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Editionsbericht
Literatur: Köster
Literatur: Anthologie
[V] Die Die Organisirung von Real- und höhern Töchterschulen ist ein
Ergebniß der neuern Zeit. Für die Nothwendigkeit der erstern spricht
das Wort unserer bedeutendsten Pädagogen, die thätige Theilnahme und
Unterstützung der Regierungen, deren diese Schulen fast in allen Städten
Deutschlands, besonders aber Preußens, sich erfreuen, und die täglich
zunehmende Frequenz derselben. Und die wohlthätigen und segensreichen
Früchte dieser Anstalten, deren Hauptaufgabe ist, durch harmonische
Entwickelung und Ausbildung aller Geistesfähigkeiten die Jugend zu
jeder nützlichen Lebensthätigkeit und zu würdigen Mitgliedern der
Gesellschaft vorzubereiten, sind überall sichtbar: die Bildung,
welche früher als alleiniges Eigenthum des Gelehrten betrachtet wurde,
hat ihren Weg in alle Stände der Gesellschaft gefunden und wird so mit
jedem Tage allgemeiner, und ein gebildeter Mann ist nicht mehr nur der,
welcher Griechisch und Lateinisch versteht und eine Universität besucht
hat, sondern derjenige, sei er Gelehrter, Kaufmann oder Handwerker,
der, auf der Basis der Wissenschaft und Erfahrung fußend, klar in die
Verhältnisse und Erscheinungen der Zeit und des Lebens blickt und thätigen
Antheil nimmt an ihren Bewegungen. Doch nicht der Mann allein ist berufen,
an dieser allgemeinen Geistesentwickelung und ihren großen Resultaten
Theil zu nehmen: der Geist des Weibes zeigt eben so große Anlagen und
Fähigkeiten als der des Mannes, er ist also derselben Ausbildung fähig,
und wenn das Weib mehr sein soll als Haushälterin des Mannes, wenn es
die Freuden und Leiden des Gatten zu theilen bestimmt ist, so muß es auch
befähigt werden, an den geistigen Bedürfnissen und Bestrebungen desselben
Antheil nehmen zu können. Auch fühlt sich der wahrhaft gebildete Mann
nur wohl und glücklich an der Seite des gebildeten Weibes.
Die Erziehung
der Kinder ist hauptsächlich in die Hand der Mutter gelegt: sie bewegt
sich, wenn der Mann durch seinen Beruf in Anspruch genommen wird, im Kreise
der Familie; sie ist es, welche das erste Erwachen des kindlichen Geistes
belauscht, sie streut
[VI] den ersten Samen in das Herz der Kleinen. Und wer es weiß, wie
empfänglich dieser Boden ist, und wie nachhaltig die Eindrücke der Kindheit
und Jugend sind, der wird einsehen, wie wichtig die erste Erziehung und
Leitung des Kindes ist, und wie groß und erhaben der Beruf des Weibes,
den Grund zu all dem zu legen, was einst aus dem Geiste ihrer Kinder
emporblühen soll. – Alle großen Männer hatten an Geist und Herz bedeutende
Mütter. – Soll das Weib aber diesen Beruf, den die Natur selbst ihm
angewiesen hat, erfüllen, so müssen Geist und Gemüth desselben zu
möglichst hoher Ausbildung gebracht werden, woraus die Nothwendigkeit
von Bildungsanstalten hervorgeht, die nicht nur den Grundstein dazu
legen, sondern auch ein gutes Stück an dem schönen Gebäude aufführen
helfen. Und Anstalten, welche sich dieß herrliche Ziel gesteckt haben,
hat in größerer Ausdehnung erst die neuere Zeit bervorgerufen. Diese
Anstalten, wenn sie anders rechter Art sind, öffnen den Töchtern aller
Stände ihre Pforten und begnügen sich nicht mehr mit einem mechanischen
Dressiren derselben und einem geisttödtenden Einpfropfen von allerlei
Kenntnissen, ihr Ziel ist nicht mehr eine glänzende Parade zu Ende des
Schuljahres, wobei den eingeladenen und ob solder Wunder staunenden Eltern
durch künstliche oder nur durch die Geduld erzeugte Handarbeiten, an
denen oft die Lehrerin, oder durch Zeichnungen und Malereien, woran der
Lehrer das Beste gethan hat, Sand in die Augen gestreut wird: nein,
unsere Anstalten verabscheuen eine so elende Spiegelfechterei, deren
Hohlheit und Erbärmlichkeit ja doch über kurz oder lang sichtbar werden
muß, ihr Ziel ist ein anderes und höheres, sie wollen die in der
Mädchenseele und im Mädchenherzen schlummernden Anlagen wecken und zur
möglichsten Vollendung bringen, sie wollen den ganzen Geist, Verstand,
Herz, Gemüth und Charakter, des Mädchens bilden; daher betrachten sie die
Unterrichtsgegenstände, Wissenschaft und Sprache, nicht mehr als Zweck,
sondern als Mittel, den höchsten Zweck aller Erziehung, harmonische Bildung,
zu erreichen,
Aus dem bisher Gesagten könnte der Leser vermuthen, daß das vorliegende Werk nur für Mädchenschulen bestimmt sei. Dieß ist nicht der Fall, ich glaube vielmehr, das Buch so eingerichtet zu haben, daß es in jeder höbern Lehranstalt, sei sie Knaben- oder Mädchenschule, mit Nutzen gebraucht werden kann. Und wenn ich bis jetzt vorzugsweise über Mädchenschulen gesprochen habe, so leiteten mich andere Gründe. Ich gehöre dem Lehrerstande an und habe seit acht Jahren meine ganze Thätigkeit einer Mädchensdule gewidmet und mich in der oben besprochenen und weiter unten noch zu besprechenden Weise bemühet, den Anforderungen zu genügen, die ich an derartige Anstalten mache. Ich benutze daher nur die Gelegenheit, die sich mir hier darbietet, mich über das Eine und Andere, den Unterricht und die Erziehung des weiblichen Geschlechts betreffend, auszusprechen. Es gibt immer [VII] noch Leute, und nicht allein unter den Ungebildeten, welche die Erziehung des Weibes für Nebenfache halten, und denen nichts so zuwider ist als eine Frau, die mit Geist und Kenntniß über die Erscheinungen im Gebiete der Wissenschaft und Kunst etc. zu reden weiß. Und aus welchem Grunde? Leider oft aus einem sehr egoistischen: sie fürchten die Ueberlegenheit der gebildeten Frau, und es ist ihnen in ihrem Dünkel unerträglich, dieselbe, im Gefühl ihrer eigenen Unbedeutendbeit, wenn auch mit Widerstreben, anerkennen zu müssen. In ihrem Unmuthe brandmarken sie dann das gebildete Weib mit dem Spottnamen "gelehrte Frau", indem sie dasselbe mit jenen Carricaturen verwechseln, welche Einseitigkeit und Pedanterie, Eitelkeit und Verkennen ihrer Bestimmung zu allen Zeiten hervorgebracht haben, die aber eine harmonische Geistesbildung nicht entstehen lassen kann. Die wahrhaft gebildete Frau wird ohne Verdruß die geistreichste Lectüre aus der Hand legen, wenn die Pflichten der Hausfrau und Mutter sie davon abrufen. Doch genug davon. Mit der fortschreitenden Weltbildung, mit der wachsenden Humanität werden diese und andere Vorurtheile schwinden.
Unter den Lehrgegenständen, welche ganz
besonders eine harmonische Geistesbildung befördern, nimmt der Unterricht
in der vaterländischen Literatur, wenn nicht die erste, doch unstreitig
eine der ersten Stellen ein. Wie der Geschichtsunterricht sich nicht
darauf beschränken darf, den Schüler (Schülerin) die chronologischen
Tabellen auswendig lernen zu lassen, wozu es keines Lehrers bedarf,
oder ihn mit einer Menge von historischen Facten bekannt zu machen,
sondern den Zweck haben muß, ihm aus der historischen Erscheinung den
Entwickelungsgang eines Volkes und das moralische, scientive und
politische Fort- oder Rückschreiten desselben zu zeigen, oder umgekehrt,
aus dem moralischen, scientiven und politischen Standpunkte einer Nation
die einzelne historische Erscheinung zu erklären: eben so wenig darf
sich der Lehrer der Literaturgeschichte damit begnügen, seinen Schülern
die Namen der Schriftsteller und Dichter mit den betreffenden Jahreszahlen
und Büchertiteln einzuprägen, – ein todtes und nutzloses Wissen –
oder ihnen
eine bloße Kritik der Schriftsteller zu geben, – ein Verfahren,
das nur
eitle Sdwätzer bildet, – sondern seine Hauptwirksamkeit muß dahin gerichtet
sein, aus den Werken der großen Geister unserer Nation das mitzutheilen,
was zum Verständniß und zur Würdigung derselben nothwendig ist, und was
die harmonische Geistesbildung der Zöglinge befördern hilft. Und auf
welchem Felde ließen sich reichere Garben schneiden! Was die erhabensten
Geister der Nation aller Zeiten gedacht und gefühlt und in unvergänglichen
Werken der Kunst niedergelegt haben, das liegt dem einsichtsvollen
Lehrer zur Benutzung vor, und er darf nur hineingreifen in den reichen
Schatz und Perle um Perle daraus hervorziehen. Wenige Lehrer aber, und
vielleicht nicht Einer, sind im Besitze
[VIII] des ganzen Schatzes; und wären sie es, so erfordert die richtige
Auswahl aus demselben mehr Zeit, als dem Lebrer, den auch noch andere
Unterrichtsfächer in Anspruch nehmen, vergönnt ist. Aus diesem Grunde
sind von Männern, die von der hohen Wichtigkeit dieses Gegenstandes für
die Schule und von dem bedeutenden Einflusse desselben auf die Geistes-
und Herzensbildung der Jugend überzeugt sind, Sammelwerke veranstaltet
worden, die das enthalten, was die einzelnen Epochen der Literatur und
die Hauptträger derselben charakterisirt. Den ersten Rang unter diesen
Werken nehmen W. Wackernagels "Deutsches Lesebuch" und F. A. Pischons
"Denkmäler" ein, Werke, die das ganze Gebiet der Nationalliteratur im
Auszuge umfassen, und die in keiner Lehrerbibliothek fehlen sollten, wie
denn auch die Namen ihrer Herausgeber von jedem wahren Freunde der
Literatur mit dankbarer Verehrung genannt werden. In beiden Werken
sind die Schriftsteller und Dichter chronologisch geordnet, eine durchaus
nothwendige Anordnung, wenn sie als Basis für den Unterricht in der
Literaturgeschichte dienen sollen. Zweierlei aber steht der Einführung
dieser Sammlungen in Schulen im Wege: der bedeutende Umfang und der hohe
Preis. Weil nun, so viel ich weiß, keine Sammlung existirt, die den
angegebenen Zwecken durchaus entspricht, da P. Wackernagels "Auswahl
deutscher Gedichte", bei aller Vortrefflichkeit, der chronologischen
Anordnung ermangelt und nur als Grundlage für den Unterricht in der
Metrik dienen will: so habe ich die Herausgabe eines Buches unternommen,
das hoffentlich den Anforderungen entspricht, die man an ein Werk dieser
Art machen kann, und das ich hiermit den höhern Unterrichtsanstalten zur
Benutzung darbiete.
Der Zweck des Buches ist zum Theil schon im Obigen
ausgesprochen, ich habe daher nur noch einiges über die Einrichtung
desselben zu sagen. Die Proben, welche ich aus den früheren
Literaturepochen bis zum 16. Jahrhundert mitgetheilt habe, sind
größtentheils aus W. und P. Wackernagels und Pischons oben angeführten
Werken entlehnt. Ich hielt es nicht für Unrecht, da mir die Schätze der
ältern Literatur nur zum Theil zu Gebote standen, und da es mir nicht
einfällt, mein Buch neben die Werke dieser Männer zu stellen, ihre
Arbeiten zu meinen Zwecken zu benutzen. Der mitgetheilten Proben sind
nicht so viele, daß sie dem Leser eine umfassende Anschauung von dem
großen Garten der mittelalterlichen Poesie gewähren; meine Absicht war
auch nur, durch diese Bruchstücke den Entwickelungsgang der Muttersprache
zu zeigen. Doch habe ich aus der großen Anzabl der Minne- und Meistersänger
die bedeutendsten repräsentirt, von dem Volksliede, das, eben weil es
Volkslied ist, zu allen Zeiten fast auf derselben Stufe steht und dem
Schwanken der Kunst- und höfischen Poesie nicht unterliegt, so viel
mitgetheilt, überhaupt aus allen Perioden der mittelalterlichen Dichtung und
[IX] Prosa so viel gegeben, daß es dem einsichtsvollen Lehrer nicht schwer
sein wird, aus dem Gegebenen dem Schüler ein deutliches Bild, nicht nur
von der stufenweisen Entwickelung und Ausbildung der Muttersprache, sondern
auch von dem Gange der Literatur, ihrem Vor- und Rückschreiten zu
entwerfen. Um den Gebrauch dieser Abtheilung des Buches, auch für die
Privatbenutzung, zu erleichtern, habe ich den Gedichten etc. entweder eine
Uebersetzung, oder, wo dieß nicht mehr nöthig war, eine Worterklärung
beigegeben. Wo ich derartige Arbeiten vorfand, habe ich sie benutzt.
So ist das Hildebrandslied nebst der Uebersetzung aus P. Wackernagels
"Auswahl deutscher Gedichte", das Ludwigslied aus Pischons "Denkmälern"
abgedruckt. Daß ich die Bruchstücke aus dem Nibelungenliede, aus dem
Parzival und der Gudrun in der Uebersetzung gegeben habe, mag vielleicht
getadelt werden; ich that es, um zugleich die Aufmerksamkeit auf die
bedeutenden Bestrebungen zweier um die Literatur des Mittelalters
hochverdienter Männer, Simrocks und San-Marte's (Schulz) zu lenken.
Aus Tristan und Isolde im Original etwas mitzutheilen, schien bedenklich;
ich habe daher aus Immermanns herrlicher Bearbeitung dieses "zartesten
Minneepos" den schönsten Gesang, "die Jagd", S. 633 gegeben, um diesen
Dichter, dessen reinlyrische Gedichte unbedeutend sind, in seiner besten
poetischen Schöpfung würdig hinzustellen.
Zu der anscheinend ängstlichen Oekonomie in dem ersten Hauptabschnitte des Buches, von Ulphilas bis Luther, haben mich folgende Gründe bewogen: Keine Lehranstalt, sei sie Gymnasium, Real- oder höhere Töchterschule, hat Zeit genug, das Studium des Altdeutschen und Mittelhochdeutschen zum Unterrichtsgegenstande erheben zu können, es muß daher der Privatneigung und dem Privatfleiße überlassen bleiben. Außerdem ist das Interesse dieser der Gegenwart und ihren Bestrebungen und Anforderungen so fern liegenden Poesie, die, bei all ihrer Herrlichkeit, doch an einer gewissen Monotonie leidet, nicht groß genug, um Wichtigeres darüber zu versäumen und die Gegenwart über die ferne Vergangenheit zu beeinträchtigen. Die Romantik liegt hinter uns; und wenn es auch reizend ist, aus dem Gedränge der Gegenwart einen Augenblick uns in ihre duftenden Gärten und schattigen Lauben zu flüchten und dort den Lärm des Tages zu vergessen: so weckt die Zeit, die den Mann mit allen seinen Kräften verlangt, uns doch bald wieder aus dem süßen Traume und ruft uns an unsern Posten zurück. –
Die zweite Hauptperiode der Literatur, die Poesie von Luther bis Klopstock, die im 16. Jahrhundert, besonders im protestantischen Kirchenliede einen so hohen Aufschwung nimmt, um dann im 17., wenige vereinzelte Erscheinungen als A. Gryphius, Fleming, Spee, P. Gerhardt etc. ausgenommen, um so trauriger zu versinken und zu versanden, habe ich in ihren verschiedenen Richtungen entfaltet; und weil mein Zweck nicht war, eine Sammlung nur [X] schöner Gedichte zusammenzustellen: – daran ist kein Mangel – sondern den Weg zu zeigen, den unsere Nationalliteratur gegangen ist: so werden gewiß auch die elenden Reimtändeleien der Pegnitzschäfer, eines Harsdörffer S. 97, Klaj und Birken S. 98 und 99, etc. gerechtfertigt an ihrem Platze sein, weil mit gänzlicher Ausmerzung derartiger Erzeugnisse nur ein Bild ohne Schatten entstanden wäre. Die Prosa ist aus diesen und den folgenden Abschnitten ausgeschlossen, weil bei ihrer großartigen und eigenthümlichen Entwickelung kleine Bruchstücke, wie in den frühern Jahrhunderten, nicht genügen konnten. Ein zweiter Band, der baldigst dem vorliegenden folgen soll, wird in einer reichen und sorgfältigen Auswahl, so daß er in den höhern Klassen als Lesebuch benutzt werden kann, das große Gebiet der deutschen Prosa von Luther bis auf die Gegenwart zeigen.
Die beiden letzten Abschnitte, die poetische Literatur
von Klopstock an und die Lyrik der Gegenwart, sind am reichlichsten
bedacht worden. Diese Abtheilungen enthalten nämlich hauptsächlich jenen
großartigen und umfassenden Bildungsstoff für Geist, Herz und Gemüth der
Jugend, auf welchen ich in der ersten Hälfte der Vorrede hingewiesen habe.
Darum habe ich, hoffentlich ohne dem wissenschaftlichen Zwecke des Buches
Eintrag zu thun, neben den Gedichten, welche zur Charakteristik des
Dichters nothwendig waren, vorzugsweise solche Poesien ausgewählt,
welche den Geist kräftigen und erheben und dazu beitragen, eine tüchtige
Gesinnung zu erwecken und den Charakter zu festigen, indem sie Lüge,
Heuchelei, Schein und Halbbeit züchtigen und zu Ernst und Wahrhaftigkeit
in Gedanken, Wort und That anfeuern. Hieraus ist es zu erklären, warum von
manchen Dichtern, besonders von solchen, die zum Didaktischen hinneigen,
z. B. Rückert etc., andern, in ihrer Art vielleicht nicht minder bedeutenden
Lyrikern, z. B. Heine etc. gegenüber, unverhältnißmäßig viel aufgenommen
ist, und daß sich Dichter in der Sammlung befinden, von denen bis jetzt nur
wenige Gedichte in Musenalmanachen etc. bekannt geworden sind,
z. B. A. v. Sternberg, L. Braunfels etc. –
So streng ich in der Auswahl
der Gedichte, in Beziehung auf die erziehlichen und sittlichen Zwecke des
Buches, auch gewesen bin: so wird ein aufmerksamer Blick auf das Werk doch
zeigen, daß nicht kleinliche Aengstlichkeit und Pedanterie dabei
obgewaltet haben. Unverantwortlich scheint es mir, wenn Herausgeber
von Anthologien zum Schulgebrauch es sich herausnehmen, willkürlich und
oft zwecklos an den Gedichten zu ändern und, statt zu verbessern, den
Sinn des Gedichtes zerstören. Warum bat Herr Dr. Georg Karl Anton
Hülstett in seiner "Sammlung auserwählter Stücke etc" z. B.
in A. Grüns
schönem Gedichte "der treue Gefährte" den Vers "Ja selbst zum Liebchen
nahm ich ihn mit" abgeändert in "Ja selbst ins Schauspiel nahm ich ihn
mit", wodurch die Steigerung der Vertraulichkeit ganz vernichtet wird.
Warum
[XI] ließ er das Gedicht nicht lieber aus der Sammlung, wenn er glaubte,
der angeführte Vers könne nachtheilig auf die Jugend wirken? Gottlob,
unsere Jugend ist im Durchschnitt gut und unbefangen, und wo sie schon
verdorben ist, da kann ein so unschuldiger Vers nichts mehr verderben.
Wir selbst rauben der Jugend ihre ursprüngliche Unbefangenheit dadurch,
daß wir durch ängstliches Verheimlichen und durch gesuchte Umschreibung
an und für sich unsduldigen Dingen das Gepräge des Gefährlichen und
Schlimmen aufdrücken und dadurch die Neugier des Kindes wecken. Warum
setzt Hr. Dr. Hülstett ferner in Schwabs "Mahl zu Heidelberg" statt
"Der Bischof hält ein Fasten", wie das Original es hat, "Die Ritter
halten Fasten"? Glaubt er etwa dadurch die katholische Geistlichkeit zu
kränken? Oder weiß nicht jeder, der einen Blick in die Geschichte des
Mittelalters gethan hat, daß hohe Prälaten an der Spitze ihrer Schaaren
zur Fehde zogen? – Zu den angeführten Veränderungen könnte ein scheinbarer
Grund vorhanden gewesen sein, ganz zwedklos aber sind unter andern Raupachs
"Veilchenlied" und Tiecks "Zuversicht", was Hr. Hülstett Reiselied nennt,
entstellt. – Ich habe mir nur einmal eine Abänderung erlaubt, nämlich, nach
W. Wackernagels Vorgange, in einem der schönsten Gedichte
Th. Körners. Der
Ausdruck im Original konnte nicht bleiben, oder ich hätte das ganze Gedicht
weglassen müssen; auch hat der Sinn desselben im Ganzen durch die
Veränderung nicht gelitten. Wo aber in einem Gedichte, das nothwendig
aufgenommen werden mußte, Verse oder auch nur einzelne Ausdrücke vorkamen,
welche Anstoß hätten erregen können, da habe ich es vorgezogen, lieber ganze
Verse oder Strophen wegzulassen und solche Stellen durch Punkte anzudeuten,
als den Dichter durch willkürliches Ballhornisiren zu kränken.
Daß bei Göthe und Schiller die Auswahl so reichhaltig ausgefallen ist, wird bei der Bedeutsamkeit dieser beiden größten Dichter Deutschlands nicht auffallend sein. Sie mußten, obgleich sie in jedermanns Händen sind, in einem Werke, das sich die Aufgabe gestellt hat, ein deutliches Bild der poetischen Nationalliteratur zu geben, in jeder Richtung vertreten werden.
Das Buch enthält größtentheils vollständige Gedichte, und nur da
habe ich Bruchstücke aufgenommen, wo Hauptwerke eines Dichters, die ein
Schulbuch aus vielfachen Gründen nicht vollständig mittheilen kann, zur
Vervollständigung der Charakteristik desselben vorzuführen waren, z. B.
bei Lessing, Wieland, Herder, Voß, Goethe, Schiller etc. Und wenn es auch
zum Theil wahr ist, was H. Kurz in der Vorrede zu seinem "Handbuch der
poetischen Nationalliteratur der Deutschen" sagt: "Thun die Sammlungen,
welche uns mit so vielen Bruchstücken beschenken, wohl etwas Besseres,
als jener Reisende, der aus Griechenland ein Stückden Marmor brachte, um
an demselben die vortreffliche Architektur des Minerventempels
nachzuweisen?" so ist ein Theil des
[XII] Kunstwerkes doch besser als gar nichts. Und ist z. B. die erste
Scene aus Faust, oder Tells Monolog etc. im Verhältnis zum ganzen Gedicht
nicht mehr, als ein Stück Marmor im Verhältnis zum Minerventempel? Und
wenn der, welcher das Parthenon gesehen, uns eine plastische Beschreibung
von diesem erhabenen Werke griechischer Kunst entwirft und uns dann das
besagte Marmorstück zeigt, das freilich kein Stückchen sein darf, welches
der Reisende in der Westentasche davonträgt, sondern ein Theil des
Kunstwerks, z. B. ein Relief, und hinzufügt: "Seht, aus solchem Marmor
ist der Minerventempel erbauet, mit solchen Reliefs sind seine Wände
bekleidet: hier ein Stier, dort ein Pferd etc.: so werden wir uns schon
eine Vorstellung von der Herrlichkeit dieses Kunstwerks machen können
und uns damit begnügen müssen; denn nicht jeder kann nach Athen reisen und
mit eigenen Augen den Tempel der Minerva anstaunen. Muß sich doch auch
der Lehrer der Literaturgeschichte begnügen, aus größeren Dichtwerken
(Oberon, Faust, Wallenstein etc.) nur die bedeutendsten Gesänge oder Scenen
der Klasse mitzutheilen und die Lücken durch seinen Vortrag auszufüllen. –
Uebersetzungen sind mir da aufgenommen, wo der Einfluß einer fremden
Literatur auf die deutsche gezeigt werden mußte: so bei Rachel eine dem
Juvenal nachgebildete Satyre, bei Hagedorn die griechischen Skolien, bei
Herder die schottische und dänische Ballade, bei Bürger "der Kaiser und
der Abt", bei Rückert das persische Ghasel und die arabische Makame und
der Form wegen eine Uebersetzung aus dem Indischen von Fr. Schlegel etc.
Paul Gerhardts Passionslied "O Haupt voil Blut und Wunden etc." und
Herders "Cid" sind mehr als Uebersetzungen.
Was die Anordnung des Stoffes betrifft, so habe ich die chronologische gewählt; die Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts aber nicht nach der Erscheinungszeit ihrer Werke, sondern nach den Jahren ihrer Geburt geordnet, weil ich dem Gedächtniß der Schüler beim Unterricht in der Literaturgeschichte auf diese Weise zu Hülfe zu kommen glaubte. Habe ich darin geirrt, so bin ich gegen Belehrung nicht taub und werde begründete Zurechtweisungen in dieser wie in jeder andern Beziehung dankbar annehmen. Außerdem sind die von jedem Dichter mitgetheilten Proben nach den Dichtungsarten und Dichtungsformen geordnet, wie das erste Register sie angibt.
Da ein
Schulbuch, so viele Zwecke als möglich erreichen helfen muß, so habe ich
dafür gesorgt, daß mein Buch auch beim Unterricht in der Metrik und Poetik
zu Grunde gelegt werden kann; denn es sind darin, bis auf wenige, als
Charade, bouts-rimés und andere poetische Spielereien, alle Dichtungsarten
und Formen repräsentirt, und ich glaube nicht, daß in dieser Hinsicht
für den Schulbedarf etwas vermißt wird. Einige Formen, z. B. die Sestine
etc., die mir bei der Zusammenstellung entgangen waren, und die
[XIII] ich erst bei der Anfertigung des ersten Registers vermißte, habe
ich der Vollständigkeit wegen nachträglich hinzugefügt. Um den Gebrauch
des Buches in Schulen zu erleichtern, sind in diesem Register sämmtliche
Gedichte möglichst genau und sorgfältig nach Inhalt und Form geordnet. Ich
sage, möglichst genau; denn bei der unendlichen Mannichfaltigkeit, die
in der deutschen Poesie herrscht, da sie sich im Laufe der Zeit aller
Metra und Formen bemächtigt bat, ist es kaum möglich, dieß oder jenes
Gedicht Einer bestimmten Gattung zuzuweisen, es schwankt nach Inbalt oder
Form oft zwischen zwei und mehreren Dichtungsarten, und
es kann z. B. eine Ballade dem Inhalt nach Sage,
Legende, Erzählung etc. sein. Daher wird es nicht befremden, wenn der Leser
ein und dasselbe Gedicht unter verschiedenen Rubriken aufgeführt findet,
wie Goethe's "Zueignung" unter Lied und Allegorie, "Alexis und Dora" als
Elegie und Idylle, Wolfgang Müllers "Beethoven" als Lied und Hymne etc.
Wie der Titel des Buches es verspricht, habe ich die poetische Literatur bis auf die Gegenwart fortgeführt; denn das Werk schließt mit Proben aus A. Meißners und M. Hartmanns erst vor wenigen Tagen erschienenen Gedichten. Daß nicht alle Dichter der Gegenwart, – ihre Zahl ist legio – sondern nur die bedeutendsten in dem Buche einen Platz finden konnten, liegt wohl auf der Hand.
Die sinnstörenden Druckfehler, welche das Verzeichniß angibt, bitte ich vor dem Gebrauche des Buches zu verbessern; geringere Verstöße wird der Leser selbst auffinden und beseitigen.
Düsseldorf, den 2. September 1845.
H. Köster.
Druckvorlage
Heinrich Köster:
Die poetische Literatur der Deutschen von ihrem Beginn bis auf die Gegenwart,
in ausgewählten Beispielen chronologisch geordnet
für höhere Schulen und zum Selbstgebrauch.
Zweite Ausgabe. Mainz: Wirth 1851, S. V-XIII.
PURL: https://hdl.handle.net/2027/nyp.33433075759690
URL: https://archive.org/details/diepoetischelit00unkngoog
Bibliographie der deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 – 1914
Literatur: Köster
Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik.
In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
Hrsg. von Dieter Lamping.
2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.
Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches.
Frankfurt a.M. 2001 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1510).
Korte, Hermann u.a. (Hrsg.): "Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten".
Kanoninstanz Schule.
Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhunderts.
Frankfurt a.M. 2005 (= Siegener Schriften zur Kanonforschung, 1).
Krautwald, Barbara: Bürgerliche Frauenbilder im 19. Jahrhundert.
Die Zeitschrift "Der Bazar" als Verhandlungsforum weiblichen Selbstverständnisses.
Bielefeld 2021.
Pott, Sandra: Poetiken.
Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke.
Berlin u. New York. 2004.
Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860.
Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).
Zymner, Rüdiger: Funktionen der Lyrik.
Münster 2013.
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer