Heinrich Köster

 

Die poetische Literatur der Deutschen von ihrem Beginn bis auf die Gegenwart,
in ausgewählten Beispielen chronologisch geordnet für höhere Schulen und zum Selbstgebrauch

 

Vorrede.

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Köster
Literatur: Anthologie

 

[V] Die Die Organisirung von Real- und höhern Töchterschulen ist ein Ergebniß der neuern Zeit. Für die Nothwendigkeit der erstern spricht das Wort unserer bedeutendsten Pädagogen, die thätige Theilnahme und Unterstützung der Regierungen, deren diese Schulen fast in allen Städten Deutschlands, besonders aber Preußens, sich erfreuen, und die täglich zunehmende Frequenz derselben. Und die wohlthätigen und segensreichen Früchte dieser Anstalten, deren Hauptaufgabe ist, durch harmonische Entwickelung und Ausbildung aller Geistesfähigkeiten die Jugend zu jeder nützlichen Lebensthätigkeit und zu würdigen Mitgliedern der Gesellschaft vorzubereiten, sind überall sichtbar: die Bildung, welche früher als alleiniges Eigenthum des Gelehrten betrachtet wurde, hat ihren Weg in alle Stände der Gesellschaft gefunden und wird so mit jedem Tage allgemeiner, und ein gebildeter Mann ist nicht mehr nur der, welcher Griechisch und Lateinisch versteht und eine Universität besucht hat, sondern derjenige, sei er Gelehrter, Kaufmann oder Handwerker, der, auf der Basis der Wissenschaft und Erfahrung fußend, klar in die Verhältnisse und Erscheinungen der Zeit und des Lebens blickt und thätigen Antheil nimmt an ihren Bewegungen. Doch nicht der Mann allein ist berufen, an dieser allgemeinen Geistesentwickelung und ihren großen Resultaten Theil zu nehmen: der Geist des Weibes zeigt eben so große Anlagen und Fähigkeiten als der des Mannes, er ist also derselben Ausbildung fähig, und wenn das Weib mehr sein soll als Haushälterin des Mannes, wenn es die Freuden und Leiden des Gatten zu theilen bestimmt ist, so muß es auch befähigt werden, an den geistigen Bedürfnissen und Bestrebungen desselben Antheil nehmen zu können. Auch fühlt sich der wahrhaft gebildete Mann nur wohl und glücklich an der Seite des gebildeten Weibes. Die Erziehung der Kinder ist hauptsächlich in die Hand der Mutter gelegt: sie bewegt sich, wenn der Mann durch seinen Beruf in Anspruch genommen wird, im Kreise der Familie; sie ist es, welche das erste Erwachen des kindlichen Geistes belauscht, sie streut [VI] den ersten Samen in das Herz der Kleinen. Und wer es weiß, wie empfänglich dieser Boden ist, und wie nachhaltig die Eindrücke der Kindheit und Jugend sind, der wird einsehen, wie wichtig die erste Erziehung und Leitung des Kindes ist, und wie groß und erhaben der Beruf des Weibes, den Grund zu all dem zu legen, was einst aus dem Geiste ihrer Kinder emporblühen soll. – Alle großen Männer hatten an Geist und Herz bedeutende Mütter. – Soll das Weib aber diesen Beruf, den die Natur selbst ihm angewiesen hat, erfüllen, so müssen Geist und Gemüth desselben zu möglichst hoher Ausbildung gebracht werden, woraus die Nothwendigkeit von Bildungsanstalten hervorgeht, die nicht nur den Grundstein dazu legen, sondern auch ein gutes Stück an dem schönen Gebäude aufführen helfen. Und Anstalten, welche sich dieß herrliche Ziel gesteckt haben, hat in größerer Ausdehnung erst die neuere Zeit bervorgerufen. Diese Anstalten, wenn sie anders rechter Art sind, öffnen den Töchtern aller Stände ihre Pforten und begnügen sich nicht mehr mit einem mechanischen Dressiren derselben und einem geisttödtenden Einpfropfen von allerlei Kenntnissen, ihr Ziel ist nicht mehr eine glänzende Parade zu Ende des Schuljahres, wobei den eingeladenen und ob solder Wunder staunenden Eltern durch künstliche oder nur durch die Geduld erzeugte Handarbeiten, an denen oft die Lehrerin, oder durch Zeichnungen und Malereien, woran der Lehrer das Beste gethan hat, Sand in die Augen gestreut wird: nein, unsere Anstalten verabscheuen eine so elende Spiegelfechterei, deren Hohlheit und Erbärmlichkeit ja doch über kurz oder lang sichtbar werden muß, ihr Ziel ist ein anderes und höheres, sie wollen die in der Mädchenseele und im Mädchenherzen schlummernden Anlagen wecken und zur möglichsten Vollendung bringen, sie wollen den ganzen Geist, Verstand, Herz, Gemüth und Charakter, des Mädchens bilden; daher betrachten sie die Unterrichtsgegenstände, Wissenschaft und Sprache, nicht mehr als Zweck, sondern als Mittel, den höchsten Zweck aller Erziehung, harmonische Bildung, zu erreichen,

Aus dem bisher Gesagten könnte der Leser vermuthen, daß das vorliegende Werk nur für Mädchenschulen bestimmt sei. Dieß ist nicht der Fall, ich glaube vielmehr, das Buch so eingerichtet zu haben, daß es in jeder höbern Lehranstalt, sei sie Knaben- oder Mädchenschule, mit Nutzen gebraucht werden kann. Und wenn ich bis jetzt vorzugsweise über Mädchenschulen gesprochen habe, so leiteten mich andere Gründe. Ich gehöre dem Lehrerstande an und habe seit acht Jahren meine ganze Thätigkeit einer Mädchensdule gewidmet und mich in der oben besprochenen und weiter unten noch zu besprechenden Weise bemühet, den Anforderungen zu genügen, die ich an derartige Anstalten mache. Ich benutze daher nur die Gelegenheit, die sich mir hier darbietet, mich über das Eine und Andere, den Unterricht und die Erziehung des weiblichen Geschlechts betreffend, auszusprechen. Es gibt immer [VII] noch Leute, und nicht allein unter den Ungebildeten, welche die Erziehung des Weibes für Nebenfache halten, und denen nichts so zuwider ist als eine Frau, die mit Geist und Kenntniß über die Erscheinungen im Gebiete der Wissenschaft und Kunst etc. zu reden weiß. Und aus welchem Grunde? Leider oft aus einem sehr egoistischen: sie fürchten die Ueberlegenheit der gebildeten Frau, und es ist ihnen in ihrem Dünkel unerträglich, dieselbe, im Gefühl ihrer eigenen Unbedeutendbeit, wenn auch mit Widerstreben, anerkennen zu müssen. In ihrem Unmuthe brandmarken sie dann das gebildete Weib mit dem Spottnamen "gelehrte Frau", indem sie dasselbe mit jenen Carricaturen verwechseln, welche Einseitigkeit und Pedanterie, Eitelkeit und Verkennen ihrer Bestimmung zu allen Zeiten hervorgebracht haben, die aber eine harmonische Geistesbildung nicht entstehen lassen kann. Die wahrhaft gebildete Frau wird ohne Verdruß die geistreichste Lectüre aus der Hand legen, wenn die Pflichten der Hausfrau und Mutter sie davon abrufen. Doch genug davon. Mit der fortschreitenden Weltbildung, mit der wachsenden Humanität werden diese und andere Vorurtheile schwinden.

Unter den Lehrgegenständen, welche ganz besonders eine harmonische Geistesbildung befördern, nimmt der Unterricht in der vaterländischen Literatur, wenn nicht die erste, doch unstreitig eine der ersten Stellen ein. Wie der Geschichtsunterricht sich nicht darauf beschränken darf, den Schüler (Schülerin) die chronologischen Tabellen auswendig lernen zu lassen, wozu es keines Lehrers bedarf, oder ihn mit einer Menge von historischen Facten bekannt zu machen, sondern den Zweck haben muß, ihm aus der historischen Erscheinung den Entwickelungsgang eines Volkes und das moralische, scientive und politische Fort- oder Rückschreiten desselben zu zeigen, oder umgekehrt, aus dem moralischen, scientiven und politischen Standpunkte einer Nation die einzelne historische Erscheinung zu erklären: eben so wenig darf sich der Lehrer der Literaturgeschichte damit begnügen, seinen Schülern die Namen der Schriftsteller und Dichter mit den betreffenden Jahreszahlen und Büchertiteln einzuprägen, – ein todtes und nutzloses Wissen – oder ihnen eine bloße Kritik der Schriftsteller zu geben, – ein Verfahren, das nur eitle Sdwätzer bildet, – sondern seine Hauptwirksamkeit muß dahin gerichtet sein, aus den Werken der großen Geister unserer Nation das mitzutheilen, was zum Verständniß und zur Würdigung derselben nothwendig ist, und was die harmonische Geistesbildung der Zöglinge befördern hilft. Und auf welchem Felde ließen sich reichere Garben schneiden! Was die erhabensten Geister der Nation aller Zeiten gedacht und gefühlt und in unvergänglichen Werken der Kunst niedergelegt haben, das liegt dem einsichtsvollen Lehrer zur Benutzung vor, und er darf nur hineingreifen in den reichen Schatz und Perle um Perle daraus hervorziehen. Wenige Lehrer aber, und vielleicht nicht Einer, sind im Besitze [VIII] des ganzen Schatzes; und wären sie es, so erfordert die richtige Auswahl aus demselben mehr Zeit, als dem Lebrer, den auch noch andere Unterrichtsfächer in Anspruch nehmen, vergönnt ist. Aus diesem Grunde sind von Männern, die von der hohen Wichtigkeit dieses Gegenstandes für die Schule und von dem bedeutenden Einflusse desselben auf die Geistes- und Herzensbildung der Jugend überzeugt sind, Sammelwerke veranstaltet worden, die das enthalten, was die einzelnen Epochen der Literatur und die Hauptträger derselben charakterisirt. Den ersten Rang unter diesen Werken nehmen W. Wackernagels "Deutsches Lesebuch" und F. A. Pischons "Denkmäler" ein, Werke, die das ganze Gebiet der Nationalliteratur im Auszuge umfassen, und die in keiner Lehrerbibliothek fehlen sollten, wie denn auch die Namen ihrer Herausgeber von jedem wahren Freunde der Literatur mit dankbarer Verehrung genannt werden. In beiden Werken sind die Schriftsteller und Dichter chronologisch geordnet, eine durchaus nothwendige Anordnung, wenn sie als Basis für den Unterricht in der Literaturgeschichte dienen sollen. Zweierlei aber steht der Einführung dieser Sammlungen in Schulen im Wege: der bedeutende Umfang und der hohe Preis. Weil nun, so viel ich weiß, keine Sammlung existirt, die den angegebenen Zwecken durchaus entspricht, da P. Wackernagels "Auswahl deutscher Gedichte", bei aller Vortrefflichkeit, der chronologischen Anordnung ermangelt und nur als Grundlage für den Unterricht in der Metrik dienen will: so habe ich die Herausgabe eines Buches unternommen, das hoffentlich den Anforderungen entspricht, die man an ein Werk dieser Art machen kann, und das ich hiermit den höhern Unterrichtsanstalten zur Benutzung darbiete.

Der Zweck des Buches ist zum Theil schon im Obigen ausgesprochen, ich habe daher nur noch einiges über die Einrichtung desselben zu sagen. Die Proben, welche ich aus den früheren Literaturepochen bis zum 16. Jahrhundert mitgetheilt habe, sind größtentheils aus W. und P. Wackernagels und Pischons oben angeführten Werken entlehnt. Ich hielt es nicht für Unrecht, da mir die Schätze der ältern Literatur nur zum Theil zu Gebote standen, und da es mir nicht einfällt, mein Buch neben die Werke dieser Männer zu stellen, ihre Arbeiten zu meinen Zwecken zu benutzen. Der mitgetheilten Proben sind nicht so viele, daß sie dem Leser eine umfassende Anschauung von dem großen Garten der mittelalterlichen Poesie gewähren; meine Absicht war auch nur, durch diese Bruchstücke den Entwickelungsgang der Muttersprache zu zeigen. Doch habe ich aus der großen Anzabl der Minne- und Meistersänger die bedeutendsten repräsentirt, von dem Volksliede, das, eben weil es Volkslied ist, zu allen Zeiten fast auf derselben Stufe steht und dem Schwanken der Kunst- und höfischen Poesie nicht unterliegt, so viel mitgetheilt, überhaupt aus allen Perioden der mittelalterlichen Dichtung und [IX] Prosa so viel gegeben, daß es dem einsichtsvollen Lehrer nicht schwer sein wird, aus dem Gegebenen dem Schüler ein deutliches Bild, nicht nur von der stufenweisen Entwickelung und Ausbildung der Muttersprache, sondern auch von dem Gange der Literatur, ihrem Vor- und Rückschreiten zu entwerfen. Um den Gebrauch dieser Abtheilung des Buches, auch für die Privatbenutzung, zu erleichtern, habe ich den Gedichten etc. entweder eine Uebersetzung, oder, wo dieß nicht mehr nöthig war, eine Worterklärung beigegeben. Wo ich derartige Arbeiten vorfand, habe ich sie benutzt. So ist das Hildebrandslied nebst der Uebersetzung aus P. Wackernagels "Auswahl deutscher Gedichte", das Ludwigslied aus Pischons "Denkmälern" abgedruckt. Daß ich die Bruchstücke aus dem Nibelungenliede, aus dem Parzival und der Gudrun in der Uebersetzung gegeben habe, mag vielleicht getadelt werden; ich that es, um zugleich die Aufmerksamkeit auf die bedeutenden Bestrebungen zweier um die Literatur des Mittelalters hochverdienter Männer, Simrocks und San-Marte's (Schulz) zu lenken. Aus Tristan und Isolde im Original etwas mitzutheilen, schien bedenklich; ich habe daher aus Immermanns herrlicher Bearbeitung dieses "zartesten Minneepos" den schönsten Gesang, "die Jagd", S. 633 gegeben, um diesen Dichter, dessen reinlyrische Gedichte unbedeutend sind, in seiner besten poetischen Schöpfung würdig hinzustellen.

Zu der anscheinend ängstlichen Oekonomie in dem ersten Hauptabschnitte des Buches, von Ulphilas bis Luther, haben mich folgende Gründe bewogen: Keine Lehranstalt, sei sie Gymnasium, Real- oder höhere Töchterschule, hat Zeit genug, das Studium des Altdeutschen und Mittelhochdeutschen zum Unterrichtsgegenstande erheben zu können, es muß daher der Privatneigung und dem Privatfleiße überlassen bleiben. Außerdem ist das Interesse dieser der Gegenwart und ihren Bestrebungen und Anforderungen so fern liegenden Poesie, die, bei all ihrer Herrlichkeit, doch an einer gewissen Monotonie leidet, nicht groß genug, um Wichtigeres darüber zu versäumen und die Gegenwart über die ferne Vergangenheit zu beeinträchtigen. Die Romantik liegt hinter uns; und wenn es auch reizend ist, aus dem Gedränge der Gegenwart einen Augenblick uns in ihre duftenden Gärten und schattigen Lauben zu flüchten und dort den Lärm des Tages zu vergessen: so weckt die Zeit, die den Mann mit allen seinen Kräften verlangt, uns doch bald wieder aus dem süßen Traume und ruft uns an unsern Posten zurück. –

Die zweite Hauptperiode der Literatur, die Poesie von Luther bis Klopstock, die im 16. Jahrhundert, besonders im protestantischen Kirchenliede einen so hohen Aufschwung nimmt, um dann im 17., wenige vereinzelte Erscheinungen als A. Gryphius, Fleming, Spee, P. Gerhardt etc. ausgenommen, um so trauriger zu versinken und zu versanden, habe ich in ihren verschiedenen Richtungen entfaltet; und weil mein Zweck nicht war, eine Sammlung nur [X] schöner Gedichte zusammenzustellen: – daran ist kein Mangel – sondern den Weg zu zeigen, den unsere Nationalliteratur gegangen ist: so werden gewiß auch die elenden Reimtändeleien der Pegnitzschäfer, eines Harsdörffer S. 97, Klaj und Birken S. 98 und 99, etc. gerechtfertigt an ihrem Platze sein, weil mit gänzlicher Ausmerzung derartiger Erzeugnisse nur ein Bild ohne Schatten entstanden wäre. Die Prosa ist aus diesen und den folgenden Abschnitten ausgeschlossen, weil bei ihrer großartigen und eigenthümlichen Entwickelung kleine Bruchstücke, wie in den frühern Jahrhunderten, nicht genügen konnten. Ein zweiter Band, der baldigst dem vorliegenden folgen soll, wird in einer reichen und sorgfältigen Auswahl, so daß er in den höhern Klassen als Lesebuch benutzt werden kann, das große Gebiet der deutschen Prosa von Luther bis auf die Gegenwart zeigen.

Die beiden letzten Abschnitte, die poetische Literatur von Klopstock an und die Lyrik der Gegenwart, sind am reichlichsten bedacht worden. Diese Abtheilungen enthalten nämlich hauptsächlich jenen großartigen und umfassenden Bildungsstoff für Geist, Herz und Gemüth der Jugend, auf welchen ich in der ersten Hälfte der Vorrede hingewiesen habe. Darum habe ich, hoffentlich ohne dem wissenschaftlichen Zwecke des Buches Eintrag zu thun, neben den Gedichten, welche zur Charakteristik des Dichters nothwendig waren, vorzugsweise solche Poesien ausgewählt, welche den Geist kräftigen und erheben und dazu beitragen, eine tüchtige Gesinnung zu erwecken und den Charakter zu festigen, indem sie Lüge, Heuchelei, Schein und Halbbeit züchtigen und zu Ernst und Wahrhaftigkeit in Gedanken, Wort und That anfeuern. Hieraus ist es zu erklären, warum von manchen Dichtern, besonders von solchen, die zum Didaktischen hinneigen, z. B. Rückert etc., andern, in ihrer Art vielleicht nicht minder bedeutenden Lyrikern, z. B. Heine etc. gegenüber, unverhältnißmäßig viel aufgenommen ist, und daß sich Dichter in der Sammlung befinden, von denen bis jetzt nur wenige Gedichte in Musenalmanachen etc. bekannt geworden sind, z. B. A. v. Sternberg, L. Braunfels etc. – So streng ich in der Auswahl der Gedichte, in Beziehung auf die erziehlichen und sittlichen Zwecke des Buches, auch gewesen bin: so wird ein aufmerksamer Blick auf das Werk doch zeigen, daß nicht kleinliche Aengstlichkeit und Pedanterie dabei obgewaltet haben. Unverantwortlich scheint es mir, wenn Herausgeber von Anthologien zum Schulgebrauch es sich herausnehmen, willkürlich und oft zwecklos an den Gedichten zu ändern und, statt zu verbessern, den Sinn des Gedichtes zerstören. Warum bat Herr Dr. Georg Karl Anton Hülstett in seiner "Sammlung auserwählter Stücke etc" z. B. in A. Grüns schönem Gedichte "der treue Gefährte" den Vers "Ja selbst zum Liebchen nahm ich ihn mit" abgeändert in "Ja selbst ins Schauspiel nahm ich ihn mit", wodurch die Steigerung der Vertraulichkeit ganz vernichtet wird. Warum [XI] ließ er das Gedicht nicht lieber aus der Sammlung, wenn er glaubte, der angeführte Vers könne nachtheilig auf die Jugend wirken? Gottlob, unsere Jugend ist im Durchschnitt gut und unbefangen, und wo sie schon verdorben ist, da kann ein so unschuldiger Vers nichts mehr verderben. Wir selbst rauben der Jugend ihre ursprüngliche Unbefangenheit dadurch, daß wir durch ängstliches Verheimlichen und durch gesuchte Umschreibung an und für sich unsduldigen Dingen das Gepräge des Gefährlichen und Schlimmen aufdrücken und dadurch die Neugier des Kindes wecken. Warum setzt Hr. Dr. Hülstett ferner in Schwabs "Mahl zu Heidelberg" statt "Der Bischof hält ein Fasten", wie das Original es hat, "Die Ritter halten Fasten"? Glaubt er etwa dadurch die katholische Geistlichkeit zu kränken? Oder weiß nicht jeder, der einen Blick in die Geschichte des Mittelalters gethan hat, daß hohe Prälaten an der Spitze ihrer Schaaren zur Fehde zogen? – Zu den angeführten Veränderungen könnte ein scheinbarer Grund vorhanden gewesen sein, ganz zwedklos aber sind unter andern Raupachs "Veilchenlied" und Tiecks "Zuversicht", was Hr. Hülstett Reiselied nennt, entstellt. – Ich habe mir nur einmal eine Abänderung erlaubt, nämlich, nach W. Wackernagels Vorgange, in einem der schönsten Gedichte Th. Körners. Der Ausdruck im Original konnte nicht bleiben, oder ich hätte das ganze Gedicht weglassen müssen; auch hat der Sinn desselben im Ganzen durch die Veränderung nicht gelitten. Wo aber in einem Gedichte, das nothwendig aufgenommen werden mußte, Verse oder auch nur einzelne Ausdrücke vorkamen, welche Anstoß hätten erregen können, da habe ich es vorgezogen, lieber ganze Verse oder Strophen wegzulassen und solche Stellen durch Punkte anzudeuten, als den Dichter durch willkürliches Ballhornisiren zu kränken.

Daß bei Göthe und Schiller die Auswahl so reichhaltig ausgefallen ist, wird bei der Bedeutsamkeit dieser beiden größten Dichter Deutschlands nicht auffallend sein. Sie mußten, obgleich sie in jedermanns Händen sind, in einem Werke, das sich die Aufgabe gestellt hat, ein deutliches Bild der poetischen Nationalliteratur zu geben, in jeder Richtung vertreten werden.

Das Buch enthält größtentheils vollständige Gedichte, und nur da habe ich Bruchstücke aufgenommen, wo Hauptwerke eines Dichters, die ein Schulbuch aus vielfachen Gründen nicht vollständig mittheilen kann, zur Vervollständigung der Charakteristik desselben vorzuführen waren, z. B. bei Lessing, Wieland, Herder, Voß, Goethe, Schiller etc. Und wenn es auch zum Theil wahr ist, was H. Kurz in der Vorrede zu seinem "Handbuch der poetischen Nationalliteratur der Deutschen" sagt: "Thun die Sammlungen, welche uns mit so vielen Bruchstücken beschenken, wohl etwas Besseres, als jener Reisende, der aus Griechenland ein Stückden Marmor brachte, um an demselben die vortreffliche Architektur des Minerventempels nachzuweisen?" so ist ein Theil des [XII] Kunstwerkes doch besser als gar nichts. Und ist z. B. die erste Scene aus Faust, oder Tells Monolog etc. im Verhältnis zum ganzen Gedicht nicht mehr, als ein Stück Marmor im Verhältnis zum Minerventempel? Und wenn der, welcher das Parthenon gesehen, uns eine plastische Beschreibung von diesem erhabenen Werke griechischer Kunst entwirft und uns dann das besagte Marmorstück zeigt, das freilich kein Stückchen sein darf, welches der Reisende in der Westentasche davonträgt, sondern ein Theil des Kunstwerks, z. B. ein Relief, und hinzufügt: "Seht, aus solchem Marmor ist der Minerventempel erbauet, mit solchen Reliefs sind seine Wände bekleidet: hier ein Stier, dort ein Pferd etc.: so werden wir uns schon eine Vorstellung von der Herrlichkeit dieses Kunstwerks machen können und uns damit begnügen müssen; denn nicht jeder kann nach Athen reisen und mit eigenen Augen den Tempel der Minerva anstaunen. Muß sich doch auch der Lehrer der Literaturgeschichte begnügen, aus größeren Dichtwerken (Oberon, Faust, Wallenstein etc.) nur die bedeutendsten Gesänge oder Scenen der Klasse mitzutheilen und die Lücken durch seinen Vortrag auszufüllen. – Uebersetzungen sind mir da aufgenommen, wo der Einfluß einer fremden Literatur auf die deutsche gezeigt werden mußte: so bei Rachel eine dem Juvenal nachgebildete Satyre, bei Hagedorn die griechischen Skolien, bei Herder die schottische und dänische Ballade, bei Bürger "der Kaiser und der Abt", bei Rückert das persische Ghasel und die arabische Makame und der Form wegen eine Uebersetzung aus dem Indischen von Fr. Schlegel etc. Paul Gerhardts Passionslied "O Haupt voil Blut und Wunden etc." und Herders "Cid" sind mehr als Uebersetzungen.

Was die Anordnung des Stoffes betrifft, so habe ich die chronologische gewählt; die Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts aber nicht nach der Erscheinungszeit ihrer Werke, sondern nach den Jahren ihrer Geburt geordnet, weil ich dem Gedächtniß der Schüler beim Unterricht in der Literaturgeschichte auf diese Weise zu Hülfe zu kommen glaubte. Habe ich darin geirrt, so bin ich gegen Belehrung nicht taub und werde begründete Zurechtweisungen in dieser wie in jeder andern Beziehung dankbar annehmen. Außerdem sind die von jedem Dichter mitgetheilten Proben nach den Dichtungsarten und Dichtungsformen geordnet, wie das erste Register sie angibt.

Da ein Schulbuch, so viele Zwecke als möglich erreichen helfen muß, so habe ich dafür gesorgt, daß mein Buch auch beim Unterricht in der Metrik und Poetik zu Grunde gelegt werden kann; denn es sind darin, bis auf wenige, als Charade, bouts-rimés und andere poetische Spielereien, alle Dichtungsarten und Formen repräsentirt, und ich glaube nicht, daß in dieser Hinsicht für den Schulbedarf etwas vermißt wird. Einige Formen, z. B. die Sestine etc., die mir bei der Zusammenstellung entgangen waren, und die [XIII] ich erst bei der Anfertigung des ersten Registers vermißte, habe ich der Vollständigkeit wegen nachträglich hinzugefügt. Um den Gebrauch des Buches in Schulen zu erleichtern, sind in diesem Register sämmtliche Gedichte möglichst genau und sorgfältig nach Inhalt und Form geordnet. Ich sage, möglichst genau; denn bei der unendlichen Mannichfaltigkeit, die in der deutschen Poesie herrscht, da sie sich im Laufe der Zeit aller Metra und Formen bemächtigt bat, ist es kaum möglich, dieß oder jenes Gedicht Einer bestimmten Gattung zuzuweisen, es schwankt nach Inbalt oder Form oft zwischen zwei und mehreren Dichtungsarten, und es kann z. B. eine Ballade dem Inhalt nach Sage, Legende, Erzählung etc. sein. Daher wird es nicht befremden, wenn der Leser ein und dasselbe Gedicht unter verschiedenen Rubriken aufgeführt findet, wie Goethe's "Zueignung" unter Lied und Allegorie, "Alexis und Dora" als Elegie und Idylle, Wolfgang Müllers "Beethoven" als Lied und Hymne etc.

Wie der Titel des Buches es verspricht, habe ich die poetische Literatur bis auf die Gegenwart fortgeführt; denn das Werk schließt mit Proben aus A. Meißners und M. Hartmanns erst vor wenigen Tagen erschienenen Gedichten. Daß nicht alle Dichter der Gegenwart, – ihre Zahl ist legio – sondern nur die bedeutendsten in dem Buche einen Platz finden konnten, liegt wohl auf der Hand.

Die sinnstörenden Druckfehler, welche das Verzeichniß angibt, bitte ich vor dem Gebrauche des Buches zu verbessern; geringere Verstöße wird der Leser selbst auffinden und beseitigen.

Düsseldorf, den 2. September 1845.

                                                            H. Köster.

 

 

 

 

Druckvorlage

Heinrich Köster: Die poetische Literatur der Deutschen von ihrem Beginn bis auf die Gegenwart,
in ausgewählten Beispielen chronologisch geordnet für höhere Schulen und zum Selbstgebrauch.
Zweite Ausgabe. Mainz: Wirth 1851, S. V-XIII.

PURL: https://hdl.handle.net/2027/nyp.33433075759690
URL: https://archive.org/details/diepoetischelit00unkngoog

 

 

Bibliographie der deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 – 1914

 

 

 

Literatur: Köster

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a.M. 2001 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1510).

Korte, Hermann u.a. (Hrsg.): "Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten". Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 2005 (= Siegener Schriften zur Kanonforschung, 1).

Krautwald, Barbara: Bürgerliche Frauenbilder im 19. Jahrhundert. Die Zeitschrift "Der Bazar" als Verhandlungsforum weiblichen Selbstverständnisses. Bielefeld 2021.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u. New York. 2004.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Zymner, Rüdiger: Funktionen der Lyrik. Münster 2013.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer