Karl Gutzkow

 

 

Die deutsche Poesie im philologischen Stadium

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Gutzkow
Literatur: Unterhaltungen am häuslichen Herd

 

Allzu lange haben auf unserm Parnaß die lyrischen Dilettanten gehaust. Einige unserer ersten Dichter, wie H. Heine, Wilhelm Müller, Anastasius Grün und selbst Uhland schon hatten es den Nachahmern zu leicht gemacht. Man hielt den allgemeinen, von ihnen angeschlagenen Ton fest und verlor sich in lyrischen Empfindungen und epischen Darstellungen so ins Breite und Weite, daß wir nur die erste beste Anthologie neuerer Dichter aufzuschlagen brauchen, um zu erstaunen, wie viel Poeten wir besitzen, die es auch an Geltendmachung ihrer Verdienste nicht fehlen lassen. Zeitungen, wo der Eine den Andern loben konnte, gibt es genug.

Dem Dilettantenwesen auf dem Reimgebiete gegenüber suchte sich der Vers einen festern Halt zu gewinnen. Der Balladen- und Romanzenton war bald verklungen. Dann reichte auch der politische und sociale Gedanke nicht aus, um den Draht ins Unendliche abzukürzen. Darauf kamen die orientalischen Formen. Aber auch Hafis mit seinen Schiras-Rosen um verbotene Sorgenbrecher scheint an zwei bis drei norddeutschen Wintern genug gehabt zu haben; Affectirtes hält sich nicht. Nun steht die lyrische Muse wieder rathlos und es scheint, als hätte sie jetzt einen neuen Verbündeten gefunden, nämlich die Gelehrsamkeit.

Bis zur Stunde hat man freilich noch den Eindruck, als sollte diese Art Poeten, wie Goethe's Homunculus, auf Flaschen erzeugt werden. Liebig's Retorten haben indessen schon viel zuwege gebracht. Warum sollte nicht auch der alte erfahrene Famulus der Faustküche, Dr. Wagner, den jungen Poeten anrathen: Studirt, lest, excerpirt, ahmt Goethe nach, haltet euch an Catull, Properz, gebt griechische Ueberschriften und [768] wählt dann und wann ein Sanskritmotto! Wie weit eine gut geschulte Philologie es mit der Zeit bringen kann, hat schon Geibel gelehrt. Er brachte nichts Neues, aber das Alte in glatter Form. Man konnte nicht sagen, daß die Natur aus ihm einen Dichter schaffen wollte – sie schafft die Dichter selten bei blauem, griechischem Sonnenschein, meist in zornigen und düstern Nebel- und Gewitterlaunen –, aber sie gab ihm die Bildung, die sich gemeinverständlich machte, ohne den Professoren und Lehrern in den Mädchenpensionaten gar zu commisartig zu erscheinen, wie die vielgelesenen Gedichte von Hinz und Kunz, – kurz, seht die Wirkungen wohlangewendeter Studien! Und da Homunculus selbst zu Dr. Wagner sagt:

Natürlichem genügt das Weltall kaum,
Was künstlich ist, verlangt geschloss'nen Raum!

so dient ein zeitiges Amt zur rechten Selbstbeschränkung. Extreme, jungdeutsche Press-, Kirchen- und Staatswidrigkeiten sind dabei im Keime erstickt.

Ergieß' ich gleich des Lichtes Menge,
Bescheiden doch, daß ich das Glas nicht sprenge.

Welche Freude dann, wenn die Producte solcher Pflege, wie Euphorion, zur Freude der Hörer, Muhmen und Schwiegerältern auffliegend singen können:

Hört ihr Kindeslieder singen,
Gleich ist's euer eig'ner Scherz.
Seht ihr mich im Takte springen,
Hüpft euch älterlich das Herz.

Genug, dieser wohlerzogenen, gelehrten Lyrik wünschen wir alles Heil. Sie wird Fleiß und Studium wieder zur Geltung bringen, sie wird sicher manches Artige und Gefällige schaffen, wird die poetische Anschauung in Sphären zurückführen, die dem rohen Naturalismus unzugänglich sind. Wenn die "Hermen von Paul Heyse" (Berlin, Hertz) diesen Erfolg haben, wieder in den Bereich Goethe'scher Anschauungen und Studien zurücklenken, so werden sie gewiß dazu beitragen, der allzu leichten poetischen Praxis zu steuern und den Sinn für geschlossene Composition, ausgetragenen Inhalt und feste und sichere Form zu mehren.

Eine solche Rückkehr der reimenden Poesie auf die Gelehrsamkeit wird auch durch Hermann Grimm's "Traum und Erwachen" (Berlin, Hertz) vertreten. Es ist dies ein Epos, welches in der endenden antiken Zeit spielt. Die Handlung, die der Autor darstellen will, wird man allerdings nur mit der größten Schwierigkeit verstehen, allein soviel sieht man schon, daß uns diese wohlgefügten Strophen ein feiner Geist vorträgt. Daß es ihm an Blutwärme und gestaltender Plastik fehlt, ist ein Uebelstand für die Fabel seines Gedichts, deren Bestandtheile wie Nebel durcheinanderrinnen; aber es liegt ein wohlthuender Sonnenglanz auf diesem Nebel. Zuweilen schimmert ein antiker Säulenschaft, ein goldener Rennbahnwagen, ein stolzer Römerhelm, eine purpurne Toga, ein schöngeformter etrurischer Wasserkrug, ein dunkler Cypressenbaum durch diese Nebel hindurch; man ahnt daß dem Verfasser eine Geschichte vorschwebte, wie die ersten antiken Romantiker, Longus, Heliodor, Apulejus, die Geschichte von Amor und Psyche und Aehnliches erzählten; oft bringt auch die ihm innewohnende Kraft der Reproduction wirklich ein schönes Landschaftsbild, der Sinn für rhetorische Antithese einen ungewöhnlichern Gedankengang, die Steigerung der Fabel sogar eine malerische, wenigstens den Basreliefbildhauer herausfordernde Scene zu Stande, Alles Vortheile der Schule und Bildung, die freilich den Eindruck der Langenweile nicht entfernen können. Die Mühe, die sich der Verfasser gegeben zu haben scheint, weckt leider zu oft die Vorstellung, als hätte ihm Jemand diese Dichtung als ein Exercitium ingenii aufgegeben.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Unterhaltungen am häuslichen Herd.
1853, Bd. 2, Nr. 48, [26. August], S. 767-768.

Ungezeichnet.
Zuschreibung nach
Wolfgang Rasch: Bibliographie Karl Gutzkow.
Bd. 1. Bielefeld 1998, S. 411 (Nr. 3.54.08.26.1).

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


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Zeitschriften-Repertorien

 

Editionsprojekt

 

 

 

Literatur: Gutzkow

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Dehrmann, Mark-Georg u.a. (Hrsg.): Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert. Bern u.a. 2010 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik; N.F., 22).

Eke, Norbert O. / Famula, Marta (Hrsg.): Ästhetik im Vormärz. Bielefeld 2021.

Häntzschel, Günter: Lyrik-Vermittlung in Familienblättern. Am Beispiel der Gartenlaube 1885 – 1895. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 22 (1981) 155-185.

Lukas, Wolfgang / Schneider, Ute (Hrsg.): Karl Gutzkow (1811 – 1878). Publizistik, Literatur und Buchmarkt zwischen Vormärz und Gründerzeit. Wiesbaden 2013 (= Buchwissenschaftliche Beiträge, 84.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u.a. 2004.

Rasch, Wolfgang: Bibliographie Karl Gutzkow (1829 - 1880).
2 Bde. Bielefeld 1998.

Rasch, Wolfgang (Hrsg.): Karl Gutzkow. Erinnerungen, Berichte und Urteile seiner Zeitgenossen. Eine Dokumentation. Berlin u. New York 2011.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Stockinger, Claudia: Lyrik im Gebrauch. Zum Stellenwert und zur Funktion von Gedichten in massenadressierten Periodika nach 1850 am Beispiel der Gartenlaube. In: Lyrik des Realismus. Hrsg. von Christian Begemann u. Simon Bunke. Freiburg i.Br. u.a. 2019, S. 61-86.

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysedimensionen. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

Trobitz, Norbert: Der Literaturkritiker Karl Gutzkow. Diss. Düseldorf 2003.
URL: https://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DocumentServlet?id=2599

 

 

Literatur: Unterhaltungen am häuslichen Herd

Barth, Dieter: Zeitschrift für alle. Das Familienblatt im 19. Jahrhundert. Ein sozialhistorischer Beitrag zur Massenpresse. Münster 1974.

Barth, Dieter: Das Familienblatt – ein Phänomen der Unterhaltungspresse des 19. Jahrhunderts. Beispiele zur Gründungs- und Verlagsgeschichte. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 15 (1975), Sp. 121-316.

Frank, Gustav: Bild und Raum. Umbrüche der Episteme und Gutzkows Unterhaltungen am häuslichen Herd. In: Karl Gutzkow (1811 – 1878). Publizistik, Literatur und Buchmarkt zwischen Vormärz und Gründerzeit. Hrsg. von Wolfgang Lukas u. Ute Schneider. Wiesbaden 2013, S. 87-102.

Krause, Marcus: Arranging the World. The Disorder of Things and the Miscellaneity of the Journal according to Gutzkows "Unterhaltungen am häuslichen Herd" ("Conversations Around the Domestic Hearth"). In: Media (B)Orders. Between Periodicals and Books. Miscellaneity and Classification in Nineteenth Century Magazines and Literature. Hrsg. von Daniela Gretz u.a. Hannover 2019, S. 24-33.

Meinold, Corinna: Der Fall als multifunktionale Schreibweise zur Wissensvermittlung in Karl Gutzkows Unterhaltungen am häuslichen Herd. In: Fallgeschichten. Text- und Wissensformen exemplarischer Narrative in der Kultur der Moderne. Hrsg. von Lucia Aschauer u.a. Würzburg 2015, S. 111-130.

Meinold, Corinna: Der Fall als Schreibweise zwischen Literatur und Wissen. Normalisierung in Karl Gutzkows "Unterhaltungen am häuslichen Herd". Würzburg 2016.

Phegley, Jennifer: Family Magazines. In: The Routledge Handbook to Nineteenth-Century British Periodicals and Newspapers. Hrsg. von Andrew King u.a. London u. New York 2019, S. 276-292.

Podewski, Madleen: Medienspezifika zwischen Vormärz und Realismus: Gutzkows Unterhaltungen am häuslichen Herd. In: Karl Gutzkow (1811 – 1878). Publizistik, Literatur und Buchmarkt zwischen Vormärz und Gründerzeit. Hrsg. von Wolfgang Lukas u. Ute Schneider. Wiesbaden 2013, S. 69-86.

Reusch, Nina: Populäre Geschichte im Kaiserreich. Familienzeitschriften als Akteure der deutschen Geschichtskultur 1890 - 1913. Bielefeld 2015.

Wülfing, Wulf: Wirklich ohne "Politik"? Bemerkungen zu den Unterhaltungen am häuslichen Herd und einigen von Gutzkows ersten Mitarbeitern. In: Karl Gutzkow and His Contemporaries / Karl Gutzkow und seine Zeitgenossen. Beiträge zur internationalen Konferenz des Editionsprojekts Karl Gutzkow vom 7. bis 9. September 2010 in Exeter. Hrsg. von Gert Vonhoff. Bielefeld 2011, S. 375-386.

 

 

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