; daß zwar die ganze Gattung nach ihrer Tendenz gepriesen wird, aber wenn es dann zur Beurtheilung der einzelnen Werke kommt, selbst der partheiische Verehrer der modernen Poesie so wenig findet, was er, [XII] ohne vor sich selbst zu erröthen, rühmen könnte. So macht die "Geschichte der deutschen Nationalliteratur im 19. Jahrhundert" von Julian Schmidt (1853) einen eigenen Eindruck. Hier wird es ebenfalls als ein erheblicher Fortschritt über die classische und die romantische Periode unserer Poesie betrachtet, daß die modernen Dichter der Idealität und einem in sich ruhenden Kunstinteresse entsagt; dann folgt eine mit instructiven Beispielen ausgestattete Beweisführung, daß ihre Werke oft hinter den mäßigsten Ansprüchen der Vernunft und des Geschmackes zurückgeblieben; dann zieht die lange Reihe der Dichter nur an dem Tribunale vorüber, um mit sehr wenigen Ausnahmen das unermüdliche Schuldig zu hören. In der Neuheit der Form erscheint meistens nur die sehr alte Kunst, einem Gebilde der Phantasie weder Einheit und organische Gliederung, noch einen abrundenden Schluß zu geben. So modern die Worte und Bilder sein mögen, die ganze Ausdrucksweise der neuen Dichter, mit welcher sie der Correctheit des classischen Styles Trotz bieten, verräth doch nur die Neigung, in den verzerrten Titanismus und in die rohe Natürlichkeit der alten Geniedichtung eines Lenz und Klinger zurückzufallen. Das Drama der Zukunft, welches sich unter den Auspicien der Grabbe, Büchner, Hebbel constituirt hat, überflügelt die Schöpfungen der ältern Sturm- und Drangperiode an Ideenfülle und poetischer Kraft, aber die unreinen Ideale, die Auflehnung gegen die gesunde Vernunft, die verkehrte Gefühlsweise, die Abschweifung zu undichterischen Nebenzwecken und zu ganz unpoetischen Gegenständen ist hier dieselbe wie dort. Auch in den Tendenzromanen spielen das Laster, die Verrücktheit und das Elend ihre schauerliche Rolle. Die naturwahre Darstellung der moralischen und physischen Schäden der Gegenwart kann unmöglich das Endziel des poetischen Realismus sein. Die[XIII]ser modernen Poesie fehlt zu ihrer Vollendung die Kunst der Gestaltung und die Kunst, das Reale in die Sphäre des Schönen zu erheben. Dies ist der Idealismus, ohne welchen weder die neuern Zeiten noch das Alterthum eine classische Poesie besitzen möchten. Ist ein solcher, bis in das innerste Wesen der Dichtkunst eindringender Gegensatz zwischen dem Modernen und dem Classischen und Antiken vorhanden, darf man sich dann noch immer mit der Annahme beruhigen, daß bereits im vorigen Jahrhunderte der ganze Bildungsstoff des Alterthums in unsere Poesie übergegangen, daß man das Antike als ein Uraltes und Aufgebrauchtes völlig entbehren könne? Schon einmal hat das Alterthum der Barbarei einer kraftvollen, aber verworrenen Sturm- und Drangperiode Dichtungen entlockt, die an das Höchste reichen, was der menschliche Geist zu schaffen vermag; es würde ihm vielleicht auch zum zweiten Male gelingen. Die Ideen, die Gegenstände, die Formen der Poesie mögen sein, welche sie wollen: unter allen Umständen muß ihr Inhalt davon Zeugniß geben, daß der Dichter über der Materie steht, daß er aus dem idealen Bewußtsein der Humanität und einer höhern Lebensordnung in das trübe Chaos der Erscheinungen Licht und Frieden zu bringen vermag; unter allen Umständen muß sich die Darstellung an die ewigen Gesetze des Schönen binden. Ist aber dies der Fall, so kann das Alterthum, hauptsächlich das griechische, nie veralten, weil die Werke seiner Dichter in beiden Beziehungen das vollendeteste Urbild der Poesie sind. Es ist kein wesentlicher Fortschritt in der Entwickelung unserer Dichtkunst möglich, wenn nicht diese Wahrheit wieder anerkannt und benutzt wird, wie denn überhaupt eine Versöhnung mit dem Alterthume schon aus dem Grunde für die Cultur der Zukunft die höchste Bedeutung hat, weil nächst dem Christenthume der ideale Sinn seiner Weisen [XIV] und Dichter, und ein so gehobenes, vielseitiges Volksleben uns am ersten in Stand setzen könnte, die freie Würde der Humanität vor den Alles verschlingenden Interessen des Materialismus zu schützen. Neulich hat Wilhelm Herbst seiner Schrift "Das classische Alterthum in der Gegenwart" (1852) wieder daran erinnert, wie wichtig es für die Erhaltung und Fortbildung unserer auf antiken Grundlagen ruhenden Cultur ist, daß man endlich den materialistischen Wanderzügen nach Amerika mit geistigen Pilgerfahrten nach Hellas, dem Lande des Ideales, der Schönheit, der höhern Humanität, entgegentritt. Der Zustand unserer Dichtkunst weist uns auf denselben Weg bin. Davon die Zeitgenossen zu überzeugen ist wol kein Mittel so geeignet als eine auf Geschichte und Kritik gegründete Darlegung Dessen, was uns die Poesie der Alten gewesen und was mit Hülfe der classischen Studien erreicht worden ist. Da die Kluft zwischen dem Antiken und dem Modernen sich täglich mehr erweitert, wird man nichts dagegen haben, wenn ich ein Werk dieser Art zu den Büchern zähle, welche sich als ein dringendes Bedürfniß bei dem Publicum einführen.
So wie Tieck es wünschte, habe ich indessen die Aufgabe nicht behandeln können. Ihm lag hauptsächlich daran, daß durch eine Zusammenstellung aller Verirrungen, zu denen das Studium und die Nachahmung der alten Dichter verleitet, dargethan würde, wie das Antike die deutsche Poesie um ihre nationale Grundlage und selbständige, naturgemäße Entwickelung gebracht. Dieser Gesichtspunkt würde auch heute bei Vielen Beifall finden, da die modernen Dichter, Kritiker und Kunstfreunde, vielleicht aus andern Gründen, aber mit derselben Geringschätzung wie die Romantiker die pedantische Philologie und Alterthümelei ignoriren. Lassen wir es nämlich dahingestellt, ob ein [XV] drittes goldenes Zeitalter der Poesie, wenn ein solches überhaupt unserm Volke einst zu Theil werden soll, ohne die Mitwirkung des Antiken eintreten könne, so bleibt es doch eine unzweifelhafte Thatsache, daß an den reifsten und in sich vollendetesten Dichtungen, welche dem deutschen Volke, was Vilmar mit Recht hervorhebt, vor allen andern den Vorzug gaben, daß es ein zweites goldenes Zeitalter seiner Poesie aufzuweisen hat, der Geist des Alterthums mitgeschaffen. Das Ziel meiner Untersuchung konnte daher unmöglich der Beweis sein, daß wir berechtigt sind, über den unseligen Anschluß an das Alterthum Klage zu führen. Ebenso wenig ist es mir möglich gewesen, wie Tieck es verlangte, den antiken Theil unserer Poesie von allem Andern abzusondern und mit rücksichtsloser Einseitigkeit zu behandeln. Eine Begrenzung des Gegenstandes war allerdings nothwendig. Aber es gibt nur wenige Perioden in der Geschichte unserer Poesie, ja es gibt nur wenige Dichter, die sich ganz ausschließlich an dem Alterthume gebildet. Mußte das Antike in den Vordergrund gestellt werden, so waren doch immer auch die mitwirkenden Elemente zu berücksichtigen, sollten nicht viele Erscheinungen unerklärlich bleiben und die ganze Darstellung unwahr und lückenhaft werden. Von einigen Abschnitten gestehe ich gern ein, daß sie zur Entwickelung des eigentlichen Gegenstandes nicht nothwendig sind, doch habe ich mir solche Excurse nur gestattet, wenn mich eine Abweichung von den herrschenden Ansichten, der Wunsch, ein Urtheil mehr zu begründen, oder Dunkeles aufzuklären und Lückenhaftes zu vervollständigen, dazu reizte, die Grenzen ein wenig zu überschreiten, und ich hoffe, man wird es nicht zu streng rügen, daß ich die mir vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit benutzte, mich über Dinge auszusprechen, die mir am Herzen lagen.
[XVI] Bei meinem Unternehmen bin ich durch mancherlei Vorarbeiten gefördert worden. Seitdem man auf den Gegenstand aufmerksam wurde, hat man auch über ihn geschrieben. Lessing und Herder machten im Anschlusse an Winckelmann die ersten Versuche, den Geist des Alterthums zu ergründen und in Kunst und Poesie das Verhältniß des Antiken zum Modernen zu bestimmen. Dann folgten die Untersuchungen von Wilhelm von Humboldt, Schiller, Friedrich von Schlegel, welche beide Elemente so scharf begrenzten, daß neuere Forscher, was die Feststellung der Grundbegriffe angeht, zu keiner wesentlichen Aenderung Anlaß gehabt. Weit seltener ist man dagegen bemüht gewesen, die Werke der deutschen Dichter selbst mit ihren antiken Vorbildern zu vergleichen. Von ältern Arbeiten der Art haben sich eigentlich nur Lessing's und Herder's Abhandlungen behauptet, die ganz vortrefflich sind, sich aber auf ein sehr kleines Gebiet beschränken.
Dazu kamen dann noch in neuerer Zeit die zahlreichen Erläuterungsschriften zu Schillers und Goethes hellenistischen Dichtungen. Das Mittelalter wurde natürlich am meisten vernachlässigt. Jetzt hat sich indessen auch für die Geschichte dieser Zeiten bereits ein literarischer Apparat gebildet. Die "Deutsche Mythologie" von Jakob Grimm ist überaus reich an Beziehungen auf das classische Alterthum. Ferner haben der Schotte John Dunlop ("The History of Fiction," 1814) und sein deutscher Uebersetzer F. Liebrecht (1851), Valentin Schmidt, v. d. Hagen, Gräße u. A. gelegentlich Manches aus den Sagen des Mittelalters auf griechische Fictionen zurückgeführt und Notizen dieser Art sind mir sehr willkommen gewesen. Besonders lehrreich in Betreff des ganzen Gegenstandes ist die "Geschichte der Deutschen Dichtung" von Gervinus, der bei seiner auf alles Bedeutungsvolle gerichteten Aufmerksamkeit auch dieses wichtige [XVII] Moment stets im Auge gehabt und wenn er einen Punkt zur ausführlichen Behandlung heraushob, dem Nachfolger wenig zu thun übrig ließ. Es ist mir bei meiner Arbeit immer ein erfrischender Genuß gewesen, Gervinus nachzustudiren, d. h. zu beobachten, wie sein Wert aus den Forschungen in der Literatur und der Geschichte derselben emporwuchs, und unzählige Male habe ich Anlaß gehabt, seinen Scharfsinn, seine weite Umsicht, seinen Fleiß und seine Genauigkeit zu bewundern. Hätte Gervinus nicht so die Citate gespart, man würde über die Menge der Bücher erstaunen, die oft zur Erörterung eines einzigen Gegenstandes benutzt sind, und Mancher würde sich vielleicht auch geschämt haben, Das, was der ausdauerndste Fleiß gesammelt, durch eine vornehme, mit breiten Auslassungen über einzelne Mängel gewürzte Relation oder durch die Uebertragung in eine philosophisch und rhetorisch aufgeschmückte Sprache in sein Eigenthum zu verwandeln. Den thörichten Versuch zu einem Wettstreite mit Gervinus verschmähend, habe ich gern auf ihn verwiesen und Wiederholungen vermieden. Immer war das Letzte natürlich nicht möglich, da ich in meiner Darstellung keine Lücken lassen konnte. Sonst habe ich um die Unabhängigkeit und Selbständigkeit meiner Arbeit nicht ängstlich besorgt sein dürfen. So liegt es nicht in meiner Natur, das wahrhaft Dichterische ausschließlich oder vorzugsweise in derjenigen Gattung des Schönen zu suchen, welche Schiller die energische nennt, und schon dieser Umstand brachte oft eine Verschiedenheit der Auffassung und der Urtheile mit sich. Ferner hatte die beständige Rücksicht auf das Antike zur Folge, daß die Erscheinungen alle nach diesem bestimmten Gesichtspunkte betrachtet wurden, und daß Vieles, was allgemeine Geschichten der Poesie nur kurz berühren oder auch ganz übergehen, zu einer ausführlichen Darstellung gelangte. Endlich än[XVIII]derte sich die Art der Behandlung nach einem besondern Nebenzwecke. Obgleich ich nämlich bemüht gewesen bin, jedem Capitel in meinem Werke einen wissenschaftlichen Werth zu geben, konnte ich doch von vorn herein nicht in den Ehrgeiz verfallen, nur für die ersten Kenner unserer Literatur schreiben und ihnen lauter neue Dinge sagen zu wollen. Viele Freunde der Poesie, die sich gern solchen Studien hingeben, denen aber doch Zeit und Bücher fehlen, sich Das anzueignen, was eine Literaturgeschichte voraussetzt, die sich selten von den Höhen der Gelehrsamkeit herabläßt, beklagen sich darüber, daß sie Gervinus nicht folgen können, und man darf überhaupt annehmen, daß von den Lesern seiner Geschichte sich mehr als die Hälfte nur einbildet, die Literatur aus ihr kennen gelernt zu haben. Ich machte es mir daher zur Aufgabe, zu der allgemeinen Charakteristik jeder Periode und ihrer Vertreter in der Poesie und Kritik eine genauere Analyse der bedeutendsten Dichtungen und theoretischen Systeme hinzuzufügen, damit die Bekanntschaft mit dem ideellen und stofflichen Inhalte der Dichtungen eine Auffassung ihrer künstlerischen Gestaltung erleichterte, und ebenso die Kenntniß der Hauptsätze eines Systems dem Urtheil über seine Berechtigung Klarheit und Sicherheit verschaffte.
Endlich habe ich noch zu erwähnen, daß ich
ohne den Beistand wohlwollender Gönner und Freunde mit meinem Werke nie
fertig geworden wäre. Vornehmlich verpflichten mich Herr Geheimrath
Dr. Rosenkranz und Herr Provinzial-Schulrath
Dr. Lucas (bis zum Sommer
1848 in Königsberg) zu diesem Bekenntnisse. Ihre Belehrungen haben mir
über manche Schwierigkeit weggeholfen, ihre freundliche Theilnahme an
meinen Studien hat mich immer von Neuem angeregt, wenn mir mühsame und
wenig ergiebige Untersuchungen, der Mangel an Zeit und die Noth
[XIX] um seltene, doch unentbehrliche Bücher den Muth raubten. Es macht mir
viele Freude, daß ich jetzt Gelegenheit habe, ihnen öffentlich meine
Dankbarkeit dafür zu bezeigen, daß sie mir viele Jahre hindurch so treue
Führer gewesen.
Die Gesichtspunkte, nach welchen sich die Darstellung
gliederte, ergaben sich leicht aus der Sache. Der Bildungsgang der
deutschen Poesie zeigt uns das merkwürdige Schauspiel, daß ihre beiden
hauptsächlichsten Elemente, das Antike und das Romantische, welcher Name
dann das dem Altgermanischen entsprungene und verwandte Volksmäßige,
das Christliche, das Romanische und das Orientalische umfaßt, einander
wechselsweise ablösen und verdrängen, bis dann die wahre Bedeutung und
die Berechtigung beider erkannt und an eine Verschmelzung gedacht wird.
Lange Zeiten vergingen, bis die classischen Studien auch wirklich
classische Früchte brachten, bis man das eigentliche Wesen der alten
Kunst und ihr wahres Verhältniß zu einer Nationaldichtung erkannte.
Friedrich von Schlegel sagt: "Es könnte in der That den Stoff zu einem
eigenen Werke geben, wenn man die Verwechselung des objectiven Schönen
und des blos eigenthümlich Localen in der griechischen Poesie durch alle
Nachbildungsversuche der modernen Dichter und Kunstforscher im Einzelnen
durchführen und mit allen sich darbietenden Beispielen geschichtlich
belegen wollte." Die Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts unserer
Poesie ist fast durchweg eine Geschichte jener Verwechselung und des
Bestrebens, endlich auf sichern Grund zu gelangen, und ich kann mich
nicht des Gedankens erwehren, daß für ein Bildungsmittel, dessen
Erwerb unsere Nation so lange und ernstliche Anstrengungen gekostet,
noch einmal die Stunde zu höchst bedeutenden Wirkungen kommen muß.
Eine weitere Auseinandersetzung des Planes nach den Haupttheilen würde
überflüssig sein, da die jedem
[XX] Bande vorausgeschicte Uebersicht des Inhalts ihn deutlich darlegt.
Die Ausführung zwingt auch mich zu den stereotypen Erklärungen, daß sie
weit hinter meinen Wünschen zurückgeblieben, daß ich ihre Mängel kenne,
aber ihnen nicht abhelfen konnte, daß Alles besser ausgefallen wäre, wenn
mich nicht meine Hülfsmittel so oft im Stiche gelassen. Der Gegenstand
hat auch keinen unbedeutenden Umfang und dies, hoffe ich, wird man mir in
Rechnung bringen. Außerdem ist man, je weiter die Untersuchungen ins
Einzelne geben, desto mehr auf sich allein angewiesen und desto leichter
stellen sich Mängel und Irrthümer ein. Das Interesse für die Sache nöthigt
mich noch, den Wunsch hinzuzufügen, daß reichliche Nachträge und
Berichtigungen, welche besonders den Gelehrten, die sich zu ihren Studien
kleinere Pensa ausgewählt, keine Mühe machen werden, recht bald auch
diesem Theile unserer Literaturgeschichte, da er zugleich eine der
wichtigsten Grundlagen unserer gesammten Nationalbildung betrifft,
eine seiner Bedeutung angemessene Vollkommenheit geben mögen.
Königsberg, im Mai 1854.
Der Verfasser.
Erstdruck und Druckvorlage
Carl Leo Cholevius: Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen.
Erster Theil: Von der christlich-römischen Cultur des Mittelalters bis zu Wieland's französischer Gräcität.
Leipzig: Brockhaus 1854, S. V-XX.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
PURL: https://hdl.handle.net/2027/nyp.33433075724181
URL: https://www.google.fr/books/edition/Geschichte_der_deutschen_Poesie_nach_ihr/_tfSmfjN5fUCshl
URL: https://archive.org/details/geschichtederde01cholgoog
URL: http://digitalisate.bsb-muenchen.de/bsb10731694
Literatur
Brockliss, William u.a. (Hrsg.): Reception and the Classics.
An Interdisciplinary Approach to the Classical Tradition.
Cambridge u.a. 2012.
Fitzgerald, William: The Living Death of Antiquity.
Neoclassical Aesthetics.
Oxford 2022.
Genette, Gérard: Paratexte.
Das Buch vom Beiwerk des Buches.
Frankfurt a.M. 2001 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1510).
Häntzschel, Günter: Die deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 bis 1914.
Sozialgeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts.
Wiesbaden 1997
(= Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München, 58).
Jacob, Marianne: Art. Cholevius, Carl Leo.
In: Internationales Germanistenlexikon, 1800 1950.
Bd. 1. Berlin u.a. 2003, S. 331.
Matuschek, Stefan: Winckelmänner der Poesie.
Herders und Friedrich Schlegels Anknüpfung an die
Geschichte der Kunst des Altertums.
In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 77 (2003), S. 548-563.
Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u. New York. 2004.
Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie,
Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860.
Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).
Ritzer, Monika: 'Klassik' versus 'Moderne': Zur historischen Rekonstruktion eines Topos.
In: Hebbel-Jahrbuch 55 (2000), S. 7-38.
Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis
in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860.
Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).
Vance, Norman / Wallace, Jennifer (Hrsg.):
The Oxford History of Classical Reception in English Literature.
Bd. 4: 1790 - 1880.
Oxford 2015.
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer