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Editionsbericht
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§ 37. Das dargestellte Leben.
[45] In geradem Gegensatze gegen die epische Poesie, welche uns den nach außen hin und
nur mehr äußerlich tätigen Menschen vorführt, steht die lyrische, welche uns den
nach innen gewandten, in seinen Eindrücken, Empfindungen, Anschauungen und
Reflektionen sich ergehenden Menschen, den Menschen im Begriff einer bestimmten
Gemütslage darstellt. Durch diesen subjektiven, auf die Empfindung gerichteten
Charakter steht die lyrische Poesie, wie schon ihr Name
(λύρα)
*)
aussagt, in
einem Verwandtschaftsverhältnisse mit der Musik, deren höheres Widerbild sie
ebenso ist, wie das Epos der Skulptur. Alle wahrhafte lyrische Poesie tritt
deshalb auch gern zu gegenseitiger Unterstützung und Ergänzung mit der Musik
zusammen und ist zum Singen so notwendig bestimmt, wie das Epos zum Vortrage,
das Drama zur Aufführung; weshalb man die lyrische Poesie auch Gesangespoesie
nennen könnte.
§. 38. Umfang und Natur des lyrischen Inhaltes.
Der Inhalt des lyrischen Gedichtes ist das einzelne Subjekt und damit das
Vereinzelte der Situation. Der epischen Poesie gegenüber, welche uns in ihren
echten Erzeugnissen immer ein größeres Weltleben vor Augen führt, erhält die
lyrische Poesie einen fragmentarischen Charakter. Wenn aber ihre Erzeugnisse
zusammengenommen denen der epischen Poesie gegenübergestellt werden, so zeigt
sie ein ebenso umfassendes und noch genaueres Eingehn in alle
[46] tieferen Beziehungen des Menschen. Auch ist es eine innere unendliche Welt,
welche sie uns eröffnet. Alles Wohl und Weh, welches durch des Menschen Herz geht,
seine Freuden und Schmerzen in der Gegenwart, seine Sehnsucht nach dem Kommenden,
seine Klage um das Verlorene klingt nicht bloß im Ganzen, sondern auch in jedem
einzelnen Gedichte mehr oder weniger an. Man lese z. B.
das Gedicht von Göthe: Füllest wieder Busch und Thal etc. Göthe ist besonders ein
Meister darin, in dem Kleinsten das Größte, in dem Einzelnen das Allgemeine
anklingen zu lassen.
§. 39. Verhältniß der dichterischen Subjektivität zum lyrischen Gedichte.
Es könnte gefragt werden, wo das einzelne empfindende Subjekt in dem lyrischen
Gedichte die dichterische Persönlichkeit selbst sein müsse, oder auch eine andere
sein könne; denn es gibt lyrische Gedichte z. B. die Ballade, in welcher die Person
des Dichters entweder gar nicht oder nur sehr äußerlich hervortritt und das
dargestellte Leben ganz außerhalb der dichterischen Persönlichkeit zu liegen
scheint. Lyrisch ist allerdings jeder Heraustritt der inneren Gefühle, z. B.
in einer dramatischen, selbst zuweilen einer epischen Person. Zum Begriff des
lyrischen Gedichtes im engerem Sinne gehört aber wesentlich, daß die Person des
Dichters der Träger des dargestellten Lebens sei und die eigene Gemütslage darin
abdrücke, weßhalb auch gesagt worden ist, daß jedes wahre lyrische Gedicht ein
Gelegenheitsgedicht
*)
sei. Auch in der Ballade, wenn auch kein äußeres Zeichen
für die innere persönliche Mitbeteiligung spricht, kann dies der Fall sein, und
sie ist dann nur eine Maske für die eigene Empfindung, z. B. der Fischer von Göthe.
Der Grad der gemütlichen Mitbeteiligung kann aber ein sehr verschiedener sein,
und es läßt sich eine mehr objektive oder subjektive Lyrik unterscheiden. Die
objektive Lyrit ist die werdende und aus der Epik erst sich entfaltende; die
subjektive Lyrik ist die lyrische Poesie in ihrer vollen Entwickelung. Einen
unbedingten Vorzug begründet dieser Unterschied nicht.
§. 40. Die Einheit des lyrischen Gedichtes
[47] ist strenger als die des Epos. In jedem lyrischen Gedichte als dem Abdrucke einer einzelnen bestimmten Gemütslage sehen wir die Bewegung, Entfaltung und den Verlauf einer bestimmten, durch ein und dieselbe Individualität getragenen Empfindung. Selbst, wenn sie durch Gegensätze läuft (K. III. p. 53) und verwandte Empfindungen, ja eine ganze Welt von Gefühlen und Anschauungen andeutend aufregt, muß sie doch immer wieder auf sich selbst zurückkommen und sich als Entfaltung einer einzigen Grundstimmung offenbaren.
§. 41. Form des lyrischen Gedichtes (W. p. 29394).
Die unendliche Mannigfaltigkeit des inneren subjektiven Lebens, welche in der
lyrischen Poesie zur Darstellung kommt, bringt eine große Mannigfaltigkeit
kunstreicher rhythmischer Formen hervor. Als Gegengewicht wird hier aber
auch meist eine Symmetrie der größeren oder kleineren Abteilungen [Strophen
*)]
nötig, welche zugleich die organische Gliederung des nach bestimmter Gestalt
hinstrebenden Gedankens
**)
bezeichnen. Auch hier indeß gibt es einen Uebergang,
durch den freien und unendlich mannigfaltigen dithyrambischen Rhythmus, zu der
völligen Ungebundenheit des Polymeters oder des Jean Paulschen Streckverses (§. 97).
§ 42. Der lyrische Ausdruck,
wenn wir uns etwa eine Klopstocksche Ode und ein Volkslied
vergegenwärtigen, ist sehr mannigfaltiger Art, doch nicht ohne
ge[48]meinsames Kennzeichen. Schon der geringe Umfang und die auf die Hauptmomente der
Empfindung zusammengedrängte Darstellung verbieten die sinnlich breite Ausführlichkeit
des Epos. Das müßige Epitheton tritt zurück, das Gleichniß wird selten und ohne
Detaillierung angewendet; die kurze Metapher tritt mehr hervor, so wie der
bezeichnende und eindringliche Ausdruck (§. 13). Obwol aber im Ganzen eine
gedrängte Kürze feststeht, so lassen sich doch in dieser Beziehung zwei Richtungen
unterscheiden. Die eine besteht in der vollen herzlichen Aussprache, so zu sagen,
dem Austönen der Empfindung, wodurch der Ausdruck etwas Malerisch-musikalisches
erhält, wie wir dies z. B. bei Schiller wahrnehmen; die andere in dem gepreßten,
andeutenden, mehr auf den einfachen Naturlaut des Herzens beschränkten Ausdruck,
wie wir dies in dem Volksliede
*)
und an Göthe wahrnehmen.
[Die Anmerkungen stehen als Fußnoten auf den in eckigen Klammern bezeichneten Seiten]
[45] *) Die Lyra gebrauchte zuerst die äolische Poesie, welche im Gegensatze zur dorischen
Lyrik (deren Erzeugnisse von tanzenden Chören aufgeführt wurden und einen mehr
öffentlichen Charakter hatten) die Gefühle des einzelnen bewegten Menschenherzens
auszudrücken liebte (O. I. p. 295297).
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[46] *) "Alle meine Gedichte sind. Gelegenheitsgedichte; sie sind durch die Wirklichkeit
angeregt und haben darin Grund und Boden."
Göthe, Eckermanns Gesp. Bd. I. p. 54.
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[47] *) In der dorischen Lyrik stellt sich die Dreiteilung, Strophe, Antistrophe und
Epode heraus. Diese Einteilung hatte ihren Grund darin, daß die während der
Strophe ausgeführte Bewegung des Chors durch die Antistrophe wieder zur ursprünglichen
Stellung zurückgeführt ward, worauf dann, in ruhigem Stande, die Epode gesungen ward.
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[47] **) Das Wort Gedanken so verstanden, wie man von einem musikalischen
Gedanken spricht.
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[48] *) Ueber das Volkslied Vl. I. p. 381-89. G. B. 33, p. 175.
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Erstdruck und Druckvorlage
Dr. Timm: Die Lehre von den Arten und Formen der Dichtung.
Ein Leitfaden für höhere Schulen und zugleich ein Handbuch zum Selbstunterricht.
Halle a. d. Saale: Schrödel & Simon 1853.
Unser Auszug: S. 45-48.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://books.google.de/books?id=2XRaAAAAcAAJ
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Edition
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