Text
Editionsbericht
Werkverzeichnis
Literatur: Prutz
Literatur: Volkslied
Literatur: Deutsches Museum
[511] Zu den seltsamsten Erscheinungen unserer an Seltsamkeiten und Ueberraschungen aller Art so überreichen Zeit zählen wir die außerordentliche Aufmerksamkeit, welche in neuester Zeit dem Volksliede gezollt wird, dem einheimischen sowohl wie dem fremden. Und das nicht blos von Seiten der gelehrten Forscher oder weniger vereinzelter Kunstliebhaber, sondern auch von der großen Masse des Publikums. Es steht diese Erscheinung, auf den ersten Anblick wenigstens, so sehr in Widerspruch mit demjenigen, was sich sonst als Geist der Zeit kund giebt, sowie mit der Richtung, welche die Literatur der Gegenwart bis dahin verfolgt hatte, daß es schon aus diesem Grunde nicht ohne Interesse sein wird, einige Augenblicke dabei zu verweilen und den Gründen derselben nachzugehen.
Welcher Art die eben gedachte Richtung unserer modernen Literatur war, weiß Jedermann. Je mehr unsere Dichtung unter den Händen der Romantiker dem wirklichen Leben und seinem Bedürfniß war entfremdet worden, mit um so größerem Ungestüm drängte sie sich ihm seit ungefähr der Mitte der dreißiger Jahre wiederum entgegen. Die Literatur wollte gut machen, was sie versäumt; hatte sie sich die letzten Decennien hindurch das Ansehen gegeben, der Nation das praktische Leben zu ersetzen, ja hatte sie sich in thörichter Selbstüberschätzung an die Stelle des Nationallebens selber gedrängt, so machte sie den Forderungen der Wirklichkeit jetzt ebenso bereitwillig wieder Platz; die Kunst selbst zog sich zurück, sie vergaß, auf Augenblicke wenigstens, die ihr zustehenden unveräußerlichen Rechte des Schönen, um dem Zeitgemäßen, dem Nützlichen desto freieren Spielraum zu gewähren. In die Literatur flüchteten sich die großen Gegensätze, die unter der scheinbar so ruhigen Oberfläche unseres damaligen geselligen wie politischen Lebens verborgen lagen und denen es hier theils an der Freiheit, theils aber auch an der Kraft und Entschlossenheit gebrach, hervorzutreten; von unseren Schriftstellern, unseren Poeten wurden jene Schlachten zum Voraus geschlagen, die ein halbes Menschenalter später die Welt mit Blut und Verwirrung und Untergang erfüllen sollten. Mit einem Worte: was die Literatur der Romantiker zu wenig gethan hatte, das that die Literatur der dreißiger und vierziger Jahre zu viel; sie begnügte sich nicht mehr blos der tönende Mund der Zeit zu sein, nein, sie machte sich zur Dienerin, ja zur Schmeichlerin ihrer unmittelbarsten Bedürfnisse; die Kunst galt wenig oder nichts, aber Alles die Tendenz, die unmittelbare, hausbackene, praktische Tendenz!
[512] Und jetzt nun, da der so geflissentlich, mit soviel Verwegenheit und Ausdauer vorbereitete Kampf wirklich ausgebrochen ist, da jene politischen und socialen Fragen, mit deren Beleuchtung und Verallgemeinerung die Literatur sich so viel Mühe gegeben, jetzt wirklich in ihrer praktischen Lösung begriffen sind, da die Feuersbrunst, zu welcher unsere Poeten das Holz so diensteifrig herbeigetragen, nun in der That in gewaltiger Lohe gen Himmel schlägt – welche Stellung zu diesen nicht mehr blos poetischen, nicht blos imaginären Kämpfen der Gegenwart nimmt die Literatur jetzt ein? Sie hat eine Menge von Stichwörtern in die Zeit geworfen, die unsere politischen Acteurs, große wie kleine, noch jetzt confus machen, eine Menge von Aufgaben gestellt, an denen unsere angehenden Staatsmänner sich noch auf lange hinaus die Zähne lahm beißen werden – was thut sie selbst, uns aus diesem Nothstand herauszuhelfen? Welden Antheil nimmt die Poesie noch an den Kämpfen, den Leiden der Gegenwart? Wo ist der Balsam, den sie in unsere Wunden, wo das Licht des Trostes, der Hoffnung, das sie in die Nacht unserer Verzweiflung gießt?
Nun, man braucht nur an den ersten, den besten Büchertisch zu treten, um die Antwort davon abzulesen: lauter allerliebste Büchelchen für die Nippestische unserer Damen! lauter Gold und Seide und süß lächelnde Stahlstich-Gesichterchen, so süß, daß einem ernsthaften Menschen oft recht bitter dabei zu Muthe wird! Unsere Literatur ist lange nicht so niedlich, so zierlich gewesen, als gerade in diesen Zeiten, wo die Faust der Gewalt so roh, so täppisch zwischen unsere edelsten Hoffnungen hineingeschlagen hat; die verrufene Taschenbuchsliteratur der zwanziger Jahre ist noch eine wahre Literatur der Folianten und des gelehrten Tiefsinns gegen die kokett sentimentale Leichtfertigkeit, deren unsere Poeten nach der Mode sich in neuester Zeit wiederum befleißigen. Wir bescheiden uns gern, daß es noch immer einige ernstshafte und würdige Ausnahmen von der allgemeinen Verwilderung giebt und eben so auch, daß diese Verwilderung selbst nicht sowohl die einzeln stehende und willkürliche Verirrung der Literatur selber, als vielmehr die nothwendige Folge ist jenes großen und allgemeinen Umschwungs, der mit dem Herbst acht und vierzig bei uns eingetreten ist und dem selbst wiederum die historische Nothwendigkeit nicht wohl bestritten werden kann. Allein das kann uns nicht hindern, die Thatsache als solche festzustellen – eine Thatsache, nach unserm Dafürhalten, die auch auf unsere nächste Zukunft noch ein höchst verhängnißvolles Licht fallen läßt. Ein Mensch kann schlecht sein, sehr schlecht: aber er wird nie ganz schlecht sein, so lange wenigstens seine Phantasie noch im Stande ist, zum Reinen und Würdigen sich zu erheben, so lange ihn noch, und sollte es nur auf Momente sein, eine Sehnsucht nach dem Höheren, Besseren beschleicht, so lange er wenigstens noch vor dem Namen der Tugend einige Ehrfurcht empfindet. Die Phantasie eines Zeitalters, sein besseres, idealisches Theil, ist seine Poesie; auch ein Volk kann vor vielen [513] falschen Götzen knieen, auch eine Nation kann sich zu Zeiten so weit vergessen, ihr Heil in der Knechtschaft statt in der Freiheit, in der satten Schande statt im ruhmvollen Untergange zu suchen – aber wehe ihrer Zukunft, wenn auch ihre Poesie anfängt, die erhabenen Namen der Freiheit und des Vaterlandes zu verlernen und auch der Mund ihrer Dichter nur noch Schweigen für die Wahrheit, für die Lüge des Tages aber Festgedichte, Siegeslieder und Dankeshymnen hat!
Gehört nun die jetzt so geflissentlich betriebene Erneuerung und Verbreitung des Volksliedes vielleicht derselben reactionären Strömung an? Volkslieder zu sammeln war eine Lieblingsbeschäftigung unserer Romantik – ist mit den übrigen Revenants unserer romantischen Epoche vielleicht auch das Volkslied wiederum aus seiner Gruft gestiegen, um den Lebenden Luft und Boden zu verkümmern? Das sind nicht mehr die fliegenden Blätter "gedruckt in diesem Jahr", das sind jetzt zum großen Theil ebenfalls höchst zierlich ausgestattete Bücher, mit Goldschnitt, in seidenem Deckel, ganz wie die neueste Mode es verlangt – ist, in dieser Zeit der allgemeinen Verderbniß und Entsittlichung, auch die Unschuld vom Lande liederlich geworden? ist auch das Volkslied herabgesunken zu einem bloßen Gegenstande buchhändlerischer Speculation, einem bloßen kaufmännischen Köder für den verzärtelten Geschmack des Publikums? Oder haben wir darin vielleicht im Gegentheil ein Heilmittel zu erkennen, das die krankgewordene Zeit sich selber reicht? Ist es der Vorbote, vielleicht sogar schon die Vorbereitung selbst zu einer neuen poetischen wie sittlichen Erhebung, was die vergessenen Lieder des Volks plötzlich zu einem Gegenstande allgemeiner Aufmerksamkeit, allgemeiner Vorliebe gemacht und ihnen, die bis dahin nur im Bücherwinkel des Gelehrten oder in der unsaubern Tasche des Handwerksburschen einen kümmerlichen Zufluchtsort fanden, plötzlich die goldenen Säle unserer Vornehmen, ja selbst die Moschus duftenden Boudoirs unserer Damen geöffnet hat?
Wir wenden uns, um die genügende Antwort auf diese Fragen zu erhalten, dahin, wo dieselbe allein gegeben werden kann, an die Geschichte; wir untersuchen die Beschaffenheiten der Zeiten, in denen das Volkslied schon früher bei uns, mittelbar oder unmittelbar, zur Geltung gekommen; wir prüfen, unter welchen Umständen und in welcher Veranlassung es geschehen und welche Wirkungen das Volkslied damals auf die Gesammtheit unserer Literatur ausgeübt hat.
Doch dürfen wir dabei freilich nicht mit allzuviel gelehrter Genauigkeit verfahren; wir würden sonst Gefahr laufen, unsere Leser in die ersten nebelhaften Anfänge unserer Literatur zu verlocken, in jenes so ungewisse wie unfruchtbare Gebiet, auf welchem selbst der Fuß des Kenners sich nur mit Mühe zurecht findet und das auch seiner angestrengtesten Forschung nur eine sehr kärgliche Ausbeute gewährt. Es genügt für unsern Zweck darauf hinzuweisen, daß die erste Form, in der die deutsche Literatur uns überhaupt entgegen tritt, oder richtiger gesagt, durch die wir von der Existenz ei[514]ner deutschen Literatur überhaupt erfahren, die Form des Volksliedes ist. Volkslieder waren jene Schlacht- und Kriegsgesänge, von denen wir bei Tacitus dunkle Erwähnung finden; Volkslieder jene historischen Gesänge, durch welche die alten Germanen das Andenken des Armin und anderer Stammeshelden feierten; Volkslieder endlich jene Thiersage, in der das ursprüngliche Wald- und Naturleben unserer ältesten Vorfahren sich auf so wundersame Weise widerspiegelt und deren tiefsinnig symbolische Weisheit noch von so viel späteren Jahrhunderten nicht hat erschöpft werden können.
Doch ist die Notiz von der Eristenz dieser Lieder in der That auch Alles, was wir von ihnen wissen und besitzen. Ja nicht einmal von ihrer Existenz wissen wir, sondern nur von ihrem Untergange. Das erste Schauspiel, welches die Literatur unseres Volkes uns bietet, ist der Kampf, und zwar der für den Augenblick siegreiche Kampf, welchen eine fremde, aufgedrungene Bildung gegen die ursprüngliche, volksthümliche führt. Das Christenthum, gestützt auf die kümmerlichen Reste, die es selbst von der römischen Bildung übrig gelassen, vermochte in der altgermanischen Volksthümlichkeit, in ihrer rohen Naturkraft und ihrem heidnisch starren Trotz, nur einen Feind zu erblicken, einen Feind, den es aller Orten angreifen, aus jeder Position verdrängen, aus jedem Schlupfwinkel aufstöbern mußte. Nirgends ruhen die Wurzeln einer Volksthümlichkeit so tief und so fest, als in der Sprache eines Volkes und seiner Poesie. Daher bildete auch die Sprache der alten Germanen und ihre Poesie die hauptsächlichsten Punkte, gegen welde die neue römisch-christliche Bildung ihre Angriffe richtete. Was die Sprache anbetraf, so war ihre Ausrottung freilich etwas Unmögliches. Man konnte sie auf alle Weise aus dem öffentlichen Verkehr verdrängen, man konnte die lateinische zur Hof- und Gerichtssprache erheben: aber der römisch gebildete Priester selbst bedurfte der Volkssprache, um sein Bekehrungswerk durchzusetzen; mitten zwischen den lateinischen Formeln und Gesängen des kirchlichen Ritus mußte ein Platz übrig bleiben für das gesprochene, das Allen verständliche, das deutsche Wort; dieselbe Kirche, die das germanische Wesen auf der einen Seite mit Feuer und Schwert so unerbittlich verfolgte, mußte ihm auf der andern wieder zur Freistatt dienen.
Desto heftiger erging die Verfolgungssucht der Kirche sich gegen die volksthümliche, oder was für jetzt noch gleichbedeutend war, die heidnische Poesie. Die alten Volkslieder wurden verpönt und verschrieen als Zauberlieder; die alten trotzigen Helden der Volkssage sollten den demüthig hinschmachtenden Gestalten der christlichen Legende, den Märtyrern und Heiligen weichen; statt der Lust an Gefahr und Kampf und Krieg, welche die alten Lieder feierten, sollte Gehorsam, Demuth, Entsagung die Herzen der Männer füllen. Noch jetzt liegt eine ganze Reihe von Concilienbeschlüssen und königlichen Verordnungen vor, deren zum Theil grausame Bestimmungen den [515] Beweis liefern für die Energie und Hartnäckigkeit, mit welcher die christliche Geistlichkeit in diesem Kampfe verfuhr. Die deutsche Poesie ist unter dem Scheermesser der Censur geboren, ja dieselbe hat kaum zu einer andern Zeit auf dem Haupte dieses jungen Simson mit solcher Schwere geruht, als da die Hand der Geistlichen den spröden, ungeberdigen Sohn der Wälder zum lateinisch plärrenden Kirchenknecht umzuschaffen suchte. –
Der Versuch gelang, wenigstens so weit er die Literatur betraf; die Reste der alten heidnischen Poesie verschwanden vor dem inquisitorischen Fanatismus der Kirche; sie flüchteten, sie verbargen sich in einzelne geheimnißvolle Wendungen, einzelne Namen und Sprichwörter, aus denen sie den gelehrten Forscher unserer Tage nur zuweilen noch anblicken, wie den Wüstenreisenden das starre, leblose Auge einer zertrümmerten Sphinx.
Man kennt den Verlauf, den unsere mittelalterliche Literatur nimmt, und der in genauester Uebereinstimmung steht mit den Epochen, in denen die deutsche Geschichte sich übrigens entwickelt. Der Herrschaft, welche in der ersten Hälfte des Mittelalters die Geistlichkeit über das Leben unserer Nation ausübt, entspricht die ausschließlich geistliche oder doch geistlich gefärbte Literatur der ersten Jahrhunderte. Auf die Geistlichen sodann folgen, als die eigentliche Blüthe des Mittelalters, sie selbst gleichsam ein weltlicher Mönchsorden, die Ritter; die ritterlichste Epoche unserer Geschichte, die Zeit der Hohenstaufen mit ihren Heerzügen, ihren Kriegen und Siegen ist zugleich auch die Blüthezeit unserer ritterlichen Dichtung, wie sie selbst wiederum das Höchste ist, was unserer mittelalterlichen Poesie zu erreichen vergönnt war. Wodurch aber ist sie das? Weil in ihr, der ritterlichen Dichtung, die Elemente des alten Volksgesangs wieder aufwachen; weil sie hier wieder Gestalt und Form gewinnen, die alten mythischen Helden der Vorzeit, die Sigfried, Dietrich, Etzel; weil die ritterlichen Sänger selbst aus den Prunkgemächern ihrer Burgen herabsteigen und unter und mit dem Volk die Weisen des Volks erlernen! So lange hatte das Gold des Volksgesangs sich verborgen, ähnlich jenem Nibelungenschatze, dem die Woge des Rheins gleichzeitig zum Sarg und zum Schutze dient; jetzt aber, in dieser Maienzeit, dieser eigentlichen sang- und klangreichen Festepoche unseres mittelalterlichen Lebens, jetzt steigt auch sie wieder aus der Nacht der Vergessenheit empor, sie giebt den Dichtern große Stoffe, lehrt sie den Ton treffen, der die Herzen des Volks entzündet, erweitert die Literatur einer einzelnen Kaste zur Literatur der Nation. –
Auf den Trümmern unserer königlichen Herrschaft und seines getreuesten Vorkämpfers, des Ritterthums, siedelt sich bekanntlich der Bienenfleiß unserer Bürger an; auf die großen mittelalterlichen Kriegshelden folgen die großen mittelalterlichen Kauf- und Handelsherrn, die friedlichen Helden von Nürnberg, Augsburg, Köln, die allerdings, wie das Beispiel der Hansa beweist, nach Gelegenheit und wo ihr Interesse es erforderte, auch recht kriegerisch [516] auftreten konnten. Mit dieser Hegemonie des politischen Lebens geht auch die Hegemonie der Dichtkunst in die Hände unserer Bürger über; auf die Epopöen und Liebeslieder unserer ritterlichen Dichter folgen die Reimchroniken und Verskünsteleien, die derben Schwänke und Späße unserer bürgerlichen Meistersänger.
Damit hatte denn der Stufengang unseres mittelalterlichen Lebens sich vollendet; die ständische Gliederung, die dem Mittelalter ebenso nothwendig und natürlich, wie ihre grillenhafte Nachahmung für die Gegenwart unpassend und verberblich ist, war damit durchgeführt bis zum Aeußersten – und ein neuer, ein gleichsam brachgelegter Boden harrte des großartigen Ereignisses, das schon am Horizonte unserer Zukunft dämmerte und mit dem eine neue Epoche nicht blos der deutschen, sondern der Weltgeschichte überhaupt beginnen sollte.
Dieses Ereigniß war die Reformation. In ihr zum erstenmal schmolz die ganze Nation zu Einer Masse, in Einem Interesse zusammen: freilich nur um sich gleich darauf um so tiefer, ja nach der Meinung Einiger für immer und unheilbar zu trennen. Die Reformation ist das erste Ereignis der Geschichte, das sich nicht mehr an einen einzelnen Stand, eine einzelne Kaste, sondern an die Nation im Ganzen wendet; der Begriff einer deutschen Nation selbst wird erst unter den Stürmen der Reformationszeit wach. Die sämmtlichen bisherigen Träger des deutschen Lebens mußten sich erst ausgelebt, mußten erst mit ihrer Asche das Feld gedüngt haben, aus dem die neue deutsche Geschichte emporblühen sollte, diese Geschichte, in deren erster unvollkommenster Hälfte wir selbst noch stehen, bevor das Volk als solches den Schauplatz betreten durfte.
Wie verhielt es sich nun aber mit der Literatur? Jede Zeit braucht so gut wie ihre Helden auch ihre Dichter, sie kann zu den Thaten des Schwertes auch die Thaten des Wortes nicht entbehren – welche poetischen Formen waren denn bereit den geistigen Inhalt dieser neuen Zeit aufzunehmen? wo waren die Dichter, die Künstler, die sich ihr zu Verkündern, zu Priestern, zu Propheten boten? Mit der politischen Geltung der bisherigen mittelalterlichen Kreise war auch die poetische Bedeutung, die poetische Fähigfeit derselben untergegangen, auch hier war reiner Tisch gemacht – wer wagte es also die Lücke auszufüllen? wo ist der Dichter, wo das Lied, das dem nahenden Tage der Reformation gleich dem Morgenstern voranwandelt und dessen wohlthätiger Glanz auch in der Mittagshitze des geschichtlichen Kampfes nicht verbleichen wird?
Das Volkslied ist es! Wie nach Zerbröckelung und Auflösung der bisherigen bevorrechteten Stände das Volk selbst, in seiner nationalen Gesammtheit, den Boden der Geschichte betritt, so fält auch die Dichtung, nach Auflösung und Zerbröckelung der bisherigen literarischen Kreise, in die Hände des Volkes als Gesammtheit zurück. Das Volkslied ist die eigent[517]liche Poesie des Reformationszeitalters; in ihm kommen alle jene männlichen und tapfern, jene zarten und innigen Empfindungen zu Worte, für welche der Meistergesang in seiner handwerksmäßigen Verknöcherung weder Ohr noch Auge besaß; gleich der Lerche bald im Blau des Himmels schwebend, bald zwischen Feldern und Gärten nistend, sieht und versteht es die großen Ereignisse der Geschichte, es sieht und feiert die Heldenfämpfe der Schweizer und der Dithmarsen – und sieht auch den verstohlenen Kuß des Liebenden, belauscht die Thräne des Einsamen, mischt sich in den Jubel der Zecher, schmettert hell auf im bacchischen Jubel der Tanzenden. Ja was bedarf es noch weiterer Beispiele, da ein einziges genügt? Das protestantische Kirchenlied, diese echt deutsche Schöpfung, der keine andere Nation etwas Aehnliches zur Seite zu setzen hat, und in der so viel edelstes Blut unseres Stammes fließt, ist, poetisch wie musikalisch, wesentlich aus der Wurzel unseres Volksliedes gewachsen. Der Löwe zeugt nur Ein Junges; so hat auch die Reformation nur Eine poetische Gattung ausgebildet, aber diese auch zur Meisterschaft – das Volkslied.
Aber die Reformation selbst scheiterte bekanntlich, lange bevor sie ihre Aufgabe erfüllt, sogar bevor sie sich derselben nur völlig bewußt geworden; noch wir in unserm vorgeschrittenen neunzehnten Jahrhundert haben nichts Größeres noch Dringenderes zu thun als die Arbeit der Reformation wieder aufzunehmen und sie ihrem endlichen Ziele zuzuführen. Wie die Reformation verkümmert und verdirbt, verkümmert und verdirbt mit ihr auch das nationale Leben – und mit dem Leben auch die Literatur. Nur Luther's Fehler vererben sich, nicht seine Tugenden. Statt des Einen Bischofs zu Rom, den die Protestanten nicht mehr anerkennen, erzeugen sie ganze Heerschaaren protestantischer Bischöfe, die jede Dorfkirche zu einem Stuhl Petri machen und ihren berühmten Collegen zu Rom an Herrschsucht, Eigensinn und Dünkel oft noch übertreffen; statt jener gebildeten und freisinnigen Gelehrten des Reformationszeitalters, jenen wahrhaften Humanisten, in denen nicht blos der Buchstabe, sondern auch der Geist des Alterthums wieder lebendig geworden war und die eben dadurch so wesentlich zum Ausbruch der Reformation selbst beigetragen hatten, wächst in unsern Schulen und Hörsälen ein dickköpfiges, pedantisches Geschlecht auf, das wiederum nur Pedanten und Dickköpfe erziehen kann und dessen groben Sinnen das Geheimniß griechischer Schönheit ewig unerforscht bleibt; statt der nationalen Einheit, welche das Auftreten der Reformation begleitet, scheidet die Nation sich tiefer und schroffer denn je, die Spaltung des mittelalterlichen Lebens wiederholt sich noch einmal und Gelehrte, Hofherren und Philister travestiren den Kreislauf, der sich in den Geistlichen, den Rittern und Bürgern des Mittelalters so nothwendig wie natürlich gestaltet hatte.
Auch dieser neue Kreislauf wird von der Literatur getheilt; der mittelalterlichen Poesie der Geistlichen, der Ritter und Meistersänger tritt von Aus[518]gang des sechszehnten bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts eine Poesie der Gelehrten, der Hofdichter und Philister an die Seite. Für die belebenden Wirkungen des Volksliedes ist unter diesen Umständen natürlich ebenfalls kein Raum mehr; ebenso jählings wie die Reformation abreißt, ebenso plötzlich verstummt auch der Volksgesang; wie die Reformation einerseits in Pfaffenthum, andererseits in Pedantismus verläuft, so artet auch das Volkslied einerseits in theologische Bänkelsängerei aus und wird andererseits verschüttet und begraben in dem Bücherstaub, den die neue gelehrte Dichtung, die Dichtung der Opitz, Gryphius, Lohenstein um sich her aufwühlt und mit dem sie das Auge der Nation verfinstert. Es ist interessant zu sehen, wie das Volkslied sich zur Wehr setzt gegen seine gelehrten Widersacher, bei denen dies als oberster Grundsatz feststeht, daß das sogenannte Volk nur Pöbel ist und daß wer nicht Latein und Griechisch versteht, auch keinen Vers machen kann. Zwar von dem allgemeinen Verfall des nationalen Lebens kann auch das Volkslied sich nicht ausschließen, es kann keine neuen Quellen der Dichtung springen lassen, wo der Strom des volksthümlichen Lebens selber versiegt ist; es kann sogar nicht hindern, daß es selbst abgeschmackt, roh und läppisch wird, genau so roh, abgeschmackt und läppisch, wie die Nation im Ganzen geworden war. Aber es greift den Feind auf seinem eigenen Gebiete an; kann das volksthümliche Lied die gelehrten Dichter nicht zwingen seine Sprache zu reden, wohlan, so bindet es sich selbst ein gelehrtes Mäntelchen um, setzt den Doctorhut auf und verbrämt sich mit lateinischen Titeln und Redensarten! Wir meinen erstlich die sogenannten Gesellschaftslieder, die sich, als eine eigene Gattung des Volksliedes, eine Misch- und Zwittergattung zwischen dem Volksliede und der gelehrt conventionellen Dichtung, seit Mitte des sechszehnten, besonders aber im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts entwickeln und über die uns seit Hoffmann von Fallersleben's Sammlung (Leipzig 1844) ein so bequemer Ueberblick verstattet ist. Zweitens und ganz vornehmlich aber meinen wir die Sammlungen von Volksliedern, die nun, je mehr das Volkslied selbst aus dem Leben wieder zurücktritt, um so eifriger betrieben werden und die in sehr bedeutender Anzahl von ungefähr der Mitte des sechszehnten bis in den Anfang des siebzehnten Jahrhunderts reichen: also genau bis in die Zeit, wo der Sieg der neuen gelehrten Dichtung durch Opitz vollendet und entschieden wird. Anfänglich überwiegt in diesen Sammlungen (deren Titel uns hier zu viel Raum kosten würde; wer neugierig darnach ist, findet das Wichtigste davon in Koch's Compendium I, 141, II, 84; auch in Guden's Chronologischen Tabellen I, 21 und sonst) das musikalische Element; mit der Zeit jedoch gewinnt das literargeschichtlich gelehrte, das eigentliche Sammlerinteresse, das bekanntlich kaum zu einer andern Zeit so in Blüthe stand wie damals, die Oberhand.
Vielleicht hält man uns hier die Frage entgegen, was alle diese Samm[519]lungen genützt und wozu sie gedient, da sie doch weder das Volkslied selbst haben lebendig erhalten, noch die tyrannische Alleinherrschaft der gelehrten Poesie haben verhindern können. Auf Schritt und Tritt nachweisen, was sie genützt, können wir freilich nicht; wenn man dagegen erwägt, daß diese Sammlungen auf Menschenalter hin (denn man war damals noch sehr mäßig im Bücherkaufen, schon ein Vorrath von wenigen Bänden galt als ein Schatz, der von Vater auf Sohn und Enkel vererbte) einen wesentlichen Bestandtheil unserer Familienlectüre bildeten, daß sie das weltliche Seitenstück waren zu dem geistlichen Gesangbuch, das mit Bibel und Kalender in keinem bürgerlichen Haushalt jener Tage fehlte, daß sie als Leseübung der Kinder, als Zeitvertreib der Jünglinge, als verstohlenes Ergötzen der Jungfrauen, als Erholung endlich der Männer und Würze ihrer geselligen Zusammenkunft dienten, so ist man vielleicht geneigt, den Werth derselben etwas höher anzuschlagen. Ja wir unserntheils nehmen keinen Anstand, der Existenz dieser Sammlungen nicht nur die einzelnen Anklänge an das Volksthümliche und wirklich Poetische zuzuschreiben, denen wir, wie sparsam immer bei Opitz und seinen Zeitgenossen begegnen: sondern wir sind auch überzeugt, daß die wenigen wahrhaften Poeten dieser Epoche, ein Flemming, ein Simon Dach, vor Allem aber ein Joh. Christ. Günther sich vornämlich an diesen Sammlungen herangebildet und in den Umgang mit ihnen jene Sprache des Herzens und der unmittelbaren Empfindung erlernt haben, die bei ihnen, wenn nicht überall, wenn nicht immer, doch wenigstens zuweilen, die angelernten Phrasen der Gelehrsamkeit durchbricht und die aus der übrigen Welt schon seit langem verschwunden war. Durften wir das Volkslied in der Verborgenheit, in welcher es in der ersten Hälfte des Mittelalters während der Herrschaft der geistlichen Dichtung sich erhält, mit dem Nibelungenhort vergleichen, über den die Woge des Rheins ihr flüssiges Gold dahin wälzt, so erinnert das Volkslied, eingefangen gleichsam und unter Schloß und Riegel gehalten von den gelehrten Sammlern dieser Zeit, uns an ein anderes Bild der deutschen Sage, das auch bereits von einem allverehrten und berühmten Dichter unserer Tage in ähnlichem Sinne gedeutet worden ist: es ist Dornröschen im gläsernen Sarge, die des Befreiers, des Erretters, des Bräutigams harrt.
Und wohlan denn, der Bräutigam kommt! In der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts beginnt ein zweiter Act unserer modernen Geschichte; die unduldsame, buchstabengläubige Religion der Theologen muß das Feld räumen vor der Religion der Humanität, die ihre siegreichen Fahnen in immer weitern und weitern Kreisen entfaltet; die bloße Gelehrsamkeit zerbricht wie eine todte Schale und der Adler der deutschen Wissenschaft prüft muthig den jungen Flügel; von Windelmann und Heyne gedeutet, wird das Geheimniß der antiken Schönheit noch einmal wieder lebendig unter uns; die neue deutsche Poesie schlägt die Augen auf – Goethe wird geboren.
[520] Und siehe da, in demselben Moment erwacht auch das Volkslied wieder und tritt hervor aus der unrühmlichen Verborgenheit, in der es so lange begraben lag. Aus demselben England, das uns in Shakespeare das Evangelium der neuen Zeit (Wieland'sche Uebersetzung desselben seit 1762) zugeschickt hatte, erhalten wir auch die Percysche Balladensammlung (Reliques of ancient Poetry, 1765); dieselben siebenziger Jahre, die den Götz und den Werther und Lenore und Nathan entstehen sehen, sehen auch die erste Sammlung von Volksliedern wieder ans Tageslicht treten; derselbe Herder, der Goethe den Homer und den Shakespeare verstehen lehrt, weckt auch durch seine Volkslieder (1778, 79; der Titel "Stimmen der Völker" ist erst später und stammt erst aus der Gesammtausgabe der Herderschen Werke von 1807) Geschmack und Verständniß der Zeit für die Schönheiten des Volksgesanges. Es wäre eine völlig nutzlose Mühe und hieße an der Bildung unserer Leser zweifeln, wollten wir hier erst noch im Einzelnen nachweisen, was jene Zeit der Wiedererweckung des Volksgesangs verdankt und welch ungemein wichtige Rolle dieselbe in der Entwicklung unserer classischen Dichtung spielt. Ist doch diese classische Dichtung selbst nur darum die classische, weil sich mit ihr in der gebildetsten, strengsten Form der lebendigste volksthümliche Inhalt, die größte Cultur mit der größten Einfalt verband – oder wie wir es auch ausdrücken können: weil in ihr Griechenland und Deutschland zusammentrafen und aufgingen zu einer höheren Einheit. Weder Homer mit all seiner anmuthvollen <Naivetät> noch Shakespeare mit all seiner fruchtbaren Erhabenheit hätten dazu allein ausgelangt, wenn nicht auch der Genius des Volksliedes an der Wiege der neuen Kunst gestanden, wenn nicht namentlich Goethe sein Ohr an dem leichten Fluß dieser Lieder, sein Herz an der Wahrheit, der Wärme und Treuherzigkeit ihrer Empfindung gebildet hätte. Wie Goethe überhaupt der eigentliche classische Repräsentant, der wahre Mensch und Dichter dieser Epoche ist, so wird auch der Einfluß des Volksliedes bei ihm am sichtbarsten. Man weiß, daß er es nicht verschmäht hat, selbst ganze vorhandene Volkslieder unter seine Gedichte aufzunehmen und mit dem Stempel seines Namens zu verherrlichen. Und ebenso ist es auch Allen im Gedächtniß, mit welcher Lebhaftigkeit er sich noch in späten Jahren für die verschiedenartigsten Sammlungen von Volksliedern interessirte und welchen beredten Fürsprecher und liebevollen Interpreten dieselben, von des Knaben Wunderhorn an bis auf Fauriel's neugriechische Volkslieder und die Sammlung der Frau Talvj (S. W. 46, 306.), an ihm besaßen.
Dergleichen Sammlungen sind nun, seitdem das Percy'sche Werk in England sowie das
Herdersche bei uns das Signal dazu gegeben, in außerordentlicher Anzahl erschienen,
namentlich auch in Deutschland. Ein junger ungarischer Gelehrter, der sich neuerlichst
durch seine Uebertragung ungarischer Gedichte einen guten Namen bei uns gegründet,
hat vor Kurzem auch den Versuch gemacht zu einer literargeschichtlichen oder genauer
gesagt, fürs Erste nur bibliographischen Zusammenstellung der in Deutschland
erschiene[521]nen Volksliedersammlungen: Volksliederquellen in der deutschen Literatur
von Kertbeny. Halle, Druck und Verlag von H. W. Schmidt. 1851. Der Sammlung fehlt
freilich, wie auch der Verfasser in der Vorrede selbst bekennt, noch viel, sehr
viel sogar, um vollständig zu sein; als ein erster Versuch indessen ist sie doch
immer recht dankenswerth und können wir sie denjenigen unserer Leser, die sich in
Kürze einen Ueberblick über den Umfang dieses Gebietes verschaffen wollen, zu diesem
Zweck recht wohl empfehlen. – Besonders eifrige Sammler waren, wie schon oben angedeutet,
die Romantiker;
das bekannte Werk von
Achim von Arnim und Brentano, des Knaben
Wunderhorn, das in den Jahren 1806-1808 zu Heidelberg erschien, hat in dieser
Hinsicht Epoche gemacht, besonders auch durch
die enthusiastische Anzeige, welche
Goethe in der Jenaischen Literatur-Zeitung davon erscheinen ließ. Doch waren sie
leider nicht blos sehr eifrige, sondern auch sehr flüchtige, sehr eigenwillige, ja
geradezu unzuverlässige Sammler; die Texte des Wunderhorns entbehren nicht nur
durchgängig aller kritischen Treue und Genauigkeit, sondern es findet sich auch
unter der Firma alter Volkslieder ein guter Theil von Gedichten darin, die, ganz
oder theilweise, niemand Geringeres zum Verfasser haben als – die Herausgeber und
ihre romantischen Freunde selbst!
Dergleichen Willkürlichkeiten (um es mit dem gelindesten Namen zu belegen) haben nun freilich mit der wachsenden Ausbildung der deutschen Alterthumswissenschaft und nachdem so gründliche Forscher wie Hoffmann von Fallersleben, Uhland, Soltau u. A. ihren Fleiß dem Volksliede zugewendet, aufhören müssen. Doch warten wir noch immer vergeblich auf die umfassende Sammlung, welche das bisher Gewonnene zu einem wenn auch nur vorläufigen Abschluß bringen und einen leidlich geordneten Ueberblick der vorhandenen Schätze gewähren möchte. Was Erlach in dieser Hinsicht in seinem großen fünfbändigen Werk (Mannheim 1834-1837) geliefert hat, ist dem größeren Theile nach nur eine sehr unverständige und unbesonnene Compilation. Selbst die so lange und mit so großer Sehnsucht erwartete Uhland'sche Sammlung (seit 1844) hat, in den beiden Theilen wenigstens, die bis jetzt vorliegen, die Hoffnungen, die man darauf gesetzt hatte, nicht ganz erfüllt. Es ist eine höchst schätzbare, durch den Reichthum ihrer Quellen und die gewissenhafte Benutzung derselben für den Literarhistoriker unentbehrliche Sammlung, das abschließende Werk jedoch, das man sich davon versprochen hatte, ist es ebenfalls noch nicht; auch fehlt noch der geschichtliche Commentar, der den Hauptvorzug dieses Werkes bilden und Geschmack wie Gelehrsamkeit des Herausgebers ohne Zweifel ins hellste Licht stellen wird. – Ja es kann sogar die Frage entstehen, ob zu jenem abschließenden Werk die Zeit überhaupt schon gekommen und ob es nicht besser gethan ist, sich auch jetzt noch immer nur auf einzelne locale Sammlungen oder auch auf einzelne Gattungen von Volksliedern, überhaupt auf bestimmte monographi[522]sche Gesichtspunkte zu beschränken. Wenigstens gehört das Beste, was auf diesem Gebiet in den letzten Jahren überhaupt erschienen ist, diesen letztern Gattungen an; so Hoffmann von Fallersleben's schlesische Volkslieder (Leipzig 1842), so die Sammlungen von Soltau (von 1836) und Körner (1840), die sich ausschließlich auf historische Lieder, Körner sogar nur auf Lieder des sechszehnten und siebenzehnten Jahrhunderts beschränken; so das vortreffliche Wert von Kretschmar und Zuccalmaglio: deutsche Volkslieder mit ihren Originalweisen, Berlin 1847, bei dem es weniger auf die Texte als auf die Melodieen abgesehen war etc.
Alle diese Werke nun erschienen im Lauf der dreißiger bis vierziger Jahre und fanden im Ganzen genommen beim Publikum – dem Publikum sagen wir, nicht den Gelehrten – nur eine ziemlich laue Aufnahme. Selbst das Uhland'sche Werk, das doch schon vor seinem Erscheinen (und mit Recht) als ein Nationalwerk angekündigt war, scheint nicht weit gedrungen zu sein; wir zweifeln stark, daß von je hundert Besitzern der Uhland'schen Gedichte auch nur ein einziger die Uhland'schen Volkslieder – wir sagen gar nicht gekauft, o nein, nur einmal in Händen gehabt hat. Wie kommt es denn – um die Frage wieder aufzunehmen, von der wir ursprünglich ausgingen – daß diese Verbreitung des Volksliedes sich nach der Revolution von acht und vierzig so plötzlich, so sichtbar vergrößert hat? Wie geht es zu, wodurch, erklärt es sich, daß eine Gattung von Büchern, die vor Kurzem noch den Fleiß des Gelehrten wie den Muth des Verlegers so wenig lohnte, jetzt auf einmal ein Gegenstand buchhändlerischer Speculation geworden, ja daß sie auf dem besten Wege ist, ein Modeartikel der Zeit zu werden? Ist das, wir wiederholen unsere Frage, Reaction? ist es Zufall? oder was ist es sonst?
Nein, es ist nicht Reaction, noch Zufall, noch auch die bloße Laune eines glücklich speculirenden Buchhändlers: sondern indem wir den Gang betrachten, den die Literatur des Volksliedes bisher bei uns genommen, sowie die Einwirkungen, welche dasselbe zu so wiederholten Malen und in so bedeutenden geschichtlichen Momenten auf die Gesammtentwicklung unserer Kunst geäußert hat, – so kann uns kein Zweifel darüber bleiben, daß auch jetzt wieder ein solcher kritischer Moment bei uns eingetreten ist und daß das Volkslied, das bereits zweimal zum Heiland unserer Poesie geworden, es auch zum drittenmale werden will! –
Was dieser Heiland in diesem Augenblicke uns soll? Er soll zuerst und vor Allem den Fluch der Tendenz von uns nehmen, der Tendenz, die nicht tief innen im Kunstwerk steckt, nicht mit ihm im selben Moment empfangen und geboren ist wie die Seele mit dem Leib, sondern ihm blos äußerlich angehängt und aufgeklebt ist. Auch das Volkslied ist nicht ohne Tendenz, das weiß Jeder, der auch nur einmal die allerleichtfertigste Sammlung zwischen den Fingern gehabt hat; sogar es hat gute Wege, daß unter all der [523] polemischen Lyrik unserer Zeit sich auch nur ein so bitteres, so eingefleischtes Tendenzlied befände als etwa das Sempachlied (von 1386) mit dem übermüthig schadenfrohen Refrain: "he sie sind ze tod erschlagen", oder das Spottlied "des von Ysenhofen" gegen die Eidgenossen (s. O. L. B. Wolff's histor. Volkslieder, Stuttg. 1830, S. 480)!
Aber diese Tendenz des Volksliedes ist, wenigstens in den besseren von ihnen, künstlerisch verarbeitet; es ist bei aller Tendenz noch immer wieder eine gewisse Naivetät, ein gewisser freier unabhängiger Humor darin, durch den der Dichter die Rechte der Kunst wahrnimmt, so wenig er auch vielleicht auf schulgerechte Weise von denselben, ja überhaupt nur von der Existenz einer Kunst zu sagen gewußt hätte.
Das Volkslied soll uns ferner befreien von der vielen unnöthigen und unpoetischen Gelehrsamkeit, die unsere moderne Lyrik mit sich schleppt und durch die sie wirklich einige Wahlverwandtschaft zeigt mit den Erzeugnissen der Opitz und Lohenstein. Der Poet soll es nicht mehr für nöthig halten, uns in jedem Liede, das er anstimmt, sofort sein gesammtes politisches und philosophisches Glaubensbekenntniß, und was er von der Erschaffung der Welt hält und von der Freihandelsfrage und dem Guano und dem directen oder indirecten Wahlrecht und so weiter – darzulegen; er soll auch nicht mehr mit jedem einzelnen Liede, das die Muse ihm bescheert, schnurstracks in die Unsterblichkeit laufen und über Nacht ein großer Dichter Deutschlands werden wollen: sondern er soll wieder lernen, harmlos und unbefangen dichten, sich und Anderen zur Freude, nicht weil er so will, sondern weil er so muß, wie die Lerche im Feld und ihre Schwester in der Literatur, das Volkslied, singen. Ja wohl singen – und so sollen unsere Poeten auch das sich wieder merken und sollen durch das Beispiel des Volksliedes auch wieder zu der Einsicht gelangen, daß das Lied zuerst und vor Allem dazu da ist gesungen zu werden; sie sollen die Stelzen einer unmusikalischen Rhetorik von sich werfen und den Muth haben wieder so zu singen, aber auch wirklich zu singen, einfach, natürlich und wahr, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.
Und endlich soll und wird auch das Publikum von den Volksliedern lernen die einfache, aber gesunde Kost der künstlich überwürzten Speise vorzuziehen; es soll und wird dahinter kommen, daß der poetische Genuß eben im Genuß, in der Hingabe besteht, nicht blos in der Kritik, und daß auch nur ein unbefangenes und unverbildetes Publikum unbefangene und unverbildete Dichter zu erzeugen im Stande ist. Uns Allen, wie wir da sind, Publikum wie Dichtern und Lesern wie Schriftstellern, thut nichts so noth, als aus der Uebercultur unserer verschrobenen und verzwickten Zustände zur Einfachheit und Wahrheit der Natur zurückzukehren; dazu wird unter Anderm auch der so plötzlich erwachte Geschmack am Volksliede das Seine bei[524]tragen, und können wir denselben daher nur mit herzlicher Freude als ein hoffnungsreiches und tröstendes Zeichen der Zeit begrüßen.
Und so wollen wir diese Gelegenheit denn gleich benutzen, unsere Leser hier schließlich
noch auf einige kürzlich erschienene Sammlungen von Volksliedern aufmerksam zu machen
und ihren Veranstaltern den Dank auszusprechen, der ihnen gebührt. Den Preis müssen
wir auch hier wieder einem Manne zuertheilen, dem man fast bei jedem Schritt begegnet,
welchen man in das Gebiet unserer ältern Literatur thut und der sich überall tüchtig
und fördersam, ein stets kundiger Führer, ein treuer Freund und Rathgeber, erweist:
Karl Simrock. Auch durch die kürzlich erschienenen Deutschen Volkslieder. Gesammelt
von Karl Simrock. Frankfurt a. M. Druck
und Verlag von Heinrich Ludwig Brönner 1851,
hat Herr Simrock der langen Reihe seiner literarischen Verdienste ein neues, höchst
dankenswerthes hinzugefügt. Die Sammlung ist hauptsächlich für das größere Publikum
bestimmt, wiewohl auch der gelehrte Forscher manches Schätzbare darin finden
wird, besonders in den hinzugefügten Anmerkungen, in denen über die Herkunft und
die etwaige literarische Verwandtschaft jedes einzelnen Liedes genaue Rechenschaft
ertheilt wird. Ganz besonders hat der Herausgeber es sich angelegen sein lassen,
den eigentlichen Begriff des Volksliedes, das heißt der aus dem Volke selbst
hervorgegangenen Lieder, im Gegensatz zu den von fremd her ins Volk übergegangenen,
den bloßen beliebten Liedern, wie er sie nennt, festzuhalten. Mit Recht darf er
auf diese Weise selbst von seinem Werke rühmen, daß eine Sammlung wie die
gegenwärtige, welche das Beste, was auf dem Felde des deutschen Volksliedes
erblüht ist, in einem Bande übersichtlich zusammenstellen und Alles ausscheiden
will, was der kunstmäßigen Dichtkunst angehört, in unserer Literatur bis jetzt noch
nicht vorhanden war. Mit Vorliebe hat er dabei aus der lebendigen Quelle des
Volksmundes gesammelt; ja wie in der Regel, wer da sucht, auch findet, so ist
auch er so glücklich gewesen, in seinem eigenen Hause am Menzenberg die besten
Sängerinnen echter Volkslieder anzutreffen, die er weit und breit hätte finden
können. Einer derselben, welche er die Menzenberger Nachtigall zu nennen pflegt,
verdankt er, nach seinem eigenen Bekenntniß, so viel Schönes, daß er der
Literaturgeschichte wenigstens den Namen dieser seltenen alten Frau hat erhalten
wollen: es ist Marie Cäcilie Rivelers, nach ihrem Manne genannt Heinemön, geboren
im März 1778. Die Mittheilungen dieser Alten geben dem Simrock'schen Buche einen
ganz eigenthümlichen Werth; es geschieht nicht häufig, daß das Volkslied uns in so
unmittelbarer Frische, so gleichsam noch von dem warmen Hauch des lebendigen Mundes
umschwebt, entgegengetragen wird. – Das Ganze ist in vier Bücher getheilt, deren
erstes dasjenige enthält, was wir Balladen und Romanzen zu nennen pflegen; das
zweite bringt Frühlings- und Liebes-, das dritte Standes-, Soldaten- und
historische Lieder, das vierte einen
ver[525]mischten Anhang. Die Gesammtzahl der mitgetheilten Lieder beläuft sich auf
fast vierhundert, von denen nicht wenige, mindestens in dieser Fassung, vollkommen
neu sind.
Mehr für die bloße Unterhaltung sind die Deutschen Volkslieder, gesammelt von Georg
Scherer, eingerichtet, die zu Leipzig, Verlag von Gustav Mayer 1850
erschienen sind.
Doch zeigt die Auswahl im Ganzen von gutem Geschmack und einer lobenswürdigen
Belesenheit; man wird nicht leicht etwas vermissen, was man hier mit Grund
erwarten darf, und stößt auch nur selten auf Einzelnes, das man als ungehörig
lieber entfernen möchte. Rechnen wir dazu die höchst zierliche Ausstattung,
welche der Verleger dem Büchlein mitgegeben hat, so können wir das Ganze seinem
Zweck, unsere Volkslieder in die Boudoirs unserer Damen einzuführen, nur
vollkommen angemessen finden und ihm nur jene weiteste Verbreitung wünschen,
zu der es so wohl geeignet ist.
Die Leser, welche Wolfgang Menzel's Gesänge der Völker. Lyrische Mustersammlung
in nationalen Parallelen. Leipzig, Verlag von Gustav Mayer 1850, voraussetzt,
sind allerdings schon etwas gelehrterer Natur. Das Werk soll sich den Herder'schen
Stimmen der Völker anschließen und sich dabei alle die Vortheile zu nutze machen,
welche die inzwischen so außerordentlich erweiterte Kenntniß der echten
Nationalgesänge gewährt. Von den übrigen lyrischen Sammelwerken der neuerern
Zeit unterscheidet es sich dadurch, daß es nur echte Nationallieder enthält
und zu denselben aus dem Bereiche der vornehmen und gelehrten Poesie nur solche
hinzufügt, die ihres volksthümlichen Inhalts und Tones wegen wirklich beim Volk
allgemein beliebt waren. Dabei hat der Verfasser zugleich Bedacht genommen auf
nationale Parallelen. Was er darunter versteht, darüber läßt er sich sogleich
selbst ausführlicher vernehmen; durch alle Völker und Zeiten, sagt er, gehen die
ewigen Gefühle der reinen Menschlichkeit in einer wunderbar übereinstimmenden
lyrischen Strömung hindurch, und es gewährt ein hohes Interesse zu entdecken,
wie man schon vor tausenden von Jahren im fernen Indien und China, Persien und
Hellas ebenso menschlich empfand, wie heute im gebildeten Europa. Je inniger aber
die Verwandtschaft der Grundgefühle in den Menschen, um so charakteristischer
treten die nationalen Unterschiede in der Form hervor. Deßwegen hat der Herausgeber
möglichst oft die verschiedenen nationalen Ausdrucksweisen desselben lyrischen
Gefühls vergleichend neben einander gestellt; namentlich also und in erster Stelle
die religiösen Hymnen, Gebete, Danklieder, sodann Nationallieder, Freiheits- und
Kriegsgesänge, ferner Liebeslieder, Romanzen und Balladen, denen sich
Frühlings- und ländliche Lieder, Gesänge häuslicher Arbeit, Freude und Trauer,
Lieder der Freundschaft und Geselligkeit, Trinklieder, Scherzlieder, endlich
Klage- und Grabgesänge anschließen. Man kann sich daraus ein Bild machen von dem
Reichthum und der
Mannig[526]faltigkeit des Inhalts. Wiewohl uns diese letztere, ehrlich gestanden,
mitunter sogar ein wenig zu weit geht; der Parallelismus, der dem Herrn Herausgeber
beliebt hat, bietet allerdings Gelegenheit zu mancherlei interessanten Vergleichen
und Combinationen, erzeugt jedoch im Uebrigen eine gewisse Buntschäckigkeit, die
keinen eigentlichen ästhetischen Genuß mehr aufkommen läßt, sondern nur jene
etwas abspannende Verwunderung, mit der wir etwa die tausend und einen Curiositäten
eines ethnographischen Cabinets in Augenschein nehmen. Und zwar ist dies hier um so
mehr der Fall, als auch die Bearbeitungen und Uebersetzungen, in welchen die fremden
Dichtungen uns mitgetheilt werden, von sehr ungleichem Werth und sehr verschiedener
Auffassung sind. Ganz freilich ließ dieser Uebelstand sich nicht vermeiden da dem
Herausgeber unmöglich zuzumuthen war, lauter neue und eigene Bearbeitungen zu
veranstalten; etwas Nachülfe indessen, durch die wenigstens eine annähernde
Einheit in den Principien der Bearbeitung herbeigeführt worden wäre, hätte wohl
eben nicht schaden können. –
Einen desto reineren Kunstgenuß gewährt ein anderes Büchlein, das aber freilich
auch schon den Namen eines unseres vorzüglichsten und gefeiertsten Dichters an der
Stirne trägt: Volkslieder aus Krain. Uebersetzt von Anastasius Grün. Leipzig,
Weidmann'sche Buchhandlung 1850. Die slavischen Völkerschaften, deren buntes
Gewimmel den östlichen Theil der österreichischen Monarchie erfüllt und deren
Mehrzahl für das übrige Europa gewissermaßen erst durch die politischen Stürme
des Jahres acht und vierzig entdeckt worden ist, haben das Interesse des
Publikums seitdem in hohem Grade gefesselt, in politischer sowohl wie namentlich
auch in literarischer Hinsicht. Auch die hier mitgetheilten Lieder werden dies
Interesse nur vermehren. Die Sprache, in der sie ursprünglich gedichtet worden,
ist die slovenische, auch krainische, wendische oder windische genannt, die
noch jetzt von der südwestlichen Slavenfamilie Europas, und zwar in ganz Krain,
sowie in den vormals zu Krain gehörigen Districten Istriens und des Küstenlandes,
in der untern Steiermark, einem Theile Kärnthens und einzelnen Grenzgebieten
Ungarns gesprochen wird. Ihren Inhalt bilden außer jenen Natur- und Liebesliedern,
die überall das vornehmste Eigenthum des Volksliedes sind, hauptsächlich die Kämpfe
und Kriegsthaten der Krainer Bevölkerung, und darunter am Meisten wieder ihre Kämpfe
gegen die Türken; neben dem Serbenhelden Marko, dessen abenteuerliche Gestalt zum
Theil auch in das Volkslied von Krain hinüberragt, hat dasselbe sich in dem König
Mathias (vielleicht ein poetisches Abbild des Ungarnkönigs Mathias Corvinus Hunyady)
einen eigenen fabelhaften Helden geschaffen, auf den es Alles überträgt, was es
von Tapferkeit, Kriegsruhm und ritterlicher Sitte kennt, ja dem es sogar die
geheimnißvolle Unsterblichkeit eines Friedrich Barbarossa oder König Artus
zuertheilt. – Die Uebersetzungen sind mit all der sprachlichen Meisterschaft
und all dem innigen poetischen Verständniß
[527] bearbeitet, welche den berühmten Urheber derselben auszeichnen und ihn
seit so Langem schon zu einem Lieblingsdichter der Natur gemacht haben; auch
durch die vorliegende Sammlung hat er nicht nur den Freunden der Literatur,
sondern auch seinen zahlreichen persönlichen Verehrern ein höchst angenehmes
Geschenk gemacht und dem Dichterkranz, der seinen Scheitel umblüht, ein neues
frischduftendes Reis hinzugefügt.
Endlich wollen wir hier noch zweier kleinen Schriftchen gedenken, die sich beide mit –
ja nun womit? mit dem "preußischen Volksliede" beschäftigen; da wir neuerdings
eine preußische Politik haben, die vom übrigen Deutschland nichts mehr wissen
will, so ist es allerdings ganz in der Ordnung, daß auch eine "eigene" preußische
Literatur, namentlich ein eignes "preußisches Volkslied" geschaffen wird.
Wiewohl wenigstens die eine dieser Schriften ihren Titel in der That nicht mit
besserem Rechte als das bekannte lucus a non lucendo führt: Zur Geschichte des
preußischen Volksliedes, mit einem Anhange von Liedern aus neuester Zeit von
Ludwig Frege. Berlin 1850. Druck und Verlag von A. W. Hayn. Das "preußische
Volkslied", um das es sich hier handelt, ist nicht mehr noch weniger als das
bekannte, von allen Drehorgeln zur Genüge abgespielte: Heil dir im Siegerkranz;
jedenfalls also ein Volkslied von sehr neuem Datum. Als Verfasser desselben wird
hier der "Doctor der Rechte, Balthasar Gerhard Schuhmacher, Senior der Vicarien
im hochwürdigen Hochstifte der freien Reichsstadt Lübeck", geb. im Jahre 1755,
nachgewiesen. Zuerst bekannt wurde es zu Berlin zu Ende des Jahres 1793, zu einer
Zeit, wo, wie Herr Frege meint, Friedrich Wilhelm der Zweite, der Liebling des
Volks, "wohl auch als sieggekrönter König" begrüßt werden konnte – während es uns
im Gedächtniß ist, als wäre der Feldzug in die Champagne damals schon gründlichst
verloren, auch der Friede zu Basel schon ziemlich nah in Anzug gewesen. Im Anhang
werden verschiedene Uebersetzungen und Bearbeitungen des: Heil dir im Siegerkranz
mitgetheilt, sowie einige specifisch patriotische Lieder der Neuzeit, darunter auch
eine mehr loyale als poetische Antwort auf Freiligrath's berühmtes: die Todten des
Friedrichhains. – Mehr Ausbeute gewährt die zweite
Sammlung: Preußische Soldatenlieder
und einige andere Volkslieder und Zeitgedichte aus dem Siebenjährigen Kriege und der
Campagne in Holland von 1787. Aus gleichzeitigen Einzel-Drucken und Fliegenden
Blättern herausgegeben von C. G. Kühn, Königl. Preuß. Kammergerichts-Rath,
Ritter des Rothen Adler-Ordens 4. Klasse, Mitglied der Numismatischen Gesellschaft
zu Berlin. Berlin. Verlag von Alerander Duncker, Königl. Hofbuchhändler. 1852.
Der Herausgeber hat es für überflüssig erachtet, etwas Genaueres über die von
ihm benutzten Quellen mitzutheilen; auch ist der Begriff des Volksliedes nicht
überall mit voller Strenge
festge[528]halten worden. Doch kann dies weder der Glaubwürdigkeit noch dem
Interesse seiner Mittheilungen Abbruch thun; es ist eben Soldatenpoesie, etwas
formlos, etwas platt zuweilen, aber überall frisch, derb und natürlich, voll
guten Humors, wie der Leser sich hoffentlich aus den nachstehenden Proben
überzeugen wird, mit denen wir ihn zum Abschied für die unerwünschte Trockenheit
dieser letzten Seiten zu entschädigen wünschen.
Und zwar wählen wir zuerst eine Probe aus dem "Kriegslied, die Schlacht von Zorndorf betreffend," von 1758; man überzeugt sich daraus, daß die entente cordiale zwischen der reußischen und preußischen Armee, die jetzt einen so wesentlichen Glaubensartikel der preußischen Politik und einen so festen Hoffnungsanker ihrer damaligen Stimmführer bildet, dazumal noch nicht allzugroß gewesen ist:
Ihr Rus'schen Mordbrenner
Wollt verwüsten unser Land,
G0tt aber hat es abgewandt,
Hat gelähmet eure Hand,
Ein Menschen-Schinder Du hier bist,
Solches gefällt dem Höchsten nicht.
Deine teuflische Kalmucken,
Cosacken und Dein ganzes Heer,
Elisabeth, die Du uns schickest,
Hier ins Brandenburg'sche ber,
Die wirst Du wenig schauen mehr,
Der Sand wird sie verzehren hier.
Viel tausend Deiner mörd'rischen Tartern
Liegen hier auf diesen Plan,
Die Preuschen Wafen thun sehr knattern,
Muscau es nicht gut bekam,
Allein es war des Höchsten Will',
GOtt selbst der war mit uns im Spiel.
Sodann aus der "Belagerung und Entsetzung der Festung Neyß, in einem Liede ausführlich beschrieben," von 1759; ein allerliebst niederländisches Stück, das uns den zähen Uebermuth des damaligen preußischen Soldaten vortrefflich vor Augen führt:
Harsch, de Ville und seine Geister,
Machen sich von Neyß nicht Meister;
So lang noch ein Preuße lebt,
Der vor Friedrichs Ehre strebt.
Ihren Pfif durchs Bombardiren,
Und ein stetes Kanoniren:
Seers ist wachsam und belacht,
Wenn der Feind Battrien macht.
Nun so wehrt euch wie Soldaten,
Last die alten Kühe braten:
Daß ihr neue Kräfte kriegt,
Wann ihr auf dem Walle liegt....
Zwar Harsch fängt an zu marschiren,
Will uns hie und da vixiren;
Aber Treskow der beschmeißt
Seine Masque und zerreißt
Grunkow kommt stets unberitten,
Mit erhabnen kleinen Schritten;
Weiß gepudert, nett friesiret,
Auf die Citadell spatziret....
Es ist wirklich nur zum Lachen,
Sich von Neyße Meister machen;
Mit ein Troupchen Cavallerie
Und sehr wenig Infanterie.....
Ja Harsch dachte die Canaillen,
Unsre Bürger die Racaillen,
Sollten ihm behülflich seyn.
Doch der Himmel sagte, nein. etc. etc.
[529] Endlich aus einem "Schreiben an Se. Königliche Majestät in Preußen von einem Lieutenant der Cavallerie, welcher bei Lobositz blessirt ward, und dessen Pferde und Bagage verloren gegangen," (Fliegendes Blatt von 1758). Der Unglückliche, von Sr. Majestät bereits verschiedene Male abgewiesen, wagt es endlich ein schriftliches Gesuch in "Knüttelvers" beim Könige einzureichen; er schildert darin, um das Herz des großen Monarchen zu erweichen, ausführlich, "wie sauer gebohren, wie dürftig er sei, wie vil der Herr Lieutnant noch schuldig dabey" – ein Klaglied Jeremiä bekanntlich, das auch noch heutzutage in den verschiedensten Modulationen fortgesungen und das daher um so eher, hoffen wir, die Theilnahme unserer Leser erwecken wird. Der Lieutenant spricht also von sich selbst:
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Er hatte nichts, mußte vom Anfang gleich borgen,
Sich, was er benöthigt, a Conto versorgen;
Krieg war es, drum wurde gar wenig bezahlt,
Nur Wechsel geschrieben und Nahmen gemahlt;
Ich wurde bald grünlich, bald röthlich, bald blaß,
Drei Pferde, ein Reitknecht, die kosten schon was,
Pistolen und Büchsen, dergleichen Geräthe,
Die kauft' ich aus Vorsicht mir auch nicht zu späte,
Geschweige was sonst den Beutel geleert,
Und doch ohnentbehrlich zur Wirthschaft gehört:
Zwei Hüthe , zwei Röcke, ein Mantel darzu,
Zwölf Strümpfe, zwölf Hembden, vier Stiefeln, zwei Schuh,
Camaschen und was sonst von Kupfer und Leder,
Es will mir nicht alles sogleich in die Feder,
Der Kragen am Halse, das Zeichen ins Feld,
Die Quaste am Degen, die Scharpfe kost Geld,
Ein Zelt, zwey Matratzen, ein Stühlchen hinein,
Dieß alles ist nöthig, dieß alles muß seyn.
Auch Teller und Löffel, auch Leuchter und Messer,
Das letzte vom Silber, je theurer je besser,
Auch Dosen und Uhren erfordert mein Stand,
Doch bin ich vor allem im Feld abgebrannt.
O! König, ich schreibe nicht alles daher;
Denn wirklich man brauchet wohl 50 mal mehr:
Es kostet mich 50 geborgte Ducaten.
Am Schluß des Gedichtes steht: "Nota: Hierauf hat der König dem Verfasser 500 Ducaten zahlen lassen." – Se non è vero, è ben trovato; das Geschichtchen bekommt dadurch erst seinen richtigen Schluß. Allein bei der bekannten Sparsamkeit des großen Königs fürchten wir sehr, diese fünfhundert Ducaten sind nur ein Mythus, für den es Herrn Kühn schwer fallen dürfte, ausreichende historische Gewährsmänner aufzustellen! –
Erstdruck und Druckvorlage
Deutsches Museum.
Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
Jg. 2, 1852, Nr. 7, 1. April, S. 511-529.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Deutsches Museum online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Deutsches_Museum_(Prutz)
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/010308807
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/003948951
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/217526-5
Deutsches Museum inhaltsanalytische Bibliographie
Alfred Estermann: Inhaltsanalytische Bibliographien deutscher Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts - IBDK.
Band 1; 2 Teile: Deutsches Museum (1851-1867).
München u.a. 1995.
Zeitschriften-Repertorien
Mit Änderungen aufgenommen in
Werkverzeichnis
Verzeichnisse
Büttner, Georg: Robert Prutz.
Ein Beitrag zu seinem Leben und Schaffen von 1816 bis 1842.
Diss. Greifswald 1912.
S. 164-168: Verzeichnis der in der Zeit von 1839 bis 1842 veröffentlichten Aufsätze und Kritiken.
[PDF]
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100865826
Klutentreter, Wilhelm: Die Rheinische Zeitung von 1842/1843 in der politischen und geistigen Bewegung des Vormärz.
2 Teile. Dortmund 1966 (= Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung, 10).
Teil 2, S. 187-224: Zusammenstellung und Dechiffrierung der Beiträge bedeutender Mitarbeiter
der Rheinischen Zeitung; hier: Prutz (S. 219-220).
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In: Internationales Germanistenlexikon, 1800 – 1950.
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Raabe, Paul u.a. (Bearb.): Deutsches Schriftsteller-Lexikon 1830 – 1880.
Bd. P-R. Berlin: De Gruyter 2014.
S. 262-275: Art. Prutz.
Prutz, Robert: Nicolaus Lenau. Eine Charakteristik.
In: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst.
Jg. 2, 1839:
Nr. 211, 3. September, Sp. 1684-1688
Nr. 212, 4. September, Sp. 1693-1696
Nr. 213, 5. September, Sp. 1702-1704
Nr. 214, 6. September, Sp. 1710-1712
Nr. 215, 7. September, Sp. 1718-1720
Nr. 216, 9. September, Sp. 1725-1728.
URL: http://www.ub.uni-koeln.de/cdm/search/collection/hallische
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000542560
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Nr. 224, 17. September, Sp. 1785-1790
Nr. 225, 18. September, Sp. 1793-1800
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In: Deutsches Museum.
Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
1852, Nr. 7, 1. April, S. 511-529.
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Prutz, Robert: Neue Schriften. Zur deutschen Literatur- und Kulturgeschichte.
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PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.hnxsmp
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Prutz, Robert: Neue Lyriker.
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1856, Nr. 7, 14. Februar, S. 244-249.
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/217526-5
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Prutz, Robert (Hrsg.): Deutsche Dichter der Gegenwart.
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Prutz, Robert:
Die deutsche Literatur der Gegenwart. 1848 bis 1858.
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URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10734488
PURL: https://hdl.handle.net/2027/osu.32435031074735
URL: https://books.google.com.bo/books?id=TlVUAAAAcAAJ
Prutz, Robert: Die deutsche Literatur der Gegenwart. 1848 bis 1858.
Bd. 2. Leipzig: Voigt & Günther 1859.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10814265
PURL: https://hdl.handle.net/2027/osu.32435031074735
URL: https://books.google.fr/books?id=RP49AAAAYAAJ
Prutz, Robert:
Ueber poetische Blumenlesen und Mustersammlungen.
In: Deutsches Museum.
Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
1859, Nr. 52, 22. Dezember, S. 929-938.
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/217526-5
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/010308807
Prutz, Robert: Ein Münchner Dichterbuch.
"Ein Münchner Dichterbuch. Herausgegeben von Emanuel Geibel."
(Stuttgart, Kröner).
In: Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
1862:
Nr. 34, 21. August, S. 289-299;
Nr. 35, 28. August, S. 331-337.
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/217526-5
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/003948951
Ungezeichnet.
[Prutz, Robert]: Hermann Marggraff. (Geboren 14. September 1809, gestorben 11. Februar 1864).
In: Deutsches Museum.
Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
1864, Nr. 10, 10. März, S. 337-352.
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/217526-5
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/010308807
Ungezeichnet.
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer