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Editionsbericht
Literatur
[169] Dem ächten Dichter ist das Kleinste, wie das Größte gleich
lieb- und werthvoll, er betrachtet und behandelt das Niedrigste wie das Höchste
mit gleicher Zuneigung und Sorgfalt; denn im Einzelnen sieht er nicht das Einzelne,
Vergängliche, sondern die ewige Idee, das bleibende eigenthümliche Wesen desselben,
und Jedes ist ihm ein nothwendiges Glied in der Kette des Ganzen. "Unsere deutschen
Aesthetiker reden zwar viel von poetischen und unpoetischen Gegenständen, und sie
mögen auch in gewisser Hinsicht nicht ganz Unrecht haben; allein im Grunde bleibt
kein realer Gegenstand unpoetisch, sobald der Dichter ihn gehörig zu gebrauchen
weiß." (Göthe bei Eckermann I.) "Man sage nicht, daß es der Wirklichkeit an poetischem
Interesse fehle; denn eben darin bewährt sich ja der Dichter, daß er geistreich
genug sei, einem gewöhnlichen Gegenstand eine interessante
Seite abzugewinnen." (Daselbst.)
Muster in dieser Universalität ist der alte Homeros. Ihm ist Alles gleich werth,
wie der Mutter Natur. Wagen und Pferde schildert er mit gleicher Liebe und Sorgfalt,
wie den Wagenlenker und Helden. Der Sauhirt ist ihm eben so göttlich, wie der König.
Sehr wahr sagt in dieser Hinsicht Geppert (über den Ursprung der Homerischen
Gesänge I. 452): "Wenn sich bei Homer die Dinge auf die Weise begeben, als ob sie
sich von selbst machten, wenn das ganze Universum sich in ihm abspiegelt und es
nicht von größerer Bedeutung erscheint,
[170] daß Patroklos erschlagen wird, wie der Umstand, daß die Sonne auf- und
untergeht, denn keins wird über das andere vergessen, weder die Naturereignisse
über die Schicksale der Menschen, noch diese über jene, so ist dies für mich kein
Beweis dafür, daß damals die Natur dem ungetrübten Blicke der Menschen näher stand
und sich mit ihrer steten Wiederkehr in ihren Gesängen abspiegelte, sondern daß
der Dichter, der so zu dichten vermochte, die Gabe der Objectivität in einer
Weise besaß, wie sie später keinem Zweiten zu Theil geworden ist. Daß Objectivität
überhaupt nicht etwa der ausschließliche Charakter irgend einer Epoche ist, sehen
wir an Göthe und Walter Scott, die man in dieser Beziehung wohl mit Homer
vergleichen kann."
Objectivität ist die Grundbedingung der Universalität.
Während der subjective Dichter
durch Vorliebe für diesen oder jenen Gegenstand eingenommen ist und nicht das
selbsteigene Wesen des Gegenstandes aus sich, sondern sich aus dem Gegenstand
reden läßt, den Gegenstand also in sich verwandelt, statt sich in ihn, so ist
umgekehrt dem objectiven Dichter Alles, worin sich eine ewige Idee offenbart,
gleich lieb, und wie durch Metempsychose verwandelt er sich in den Gegenstand
und läßt dessen eigenes Wesen reden, so daß wir fühlen, wenn die Dinge uns ihr
Inneres enthüllen und aussprechen könnten, daß sie es nicht anders thun würden,
als beim objectiven Dichter. "So lange der Dichter blos seine wenigen subjectiven
Empfindungen ausspricht, ist er noch keiner zu nennen; aber sobald er die Welt
sich anzueignen und auszusprechen weiß, ist er ein Poet. Und dann ist er
unerschöpflich und kann immer neu sein, wogegen aber eine subjective Natur
ihr bischen Inneres bald ausgesprochen hat und zuletzt in Manier zu Grunde geht."
(Göthe bei Eckermann I.)
Der subjective Dichter kommt nicht von sich, von seiner Individualität los, so daß
man aus seinen Dichtungen nicht sowohl die Dinge, als vielmehr ihn selbst kennen
lernt. Die Grundbedingung der objectiven, universellen Anschauung ist aber gerade
das Loskommen und Freiwerden von sich, die Erweiterung seiner selbst zum allgemeinen
Wesen, das in Allem lebt und webt, im Großen wie im Kleinen; im Starken, wie im
Schwachen; im Bösen, wie im Guten; im Ruhigen, wie im
[171] Aufgeregten; kurz, die Fähigkeit, Lust und Leid, Wohl und Wehe der ganzen
Welt auf sich zu häufen. Darum ist aber auch der ächte Dichter ein pantheistisches
Wesen. Er lebt, fühlt und denkt gewissermaßen in Allem.
Er freut sich mit dem
Fröhlichen und trauert mit dem Trauernden. Er zürnt mit dem Zürnenden, haßt und
liebt mit dem Hassenden und Liebenden, ist von Neid oder Rache entbrannt mit dem
Neidischen oder Rachsüchtigen. Kurz, da gibt es keinen Affect und keine Leidenschaft,
keine glückliche oder unglückliche Situation, keinen guten oder bösen Charakter, in
die er sich nicht zu versetzen und zu versenken wüßte; und doch wieder schwebt er frei
über dem Allen, denn er ist dieses Alles nicht, sondern durchschaut es nur, er tritt
wohl für eine Weile aus sich heraus und versenkt sich ganz in den Gegenstand, den er
uns eben schildert, aber er bleibt nicht drin stecken, sondern zieht sich wieder
heraus und kehrt mit gleicher Lust und Liebe in andere Gestalten ein; denn in der
universellen Anschauung ist er ja nicht Einer, wie er in der Realität nur diese
bestimmte, einzelne Person ist, sondern er ist Alles.
Der Realität nach Einer
seiend, ist er in der objectiven universellen Intuition allumfassendes Wesen.
Dies ist der wahre Sinn des Worts, daß der Dichter ein Seher.
Dieselbe Objectivität und Universalität aber, dasselbe Freiwerden von der eigenen
Individualität, das in dem Dichter zum activen Schaffen ächter poetischer Werke
erforderlich, ist auch die Bedingung des Genießens und
Verstehens derselben beim
Publikum. Menschen daher, die von sich, von ihrem Ego nicht loskommen können, die
fortwährend nur mit den persönlichen Interessen und Angelegenheiten ihres Willens
beschäftigt und erfüllt find, befinden sich nicht in der Disposition, die Werke
der großen Dichter verstehen und genießen zu können. Sie haben
höchstens Sinn für solche Producte, die ihnen ihr eigenes Thun und Treiben
widerspiegeln, für Alltagsstücke, die das gemeine Leben in platter Natürlichkeit
nachahmen. Entfernt sich aber der Stoff bedeutend von dem Kreise ihres
eigenen Dichtens und Trachtens, verfolgt der Held des Stückes Zwecke, die den
ihrigen fremd sind, ist er von Affecten und Leidenschaften ergriffen, deren
sie selbst nicht fähig sind, treffen ihn Freuden und Leiden, die außerhalb ihres
[172] Bereiches liegen, dann können sie dem Dargestellten keinen Geschmack
mehr abgewinnen; denn sie verstehen es nicht, es fehlt ihnen die Idee, in
deren Lichte es angeschaut sein will. Nur Gleiches überhaupt wird von Gleichem
erkannt und verstanden. Kann man sich nicht in die fremden Charaktere und
Verhältnisse hineinversetzen, nicht die gleichen Gesinnungen und Bestrebungen,
die gleichen Gedanken und Gefühle innerlich durchleben, so muß Einem das Alles
fremdartig vorkommen, wie die Erscheinungen einer andern Welt, für die man keinen
Schlüssel hat. Daher auch kommt es, daß das Publikum jeder Zeit am besten
diejenigen Stücke versteht und goutirt, die dem Zeitgeschmacke entsprechen und
die Localfärbung an sich tragen, woraus wiederum die Tendenzpoesie entspringt,
die, da sie nur darauf ausgeht, dem localen und temporellen Geschmack des Publikums
zu huldigen, der Tod aller ächten Poesie ist. Jede Zeit versteht demzufolge nur
die Werke, die in ihr selbst, ihren Tendenzen gemäß, producirt werden, für die der
vergangenen hat sie schon keinen Sinn mehr, so wie die zukünftige für die ihrigen
keinen Sinn mehr haben wird. Statt daß aber solcher Weise das Publikum den Dichter
zu sich herabzieht und ihn zum gehorsamen Diener seines dürftigen Zeitgeschmackes
erniedrigt, ihn zu ephemeren Productionen verleitend, sollten vielmehr umgekehrt
die Dichter das Publikum zu sich heraufziehen und es zur Anschauung der ewigen,
unvergänglichen Ideen der Dinge, durch über den Zeitgeschmack erhabene Werke, erheben.
Dem wahrhaft Gebildeten sind die Werke der alten großen Dichter, z. B. eines Homer und Sophokles, obgleich die Helden derselben sich in einer von der unsrigen an Sitten, Tendenzen und Zwecken völlig verschiedenen Zeit bewegen, dennoch wegen des Ewigen und Allgemeinmenschlichen, das in ihnen sich abspiegelt, immer noch genießbarer, als die schlechten dem Zeitgeschmack huldigenden Machwerke der gegenwärtigen Dichterlinge. Der Pöbel aber zieht sich die letztern vor, und so wird es dann freilich kommen, daß unsere Zeit der Nachwelt wenig dauernde Werke zu überliefern haben wird, weil der Mangel an Objectivität und Universalität beim Publikum leider auf die Dichter zurückwirkt.
Die reine Objectivität in Werken der Kunst läßt den
[173] großen Haufen kalt, wie eine griechische Marmorstatue. Sollen ihn die
Kunstwerke interessiren, so muß ihnen der Reiz der Tendenz beigemischt sein,
d. h. sie müssen sich nicht an die reine Contemplation wenden, sondern dem
Willen schmeicheln. Daher haben zu jeder Zeit die Tendenz-Dichter weit mehr
Glück beim Publikum gemacht, als die objectiven, ja selbst Schiller ist darum
beim Volke beliebter und volksthümlicher geworden, als Göthe. So sehr will
überall das subjective Zeitinterresse der Menschen erregt sein und so wenig
sind sie im Allgemeinen dazu gemacht, an rein objectiver, uninteressirter,
willenloser Contemplation Vergnügen zu finden.
Die politische Tendenzpoesie hat schon Göthe sehr gut abgefertigt, indem er sagt:
"So wie ein Dichter politisch wirken will, muß er sich einer Partei hingeben; und
so wie er dieses thut, ist er als Poet verloren; er muß seinem freien Geiste,
seinem unbefangenen Ueberblick Lebewohl sagen und dagegen die Kappe der Bornirtheit
und des blinden Hasses über die Ohren ziehen.
"Der Dichter wird als Mensch und Bürger sein Vaterland lieben, aber das Vaterland
seiner poetischen Kräfte und seines poetischen Wirkens ist das Gute, Edle und
Schöne, das an keine besondere Provinz und an kein besonderes Land gebunden ist,
und das er greift und bildet, wo er es findet. Er ist darin dem Adler gleich, der
mit freiem Blick über Ländern schwebt und dem es gleichviel ist, ob der Hase, auf
den er hinabschießt, in Preußen oder in Sachsen läuft." (Eckermann Gespräche II.)
Erstdruck und Druckvorlage
J. Frauenstädt: Aesthetische Fragen.
Dessau: Katz 1853, S. 169-173.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://www.google.de/books/edition/Aesthetische_Fragen/NHVaAAAAcAAJ
URL: https://archive.org/details/aesthetischefrag00frau
PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.hnw3gl
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer