Text
Editionsbericht
Literatur: Gutzkow
Literatur: Unterhaltungen am häuslichen Herd
Allzu lange haben auf unserm Parnaß die lyrischen Dilettanten gehaust. Einige unserer ersten Dichter, wie H. Heine, Wilhelm Müller, Anastasius Grün und selbst Uhland schon hatten es den Nachahmern zu leicht gemacht. Man hielt den allgemeinen, von ihnen angeschlagenen Ton fest und verlor sich in lyrischen Empfindungen und epischen Darstellungen so ins Breite und Weite, daß wir nur die erste beste Anthologie neuerer Dichter aufzuschlagen brauchen, um zu erstaunen, wie viel Poeten wir besitzen, die es auch an Geltendmachung ihrer Verdienste nicht fehlen lassen. Zeitungen, wo der Eine den Andern loben konnte, gibt es genug.
Dem Dilettantenwesen auf dem Reimgebiete gegenüber suchte sich
der Vers einen festern Halt zu gewinnen. Der Balladen- und
Romanzenton war bald verklungen. Dann reichte auch der politische
und sociale Gedanke nicht aus, um den Draht ins Unendliche
abzukürzen. Darauf kamen die orientalischen Formen. Aber auch
Hafis mit seinen Schiras-Rosen um verbotene Sorgenbrecher
scheint an zwei bis drei norddeutschen Wintern genug gehabt
zu haben; Affectirtes hält sich nicht. Nun steht die lyrische
Muse wieder rathlos und es scheint, als hätte sie jetzt einen
neuen Verbündeten gefunden, nämlich die Gelehrsamkeit.
Bis zur Stunde hat man freilich noch den Eindruck, als sollte diese Art Poeten, wie Goethe's Homunculus, auf Flaschen erzeugt werden. Liebig's Retorten haben indessen schon viel zuwege gebracht. Warum sollte nicht auch der alte erfahrene Famulus der Faustküche, Dr. Wagner, den jungen Poeten anrathen: Studirt, lest, excerpirt, ahmt Goethe nach, haltet euch an Catull, Properz, gebt griechische Ueberschriften und [768] wählt dann und wann ein Sanskritmotto! Wie weit eine gut geschulte Philologie es mit der Zeit bringen kann, hat schon Geibel gelehrt. Er brachte nichts Neues, aber das Alte in glatter Form. Man konnte nicht sagen, daß die Natur aus ihm einen Dichter schaffen wollte – sie schafft die Dichter selten bei blauem, griechischem Sonnenschein, meist in zornigen und düstern Nebel- und Gewitterlaunen –, aber sie gab ihm die Bildung, die sich gemeinverständlich machte, ohne den Professoren und Lehrern in den Mädchenpensionaten gar zu commisartig zu erscheinen, wie die vielgelesenen Gedichte von Hinz und Kunz, – kurz, seht die Wirkungen wohlangewendeter Studien! Und da Homunculus selbst zu Dr. Wagner sagt:
Natürlichem genügt das Weltall kaum,
Was künstlich ist, verlangt geschloss'nen Raum!
so dient ein zeitiges Amt zur rechten Selbstbeschränkung. Extreme, jungdeutsche Press-, Kirchen- und Staatswidrigkeiten sind dabei im Keime erstickt.
Ergieß' ich gleich des Lichtes Menge,
Bescheiden doch, daß ich das Glas nicht sprenge.
Welche Freude dann, wenn die Producte solcher Pflege, wie Euphorion, zur Freude der Hörer, Muhmen und Schwiegerältern auffliegend singen können:
Hört ihr Kindeslieder singen,
Gleich ist's euer eig'ner Scherz.
Seht ihr mich im Takte springen,
Hüpft euch älterlich das Herz.
Genug, dieser wohlerzogenen, gelehrten Lyrik wünschen wir alles Heil. Sie wird Fleiß und Studium wieder zur Geltung bringen, sie wird sicher manches Artige und Gefällige schaffen, wird die poetische Anschauung in Sphären zurückführen, die dem rohen Naturalismus unzugänglich sind. Wenn die "Hermen von Paul Heyse" (Berlin, Hertz) diesen Erfolg haben, wieder in den Bereich Goethe'scher Anschauungen und Studien zurücklenken, so werden sie gewiß dazu beitragen, der allzu leichten poetischen Praxis zu steuern und den Sinn für geschlossene Composition, ausgetragenen Inhalt und feste und sichere Form zu mehren.
Eine solche Rückkehr der reimenden Poesie auf die
Gelehrsamkeit wird auch durch Hermann Grimm's "Traum und Erwachen"
(Berlin, Hertz) vertreten. Es ist dies ein Epos, welches in
der endenden antiken Zeit spielt. Die Handlung, die der Autor
darstellen will, wird man allerdings nur mit der größten
Schwierigkeit verstehen, allein soviel sieht man schon, daß
uns diese wohlgefügten Strophen ein feiner Geist vorträgt. Daß
es ihm an Blutwärme und gestaltender Plastik fehlt, ist
ein Uebelstand für die Fabel seines Gedichts, deren Bestandtheile
wie Nebel durcheinanderrinnen; aber es liegt ein wohlthuender
Sonnenglanz auf diesem Nebel. Zuweilen schimmert ein antiker
Säulenschaft, ein goldener Rennbahnwagen, ein stolzer Römerhelm,
eine purpurne Toga, ein schöngeformter etrurischer Wasserkrug,
ein dunkler Cypressenbaum durch diese Nebel hindurch; man ahnt
daß dem Verfasser eine Geschichte vorschwebte, wie
die ersten antiken Romantiker, Longus, Heliodor, Apulejus,
die Geschichte von Amor und Psyche und Aehnliches erzählten;
oft bringt auch die ihm innewohnende Kraft der Reproduction
wirklich ein schönes Landschaftsbild, der Sinn für rhetorische
Antithese einen ungewöhnlichern Gedankengang, die Steigerung
der Fabel sogar eine malerische, wenigstens den Basreliefbildhauer
herausfordernde Scene zu Stande, Alles Vortheile der Schule und Bildung,
die freilich den Eindruck der Langenweile nicht entfernen können. Die Mühe,
die sich der Verfasser gegeben zu haben scheint, weckt leider
zu oft die Vorstellung, als hätte ihm Jemand diese Dichtung
als ein Exercitium ingenii aufgegeben.
Erstdruck und Druckvorlage
Unterhaltungen am häuslichen Herd.
1853, Bd. 2, Nr. 48, [26. August], S. 767-768.
Ungezeichnet.
Zuschreibung nach
Wolfgang Rasch: Bibliographie Karl Gutzkow.
Bd. 1. Bielefeld 1998, S. 411 (Nr. 3.54.08.26.1).
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
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Zeitschriften-Repertorien
Editionsprojekt
Literatur: Gutzkow
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Literatur: Unterhaltungen am häuslichen Herd
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Bemerkungen zu den Unterhaltungen am häuslichen Herd
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In: Karl Gutzkow and His Contemporaries /
Karl Gutzkow und seine Zeitgenossen.
Beiträge zur internationalen Konferenz des Editionsprojekts
Karl Gutzkow vom 7. bis 9. September 2010 in Exeter.
Hrsg. von Gert Vonhoff.
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer