Friedrich Hebbel

 

 

Moderne Lyrik.

 

Text
Editionsbericht
Werkverzeichnis
Literatur: Hebbel
Literatur: Illustrirte Zeitung

 

Die deutsche Muse hat schon manchen Mann gehabt, seit sie Madame Opitz hieß; diesen Namen legten ihr nämlich die Verehrer des "Boberschwans" wirklich bei. Es ist eine stattliche Reihe stolzer und mannhafter Gestalten, die sich von Paul Flemming an bis auf Ludwig Uhland herab durch zwei Jahrhunderte hinzieht. Zuweilen drängte sich wol auch ein Zwerg, auf hohen Stelzen einherschreitend und aus enger Brust schrillende Fisteltöne hervorpressend, mit ein, aber wie bald wurde das Holz wurmstichig, das ihn statt der Beine trug, und wie jämmerlich purzelte er dann zu Boden. So, um ein weit genug hinter uns liegendes Beispiel anzuführen, erlebte Gottsched mit seinen Gedichten freilich ebenso viele Auflagen, wie mancher Modelyriker unserer Tage, und sie waren, was die Zahl der Exemplare anlangt, ohne allen Zweifel größer, aber die Nachwelt ist nicht geneigt, des Erfolges wegen, den Spruch über ihn zu mildern, oder ihm sein Eifern und Toben gegen Klopstock zu verzeihen. Wie ein Narr, der selbst nicht weiß, daß er es ist, und der deshalb nur um so ernsthaftere Gesichter schneidet, je ärger er verlacht wird, steht er am Eingang unserer großen Literaturperiode da; der Sänger des Messias, von Hölty und Bürger, von Claudius und Voß begleitet, zieht im Purpurmantel an ihm vorbei und stimmt das Instrument der Sprache; Goethe und Schiller folgen fast unmittelbar und spielen es seinem ganzen Umfange nach aus, und manch schönes Talent schließt sich noch später an und wagt einen eigenthümlichen Ton.

Es ist kaum schwerer über Musik zu schreiben, wie über lyrische Poesie, wenn man wirklich Etwas feststellen und nicht in etymologischem Becherspiel ein Unbestimmbares mit dem andern müßig und resultatlos vergleichen will. Man sehe unsere Aesthetiker an, die besten nicht ausgenommen, und frage sich, ob selbst Jean Paul, der doch hell und klar, wie kein Zweiter, in den Darstellungsprozeß hineinschaute, hier über die Trivialität hinaus kommt. Der Grund ist einfach: man hat in der Lyrik das reine Element vor sich, um das alle Formen sich streiten, ohne daß eine den Sieg davonträgt, weshalb sie in der singbaren Ballade, die zugleich episch, dramatisch und musikalisch ist, gipfelt. Im Allgemeinen hat man von jeher zwei Hauptrichtungen unterschieden: die geistige, die bei uns durch Schiller repräsentirt wird und die man nicht so kurzweg die reflective nennen sollte, und die gemüthliche, die Goethe vertritt. Darin hatte man auch ganz recht, man behielt nur nicht genug im Auge, daß beide Richtungen in der Phantasie ihre gemeinschaftliche Wurzel haben, welche die geistige allein vor der Abstraction und die gemüthliche vor dem Sturz in die nüchternste Prosa bewahren kann. Denn freilich, wenn jeder Gedanke ein Gedicht oder auch nur der <Keim> zu einem Gedicht wäre, so hätte Johann Jacob Wagner, der würzburger Philosoph, Recht gehabt, als er seine Dichterschule schrieb und in ihr den Beweis lieferte, daß man jederzeit aus einem scharfen Kopf ein classischer Dichter werden könne. Und wenn jedes Juchhe und jedes Oweh, das im Wechsel der Gefühle aus dem so oder so bewegten Herzen aufsteigt, nur seine Wahrheit darzuthun und etwa noch seine Entstehungsgeschichte hinzuzufügen brauchte, um für poetisch zu gelten, so wäre Vater Gleim mit großem Unrecht ausgestrichen worden, so dürften die Vogl und Genossen nie ausgestrichen werden, so müßten die nürnberger Meistersänger alle wieder auferstehen, so gäbe es aber auch keinen Unterschied zwischen Poesie und Prosa, als den Reim. Es muß aber ein schöpferischer Act der Phantasie hinzukommen, der den allgemeinen Gedanken individualisirt und umgekehrt das subjective Gefühl generalisirt, und die Individuen, in denen dieser Act sich vollzieht, treten so selten hervor, daß man noch in tausend Jahren keine Uebervölkerung des Parnasses zu besorgen haben wird. Den Stadtpfeifern und Thurmbläsern gegenüber, die alljährlich unsere Musenalmanache füllen, wird natürlich mit einer Definition nichts ausgerichtet, denn sie verachten sie entweder, oder fühlen sich, wundersamerweise, mit ihr in Uebereinstimmung. Aber wem um Einsicht zu thun ist, der gehe dem hier gegebenen Fingerzeige nach und mache auf Goethe und Schiller die Anwendung. Bei Goethe leuchtet es auf den ersten Blick ein, daß alle seine Gedichte Perspectiven mit unendlichen Spiegelungen eröffnen und sich nur darum so eng an die von ihm nicht ohne Grund hochgepriesene Gelegenheit anschließen, weil er den Standpunkt möglichst scharf fixiren muß; aber auch bei Schiller ist nicht zu verkennen, daß er den philosophischen Gehalt, der ihm allerdings immer vorschwebt, keineswegs, wie etwa Lucrez, als einen schon errungenen, blos ausbreitet und in einen Goldrahmen faßt, sondern daß er uns sein Kämpfen um ihn und also seine Abhängigkeit von ihm in allen Stadien darstellt. So generalisirt der Eine sein Besonderes und individualisirt der Andere sein Allgemeines, bis sie, von ganz entgegengesetzten Enden ausgehend, in der Mitte des Wegs zusammentreffen und die beiden Hälften der Menschheit innig mit einander verschmelzen. Es versteht sich von selbst, daß nur von den besten Stücken dieser Männer die Rede sein kann.

[356] Auf Goethe und Schiller folgte, wie schon bemerkt wurde, manch schönes Talent, auf dessen Charakterisirung hier Verzicht geleistet werden muß. Uhland war das bedeutendste, und es war ein trauriges Zeichen, daß diese frische, kerngesunde Erscheinung, aus der das ganze mittelalterliche Deutschland lyrisch singt, wie es aus Goethe's Götz dramatisch spricht, zunächst in einem Wüstenmaler den Rivalen finden, dann gar durch einen Todtenvogel in den Hintergrund gedrängt werden konnte. Aber welche Reiser sind wieder Freiligrath und Lenau, die doch neben Uhland kaum sichtbar bleiben, gegen ihre Nachfolger! Nicht, als ob nicht hie und da noch eine respectable Natur mit markigen Gaben hervorgetreten wäre, aber sie wurde kalt bei Seite geschoben oder höchstens so begrüßt, wie der Arzt von den Kindern, der ihnen einen Blutreinigungsthee auf den Tisch setzt. Und was sich geltend machte, was gesungen und wieder gesungen wurde, das war der Art, daß man im Gedanken ans Ausland mit Scham und völligem Stillschweigen darüber hinweggehen muß. Jetzt scheint ein Wendepunkt nahe zu sein, denn an allen Ecken und Enden erheben sich nachdrucksvolle Stimmen gegen die in aufgedunsenen Versen vorgetragene gleißnerische Frömmelei und die nebenher tänzelnde läppische Minnesängerei, die sich gern als allein berechtigt hinstellen möchten und die nicht einmal neben Anderm zu existiren verdienen, da sie hohl und leer sind. Es dürften, um auf das im Anfang gebrauchte Bild zurückzukommen, bald wieder einige Stelzen brechen, und daher ist es doppelt erfreulich, daß auch wieder Dichter erscheinen, die den Ton der Wahrheit und der Männlichkeit anstimmen, ohne darum weniger religiös zu sein, oder sich zarteren Gemüths- und Seelenregungen unzugänglich zu zeigen. Zu diesen Dichtern gehören die Beiden, die zu den vorstehenden allgemeinen Betrachtungen nicht sowol bloß Anlaß gaben, als geradezu dringend aufforderten. In der Kernhaftigkeit und Gediegenheit, die immer auf das Wesen ausgeht und lieber trocken erscheint, als sich nach falschem Prunk und Flittertand umsieht, sind sie einander gleich; in der Beherrschung der Form, die sich freilich hie und da noch sträubt, halten sie sich auch so ziemlich die Stange. Sonst unterscheiden sie sich dadurch, daß Pichler offenbar erst ins Leben hinein schreitet und Reinhold heraus, daß Jener also die Welt und was sich darin regt und bewegt, mit Jubel begrüßt, und Dieser mit gesättigtem Blick auf sie zurück schaut, sodaß sie sich bei dem Einen im Morgenstrahl und bei dem Andern in der Abendbeleuchtung zeigt. Zum Eingehen aufs Detail ist hier nicht der Ort; es sei daher nur noch bemerkt, daß, wenn die Sammlungen sich auch nicht als Sammlungen in unserer deutschen Nationalliteratur behaupten sollten, sich einzelne Stücke doch ohne alle Frage durchsetzen und in jeder mit Verstand ausgewählten Anthologie einen Ehrenplatz finden werden. Dahin rechnen wir bei Pichler z.B. die alte Zither, die zugleich das tyroler Volksleben vortrefflich abspiegelt, und ein Fest; bei Reinhold das wunderschöne dritte Seelied und den Haideritt.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Illustrirte Zeitung.
Wöchentliche Nachrichten über alle Ereignisse, Zustände und Persönlichkeiten der Gegenwart, über Tagesgeschichte, öffentliches und gesellschaftliches Leben, Handel, Gewerbe und Industrie, Wissenschaft und Kunst, Musik, Theater und Moden.
1853, Nr. 544, 3. Dezember, S. 355-356.

Gezeichnet: 8070.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Illustrirte Zeitung   online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Illustrirte_Zeitung
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000059400
URL: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=izl

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

Kommentierte und kritische Ausgaben

 

Die besprochenen Werke

 

 

 

Werkverzeichnis


Verzeichnisse

Jacob, Herbert (Bearb.): Deutsches Schriftstellerlexikon 1830 – 1880.
Bd. H. Berlin: Akademie Verlag 2003.
S. 275-299: Art. Hebbel.

Wütschke, Johannes: Hebbel-Bibliographie. Ein Versuch.
Berlin: Behr 1910
(= Veröffentlichungen der Deutschen Bibliographischen Gesellschaft, 6).
URL: https://archive.org/details/hebbelbibliograp00wtuoft
S. 5-59: Chronologisches Verzeichnis der Erstdrucke von Hebbels Werken.



Hebbel, Friedrich: [Rezension] Heine, Buch der Lieder.
In: Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe.
Hrsg. von Richard Maria Werner.
Abt. 1; Bd. 10: Vermischte Schriften II (1835 - 1841).
2. Aufl. Berlin: Behr 1904, S. 415-419.
URL: https://archive.org/details/smtlichewerke00werngoog

Hebbel, Friedrich: Gedichte.
Hamburg: Hoffmann u. Campe 1842.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10110580
URL: https://archive.org/details/gedichte00hebbgoog
URL: https://books.google.de/books?id=u28HAAAAQAAJ

Hebbel, Friedrich: Neue Gedichte.
Leipzig: Weber 1848.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10110582
URL: http://data.onb.ac.at/rec/AC09941275
URL: https://books.google.de/books?id=tVFhAAAAcAAJ

Hebbel, Friedrich: Moderne Lyrik.
In: Illustrirte Zeitung.
1853, Nr. 544, 3. Dezember, S. 355-356.
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Illustrirte_Zeitung
URL: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=izl

Hebbel, Friedrich: Zur Anthologien-Literatur.
In: Österreichische Blätter für Literatur und Kunst.
Beilage zur Oesterreichisch-Kaiserlichen Wiener Zeitung
1854, Nr. 76, 3. April, S. 103-104.
URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=wrz
URL: https://digipress.digitale-sammlungen.de/calendar/newspaper/bsbmult00000357

Hebbel, Friedrich: Gedichte.
Gesammt-Ausgabe stark vermehrt und verbessert.
Stuttgart u. Augsburg: Cotta 1857.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10110583
PURL: https://hdl.handle.net/2027/wu.89049241136

Hebbel, Friedrich: [Rezension] Gedichte von Franz Dingelstedt.
In: Allgemeine Zeitung.
1858, Beilage zu Nr. 223, 11. August, S. 3617-3618.
URL: https://digipress.digitale-sammlungen.de/calendar/newspaper/bsbmult00000002


Hebbel, Friedrich: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe.
Hrsg. von Richard Maria Werner.
Abt. 2; Tagebücher, 1: 1835-1839.
Berlin: Behr 1903.
URL: https://archive.org/details/pt02smtlichewerke01hebbuoft

Hebbel, Friedrich: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe.
Hrsg. von Richard Maria Werner.
Abt. 2; Tagebücher, 2: 1840 - 1844.
Berlin: Behr 1903.
URL: https://archive.org/details/pt02smtlichewerke02hebbuoft

Hebbel, Friedrich: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe.
Hrsg. von Richard Maria Werner.
Abt. 2; Tagebücher, 3: 1845 - 1854.
Berlin: Behr 1903.
URL: https://archive.org/details/pt02smtlichewerke03hebbuoft

Hebbel, Friedrich: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe.
Hrsg. von Richard Maria Werner.
Abt. 2; Tagebücher, 4: 1854 - 1863. Register
Berlin: Behr 1903.
URL: https://archive.org/details/pt02smtlichewerke04hebbuoft


Hebbel, Friedrich: Briefwechsel 1829 – 1863.
Historisch-kritische Ausgabe in fünf Bänden.
Hrsg. von Otfried Ehrismann u.a.
5 Bde. München: Iudicium 1999.

Hebbel, Friedrich: Tagebücher.
Neue historisch-kritische Ausgabe.
Hrsg. von Monika Ritzer.
Bd 1: Text; Bd. 2: Kommentar und Apparat.
Berlin u. Boston: De Gruyter 2017.

 

 

 

Literatur: Hebbel

Bandion, Wolfgang J. u.a. (Hrsg.): Starke Gefühle. Kulturwissenschaftliche Emotionalitätsdiskurse im 19. und 20. Jahrhundert. Wien 2015.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Häntzschel, Günter (Hrsg.): Studien zu Hebbels Tagebüchern. München 1994.

Häntzschel, Günter: Friedrich Hebbels Tagebücher - "ein litterarhistorisches Denkmal ersten Ranges" in neuer Edition. In: Hebbel-Jahrbuch 74 (2019), S. 9-24.

Pfau, Oliver: Hebbels Lyrik. Aufbruch in die Moderne. In: Hebbel-Jahrbuch 72 (2017), S. 109-118.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u. New York. 2004.

Ritzer, Monika: Friedrich Hebbel. Der Individualist und seine Epoche. Eine Biographie. Göttingen 2018.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Scholz, Carsten: Der junge Hebbel. Eine Mentalitätsgeschichte. Köln 2011 (= Literatur und Leben, 80).

Stein, Astrid: Friedrich Hebbel als Publizist. Münster 1989 (= Medien & Kommunikation, 13).

 

 

Literatur: Illustrirte Zeitung

Bacot, Jean-Pierre: La presse illustrée au XIXe siècle. Une histoire oubliée. Limoges 2005.

Bacot, Jean-Pierre: The Iillustrated London News et ses déclinaisons internationales: un siècle d'influence. In: L'Europe des revues II (1860-1930). Réseaux et circulations des modèles. Hrsg. von Évanghélia Stead u. Hélène Védrine. Paris 2018, S. 35-47.

Barthold, Willi W.: Der literarische Realismus und die illustrierten Printmedien. Literatur im Kontext der Massenmedien und visuellen Kultur des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 2021.

Günter, Manuela: Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2008.

Podewski, Madleen: Mediengesteuerte Wandlungsprozesse. Zum Verhältnis zwischen Text und Bild in illustrierten Zeitschriften der Jahrhundertmitte. In: Vergessene Konstellationen literarischer Öffentlichkeit zwischen 1840 und 1885. Hrsg. von Katja Mellmann und Jesko Reiling. Berlin 2016, S. 61-79.

Weber, Wolfgang: Johann Jakob Weber. Der Begründer der illustrierten Presse in Deutschland. Leipzig 2003.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer