Text
Editionsbericht
Literatur: Gutzkow
Literatur: Deutsches Museum
Literatur: Anthologie
[801] Der Deutsche, dem man nach jahrtausendjähriger Erfahrung den Beruf der unmittelbaren, instinktartigen geschichtlichen That wohl entschieden wird absprechen müssen, ist nichtsdestoweniger immer in der Neigung begriffen, Alles, was ihm begegnet, sich sogleich geschichtlich zu machen. Kaum ist das Ei gelegt, so gackert die Henne schon dessen Historie. Die Paulskirche war kaum geschlossen, kaum der Traum vom einigen Vaterland so traurig verweht und verklungen, so hatten wir schon ein Dutzend Chroniken dieser bittern Täuschung. Wenn wir mit dem Kopf und dem Herzen so rasch Geschichte machten, wie wir es mit der Feder thun, so würden wir das erste Volk der Erde sein, ein Vorzug, den wir jetzt doch wohl nur in unseren Schulaktusreden in Anspruch nehmen.
In Frankreich und England, die doch auch eine sehr lebhafte jüngste Epoche in ihrer Literaturgeschichte gehabt haben, sieht man sich noch vergebens nach einer bereits so fertigen Systematik der Gegenwart um, wie sie in endlosen Büchererscheinungen bei uns über die Periode unserer Literatur von 1830 an schon aufgestellt wurde. Nur wir Deutsche müssen mit jener Fluth von Chrestomathieen und Anthologieen gesegnet sein, die von Tage zu Tage höher anschwillt und schon das Allergegenwärtigste mit derselben Objectivität unter Glas und Rahmen bringt, wie den dichterischen oder historischen Werth der Nibelungen oder die Verdienste Luther's, Klopstock's, Vossens um die deutsche Sprache. Die gedankenloseste Buchmacherei hat dieser Sucht des frühen Abschlusses und der objectiven Gruppirung sich dicht an die Fersen gesetzt und uns mit einer Unzahl von Blumenlesen, Probestücksammlungen, Dichtergärten u. s. w. beschenkt, die, schon in üppigster Blüthe, täglich sich noch zu vermehren scheinen. Denn es ist unglaublich, wieviel Spekulanten es immer in Deutschland sogleich auf einen Gedanken giebt, der einmal Einem oder Einigen gelungen ist. Nach den beiden Wakkernagel, Echtermeyer, G. Schwab, Gödeke haben wir nunmehr so viel Mustersammlungen aus alter und neuer Zeit unseres Schriftenthums, daß wir uns kaum vor ihnen retten können und von zehn Lehrern der Geschichte und deutschen Sprache an unseren Gymnasien stehen noch immer mindestens vier auf dem Sprunge, die Tradition dieser Bruchstücke mit allem Zubehör stereotyper Beurtheilung, Classificirung u. s. w. ins Unendliche fortzuführen.
[802] Die Ungründlichkeit, mit der dabei in der Darstellung unserer älteren Literaturepochen verfahren wird, ist von den quellenkundigen Forschern in gelehrten Organen schon oft zur Genüge dargestellt worden. Man hätte auf diesem Gebiete, da Einer fast immer dasselbe giebt, was der Andere, noch eine weitere Entdeckung sich eingestehen können, die nämlich, daß die Grenze, bis wieweit die ältere und älteste deutsche Literatur so besonders gefällig und preiswürdigmustergültig zu nennen, ziemlich fest bezeichnet ist und jedenfalls den Schein, als böte man vom Löwen nur die Klaue, ausschließt. Doch dies beiseit. Das Schlimme ist nur, daß die stereotypen Vortrefflichkeiten, die man aus dem Nibelungenliede, den Minnesängern, den Meistersängern hervorhebt, sich auch ziemlich stereotyp auf die doch unendlich reichere Fülle der Auswahl aus unserer klassischen Periode erstrecken und nunmehr in ihrer Einerleiheit fast sogar schon bis in die neueste Zeit hinunterreichen, wo die traditionellen Sichtungen und Auslesen, die überlieferten Charakteristiken von Uhland, Platen, Lenau, Grün u. s. w. Einer schon dem Andern blind nachschreibt und sich nur höchstens damit begnügt, diesmal ein Herbstlied statt eines Frühlingsliedes, eine Ballade statt einer Romanze zu bringen. An eine endlich so dringend nöthige Revision dieses ganzen überlieferten Materials, an eine Prüfung der einmal von einem beliebigen subjectiven Geschmack angenommenen Gruppirung und geschichtlichen Entwickelung denkt Niemand.
Von den Fehlern, die sich durch diese fabrikmäßigen Blumenlesen allmälig ergeben haben und als große gefährliche Irrthümer sich feststellen, wollen wir einige näher bezeichnen.
Erstens befördern sie
fast alle ein in anderer Beziehung, wo es nothiger wäre, nicht
beobachtetes Haften an den einzelnen Dichtgattungen, das jede
eigenthümliche neue und in der Zeit begründete individuelle Entwickelung
ausschließt. Von den Personen wollen wir später reden; hier muß aber die
Gefahr in den Sachen gefunden werden. Sei es nun, daß diese Sammelwerke
der Schulgebrauch hervorruft oder ein allgemeines Bildungsbedürfniß oder
ein Unterhaltungszweck, immer bleibt es gefährlich anzunehmen, als könnte
die Literatur nie mehr aus den üblichen Unterscheidungen zuvörderst
schon zwischen Poesie und Prosa herauskommen. Der Vers, so vollberechtigt
für sich, gewinnt gegen die Prosa immer aufs Neue ein Uebergewicht, das
völlig unverhältnißmäßig ist. Diesen Anthologieen gegenüber wird der
Thatsache, daß die moderne Dichtung sich weit mehr in der Prosaform, als
in gebundener Rede literar- und culturhistorisch zu entwickeln hatte,
nicht im Mindesten Rechnung getragen, im Gegentheil der alte
Schematismus der Dichtgattungen in einer Form fortgeführt, die von dem
wirklichen geistigen Gähren und Streben der Nation ein völlig verkehrtes
Bild entwirft. Wie schwer ist
[803] es z. B. in Sammelwerken dieser Art von dramatischen Dichtungen
einen unterhaltenden, "Schule und Haus" befriedigenden Gebrauch zu
machen! Man giebt einzelne Scenen, aber sie sind entweder lyrisch
und darum grade dramatisch musterungültig, oder sie sind wirklich
dramatisch und dann so aus dem Zusammenhange gerissen, daß sie für
sich nicht verstanden und folglich von anderen Blumenleslern meist
auch lieber frischweggelassen werden. Ergiebt sich nun daraus nicht
schon die größte Ungerechtigkeit gegen diejenigen dichterischen
Offenbarungen, denen nun einmal, wie z. B. in älterer Zeit Heinrich
von Kleist, das Drama nur als die vorzugsweise Form ihrer Bewährung
für die Nation gegeben war? Natürlich wird dann ein solcher nicht in
kleinen Portionen zu verzettelnder Autor immer mehr dem allgemeinen
Interesse entrückt und in seiner dichterischen und literarhistorischen
Bedeutung für die Nation gegen alle die verkürzt, von denen grade der
Sammler das Meiste zur Herstellung seiner Vollständigkeit in den
überlieferten alten Dichtgattungen, und ohnehin oft mit ganz
unliterarhistorischen Nebenzwecken, benutzen kann.
Zweitens aber ist
sodann die gefährliche Verschiebung des wahren Sachverhaltes in den
Personen bedenklich. Die Blumenlesler ziehen Namen groß, die ohne die
ihnen hier geborgte künstliche Treibhauswärme nie anders, denn nur als
Ephemeren existirt hätten. Ein gediegener Literarhistoriker wird
sich selbstredend keinen Autor entgehen lassen, der, wenn auch noch so
wenig in den Vordergrund einer allgemeineren Theilnahme des Publikums
gestellt, irgendwie eine sinnige Begabung verrathen hat. Er wird ihm
aber doch nur eine seinem Talent entsprechende Stellung geben. Die
Blumenlesler dagegen und die aus ihnen die neueste Literaturgeschichte
wieder Zurückschreibenden – denn das geschieht
meisterlich – stellen, zu
ihrem Vertretungszwecke der Gattungen, frischweg allerhand kleines
Gesträuch neben kräftigste Stämme und befördern dadurch eine Ueberhebung
des Unbedeutenden, die nach allen Seiten hin schon Verwirrung angerichtet
hat. So schleppen sich gegenwärtig mehre Dutzend noch lebender oder
jüngst verstorbener Namen durch die neueste Literaturgeschichte, die
ihren Ruf lediglich einigen zufällig bequemliegenden Auszügen in den
Blumenlesen verdanken, grade wie sich in den alten Literaturgeschichten
immer wieder Namen, wie Abbt, Alringer, Bronner, Conz u. s. w. finden,
man möchte glauben, als verdankten sie ihre nicht sterbenwollende
Erhaltung der alphabetischen Ordnung in den Wörterbüchern, zur Freude
der spekulativen Buchhändler, die Bibliotheken "deutscher Classiker"
ankündigen und statt Schiller, Goethe, Lessing, Wieland, Herder, die
sie nicht anschaffen dürfen, die Schriften dieser dii minorum gentium
zur Füllung der Bücherbrete nachdrucken.
Drittens entsteht aus diesem
Mißverhältniß der Personen und der Materien eine Verwirrung der Principien,
an der uns das Meiste zu
[804] leiden scheint, was seitdem über die Geschichte der Literatur
dieser letzten zwanzig Jahre auch objectiv und historisch kritisch
aufgestellt worden ist. Die Blumenlesler brauchen Namen. Wo finden sie
deren mehr als in den Gärten der Lyrik? Hier wuchert es ja von
Balladensängern, Frühlingssängern, Spruchpoeten bunt durcheinander,
und nicht genug, daß diese Tag- und Nachtfalter nun froh sein sollten,
ein kurzes heiteres Dasein in jenen Anthologieen zu genießen: sie
drängen richtig auch der Literaturgeschichte mit keck ausgerollten
Flügeln zu und geben ihr jenen falschen Ueberhang zur gebundenen Rede,
die nachgrade für alle Literatur unausschlaggebend sein sollte, wenn sie
nicht das Rechte bindet. Die gebundene Rede muß doch wahrlich in unseren
Tagen betrachtet werden wie eine allgemeine Bildungsfolge, die ganz
dem Dilettantenthum innerhalb der bildenden Künste und der Musik
entspricht. Man kann sich und die Seinen mit der Fähigkeit den Pinsel
zu führen, die Geige zu streichen, höchlichst erfreuen, ohne doch
dadurch irgendwie in einen Zusammenhang mit der Kunstgeschichte zu
kommen. Ebenso giebt eine Sammlung von Versen, und wäre sie immerhin
voll Wohllaut, ja sogar voll Gefühl und Wärme, doch nicht den geringsten
Anspruch auf den Einlaß in die Literaturgeschichte, falls diese Verse
nicht zugleich etwas ausdrücken, was allen Gemüthern eine bedeutende
Stimmung, der ganzen Zeit ein großes Abbild ihrer selbst giebt. Ein Ich
muß schon sehr weltumfassend, ein Nicht-Ich schon sehr eigenthümlich
ergriffen sein, wenn es durch seine lyrische Behandlung einen Anspruch
auf die Literaturgeschichte verdienen will.
Die übermäßige, durch die
Blumenlesler beförderte Begünstigung der Lyriker in unserer neuesten
Literaturgeschichte hat die sonderbare Erscheinung veranlaßt, daß
wir mit Hülfe einer richtigen Erkenntniß Goethe's, Shakespeare's, der
Alten und mit Hülfe von Gervinus, Vischer und nun gar erst der
Leipzig-Berliner kritischen Schule die Romantik glaubten überwunden
zu haben und doch in unserm literarhistorischen Urtheil, in unserer
Anerkennung und Gruppirung des neu Vorhandenen immer noch bis über die
Ohren, die Sommernachtstraumsohren des verzauberten Webers Zettel, im
Romantischen stecken. Der Unterschied ist nur der, daß die alte
romantische Verzückung einen mystisch-religiösen Beigeschmack hatte,
die moderne neueste so zu sagen einen mystischen, verhimmelnden
Naturbeigeschmack. Die Romantik der Tieck, Novalis, Brentano umging
die Wirklichkeit oder nahm sie nur wie den bösen Traum, nur wie das
Alpdrücken einer ganz andern, hinter Fels und Stein, Baum, Busch,
Blüthe, Sprache, Geschichte, Leben verborgenen Welt und einer wenigstens
dichterisch wahr sein sollenden Wirklichkeit. Unsere neueste Romantik
dagegen ist über Religion, Staat, Geschichte, Lebensbedingungen aller
Art sattsam aufgeklärt, läßt sich da keinen Stein mehr als
[805] Brot, kein Wasser mehr als Wein auftischen wie damals, als die
Görres, Schlegel, Haller die Romantik auf die Würdigung und
Umgestaltung der Wirklichkeit anwandten; aber die Lust am Dämmernden,
am Unwahren, flimmernd Verschönten bricht in den Anforderungen an die
Poesie und die Kunst doch so sehr immer wieder durch und bannt uns immer
wieder, ästhetisch, in dem Spuk- und Zauberreiche der Romantik so fest,
daß wir fast überall Poesie und Romantik gradezu verwechselt finden. Die
zeichnenden Künste sind einstweilen doch so aufrichtig, einzugestehen,
daß sie den Boden der Romantik wirklich noch nicht verlassen hätten. Da
spreche man einem deutschen Maler von dem hohen sittlichen Ernst z. B.
des neuesten Bildes von Gallait: der Besuch der brüsseler
Bogenschützengesellschaft am Leichnam Egmont's; man führe ihm an diesem
erschütternden Kunstwerk den auch im Künstler vorauszusetzenden
Zusammenhang mit einem hohen, weltumfassenden Zeitblick, einer
charaktervollen Innerlichkeit und einer gesinnungsernsten Wärme des
Gemüthes, das eine solche Scene treu ausführen konnte, vor, und man
wird denn doch richtig von ihm die Antwort bekommen, was das wäre gegen
unsere schöne ins Blaue tastende, verdüftelte, auf sich selbst bezogene,
der Gegenwart entschlüpfende oder sie als das absolut Unpoetische
zurückweisende Romantik und die hohe Weisheit unserer Kunstschulen!
Hier ist das Haften an der alten Lehre ein doch noch eingestandenes.
Kaulbach, der sich aus der bei ihm von den Bestellern vorausgesetzten
Romantik zu einem historischen Weltblick und vorläufig doch zum Humor,
d. h. zur Selbstironie herauszuarbeiten sucht, Lessing, der nach einer
geschichtlichen Wahrheit, wenn auch mit etwas nüchterner Einfachheit,
strebte, beide werden von den Schulen doch gradezu angefeindet, von den
Schulen, die einmal von den Heiligen, den Legenden, den Märchen, den
Nixen und Elfen nicht lassen wollen und die Geschichte, wenn sie sie
doch berücksichtigen, nur in chronikalischer Naivetät, wie bei Moritz
von Schwind, nicht als philosophischen Pragmatismus dem Künstler
gestattet wissen wollen. In der Dichtkunst ist man aber nicht so
aufrichtig. Hier sagt ein Jeder, etwa Eichendorff, den alten Burggrafen
der Romantik, ausgenommen, die Romantik wäre besiegt, wäre abgethan, rein
todtgeschlagen von Ruge und minder grimmigen Aesthetikern; aber dennoch
werden alle romantischen Kriterien lustig beibehalten und bei der
Abschätzung des Neuen ganz gewiß nicht bei Seite gethan. Diese Thatsache
ist so erwiesen, daß z. B. Heinrich Heine, der doch eine neue Aera unserer
Literatur begründet haben will und es nach einer gewissen Richtung hin
auch in allen Ehren gethan hat, doch für die wirklich maßgebende,
culturhistorische Poesie so gut wie Nichts hervorgebracht hat. Warum?
Weil er, trotz seiner unausgesetzten, so witzigen und so schön treffenden
Polemik gegen die Romantik, doch nur die alleräußersten und verdächtigsten
Kenn[806]zeichen der romantischen Manier abstreifte, sonst aber mit seinem
ganzen Singen und Dichten, Gehaben und Gebahren im Apparat der Romantik
festgeblieben ist. Oder wo anders erhebt sich Heinrich Heine zu derjenigen
Poesie, die man vorzugsweise als die seinige bezeichnet, als da, wo er die
Sagen, die Nixen, die Palmenbäume, die Lotosblumen, die Loreley's, die
Hexen, die Waldschauer, die Todtengerippe, die wahnsinnigen Geiger, die
Nekromanten, ja sogar die Arnim'schen Golems u. s. w., kurz den ganzen
Apparat der deutschen Literatur von den neunziger Jahren bis 1812 in
Anwendung bringt und zur Unterlage einer träumerisch – nebenbei gesagt,
sehr haltlosen, in jedem Gedichte sich mit dem vorigen widersprechenden
– Subjectivität macht! Bei so viel Unselbständigkeit war es wahrlich nicht
nöthig, daß Heine über Tieck und jenen weißen Zelter, auf dem die Fee
Romantik durch den deutschen Zauberwald ritte, so viel schlimme Witze
machte.
Auch neuere Literaturgeschichten giebt es, die den romantischen
Standpunkt überwunden zu haben glauben und doch keine anderen
Kriterien in der Beurtheilung des Genius haben, als romantische.
Von einem so speciell auf den Beifall der christlich-germanischen
Unterrichtsministerien angelegten Buche, wie dem des Predigtamtscandidaten
Barthel in Braunschweig, sollte man hier kaum reden; –
denn unbedeutende,
oft ans Faselnde streifende Gelegenheitslyriker werden hier als Incarnation
des Naiven und Naturwüchsigen in Folge unserer Blumenlesen sogar
capitelweise abgehandelt! – Aber auch. Professor Hillebrand in seiner
so vielgerühmten Literaturgeschichte entbehrt für die Gruppirung des
Neuen jedes durchgreifenden Principes. Er läßt sein so wissenschaftlich
beginnendes Werk gegen das Ende hin in ein Durcheinander von Namen
auslaufen, bei denen er die Würdigung ihrer Leistungen immer nach der
ihn grade anmuthenden Geschmacksstimmung giebt und diese subjective
Stimmung ist bei ihm durchweg trotz seiner Goethevertiefung keine andere,
als eine romantische.
Denn gehen wir nur einen Schritt weiter und
gestehen uns – in welcher Form tauchen die alten gebannt geschienenen
Spukgeister aus jenem bekannten Mümmelsee der Romantik, in den man sie
versenkt glaubte, wieder empor? Die Kritiker haben die Heiligenscheine,
die Waldkapellen, die unsichtbar läutenden Glocken, die blauen Blumen,
die Tiegel und Retorten der Naturmagie in einen See geworfen, wie einst
der heilige Gallus die Idole der Heiden in den Bodman, aber sie steigen
als neue Gespenster, in modischer Tracht, wieder aus den Fluthen und
wandeln unter uns mit außerordentlich beliebten Tagesnamen, gang und
gäben Allerweltspässen, geherzt, gekost, mit Blumen und mit knitterndem
Rauschgold behangen. Neue Romantik! Vergebens such' ich einen deutschen
Namen für eine recht sprechende Bezeichnung dieser neuen Moderichtung.
[807] Ich will einen englischen wählen und dann das, was ich meine,
genauer bezeichnen: an die Stelle der alten Romantik ist jetzt das
englische Lovely getreten.
Lovely! Wer hat dies Wort nicht schon den
Lippen einer Engländerin süß entfließen hören und noch süßer entfließen
sehen! Denn beides muß man, wenn man den eigenthümlichen schmelzenden
Ausdruck dieses Wortes recht erkennen will. Lovely! Es ist, als spräche
nicht nur die Lippe, sondern der ganze Mensch und die Augen verwandelten
ihre Strahlen in Hauche und die Hauche würden Musik und die ganze Erde
klänge im Entzücken nach. Lovely! Das ist nicht etwa das einfache Sweet,
das Süße und Anmuthige nur so obenhin und im Allgemeinen, nicht unser
deutsches Lieblich, mit dem wir nach kurzer Freude und heiterm Genusse
bald zu Ende sind: sondern es ist ein Beiwort, das wie Sonnennebel
zerfließend eine ganze Fernsicht vergoldet, den ganzen Menschen in
Wonnebeben versetzt und den Gegenstand, der ihm das entzückende Wort
abgewinnt, auch von aller irdischen und gemeinen Alltäglichkeit losbindet.
Lovely! ruft die Engländerin nicht überall da, wo man früher Romantisch!
seufzte. Es ist ein Unterschied zwischen dem Romantischen und dem Lovely.
Das Erstere paßte auch für eine wilde Bergschlucht, ein rauschendes
Gewässer, einen düstern zerrissenen Engpaß, wie die Via mala in
Graubündten. Dies schauervoll und ahnend durch die Natur
Hinübergetragenwerden in eine poetisch andere Welt war das Zaubervolle
der alten Romantik. Die neue, die Romantik des Lovely will nur das Naive,
das Süße, das Liebliche, das Liebe. Die Lurleyfelsen sind romantisch,
das Rheinthal bei Basel ist lovely. Ein Album mit Kinderköpfen, mit
Mädchen, die Blumen brechen, mit Kindern, die sich auf einem Kahne durch
Wasserlilien schaukeln, ist lovely. Eine italienische Winzerwohnung mit
einer madonnenartigen, unter Weinlaub ihr Kind säugenden Mutter, eine
neapolitanische Fischergruppe mit einem jungen Bräutigam, der die
Mandoline schlägt, aufhorchenden Mädchen und menschlich interessirten
Hunden ist lovely. Selbst vor einer verdutzten Schafheerde von
Verboekhoven kann man den Ausruf hören: Wie lovely!
In Kunst und Literatur waltet jetzt das Lovely, so zu sagen eine Art Rokoko des Romantischen. Es ist darin von der Romantik grade so viel beibehalten, als mit unserem geistigen Indifferentismus, mit unserem oberflächlichen Sinnengenuß, unserer Abneigung vor allem Extremen, besonders bei den besitzenden Klassen, zusammengehen will. Wenn Shakespeare der Dichter wäre, für den man ihn nach den Blumenlesen halten könnte, ein Phraseolog über die Träume, die Süßigkeit des Schlafes, die Lieblichkeit der Jugend u. s. w., so wäre er der rechte Laienbrevier-Dichter dieser Tage. Aber was Shakespeare, was Byron! Die [808] neueste englische Literatur ist überreich an empfindsamen, dazu natürlich religiös-gefärbten Ergießungen im Interesse des Lovely, und was müht sich nicht der Pinsel und die Aetznadel der Stahlplatte, diesen süßen Bedürfnissen der empfindsamen Fashion entgegenzukommen! Die Franzosen singen ihr Lovely mit Grandville's Zeichnungen an: Blumen als Sterne, Blumen als Frauen, zuletzt auch Sterne sogar als Frauen. Das nationale Gepräge fehlte hier freilich nicht. Durch alle lieblichen Idyllenwelten der neuesten Pariser Frauenbilder guckte immer wieder die Grisette hervor; wie bei Eugène Sue, der auch im Interesse des Modegeschmacks mit einer Lovely-Figur hervortrat, der Blumen-Marie, die denn freilich in aller Unschuld, nach einmal nicht zu tilgendem Realitätsdrange der Franzosen, doch zuletzt eine Hetäre war. In neuester Zeit ist aber Georges Sand, die metamorphosenreiche, ganz zum Lovely übergegangen. Sie schreibt Kindermärchen trotz Andersen, Dorfgeschichten trotz Rank. Aber man müßte sehr wenig, sowohl die wirkliche Natur wie die Natur der Pariser Komödie kennen, wenn man der Meinung sein sollte, die Sand hätte nun etwas Wahreres und Bedeutenderes aufs Tapet gebracht als früher ihre leidenschaftlichen Dichterinnen und weltschmerzlichen halben Courtisanen waren. Die letzteren waren für die speculative Ueberkraft der Zeit, ihre positive Entwickelung, ihren Wahrheitsdrang selbst in ihren Irrthümern und Abnormitäten bedeutender, als diese jetzige wahr sein sollende Pariser Natur vom Lande, diese altkluge Unschuld, bewußte Lieblichkeit, die weit eher ein Rückfall in eine ohnmächtige Stagnation des Schaffens und eine nichtssagende Ideenleerheit ist, ein Rückfall, der für Georges Sand das werden kann und wird, was für unsere Mecklenburger Gräfin nach ihrem Babylon ihr jetziges Jerusalem geworden ist.
In Deutschland blüht das Lovely nunmehr so üppig, wie weiland die
Romantik. In der Malerei braucht man nur in die erste beste
Kunstausstellung oder an die ersten besten Aushängefenster eines
Kunstladens zu treten, um gleich diese allgemeine Sucht nach dem
Lieblichen à tout prix wahrzunehmen. Den Bildhauern bei ihrer
beschränkten Wirksamkeit, bei ihrem so sehr bedingten Eingreifen in
das praktische Bedürfniß wird man ihre betenden Kinderchen, ihre
schlummernden Engel, ihre Schwäne umhalsenden Knaben, ihre Amors und
Psyches nicht verdenken können, um so weniger, als gerade dem ernsten
Stein und Metall der lieblichste Ausdruck abgewonnen werden muß, um nur
überhaupt dem Leben nahe zu kommen. Aber die Maler! Die sonntagsgeputzten
Hessenmädchen von Van der Embde stehen nicht mehr allein am Brunnen und
zählen am Blumenblatt ab: liebt er mich, liebt er mich nicht? liebt er
mich von Herzen oder mit Schmerzen? Welche kokette Sippschaft ist schon
aus allen möglichen Stationen des Lebens diesem sentimentalen
Bauermädchen im Sonntagsmieder gefolgt! Wie viel Buchsbaumholz wird
schon
ver[809]schnitzelt zu Illustrationen, die erbaulich und beschaulich mit
Turteltäubchen und Schmetterlingen dem süßen Lovely huldigen! Und die
Musik! In der ausübenden war recht die Königin des Lovely Jenny Lind:
sie, der volle Ausdruck dieses Bedürfnisses nach unbestimmt schmelzender
Sehnsucht; sie, die in zierlichem Taschenformat und Albumsgold
gebundene, also unmögliche, Ausgabe der wilden Norma; sie, die jetzt
frömmelnde, Sonntags nicht einmal die Scala singende Engländerin in
der Kunst, die jetzt dem Land of the Whest Alpenecho, Kuhreigen,
östliche Romantik jodelt! Und Felix Mendelssohn Bartholdy, war dieser
nicht der fashionabelste Componist des Lovely? Robert Schumann verschwimmt
auch im Süßen, schon in seinem rosenrothen Paradies und der Peri, und
jetzt vollends wohl erst in einem Oratorium, das, wie berichteten. die
Zeitungen? den Traum einer ... ich weiß selbst nicht, Blume oder wessen?
ausdrücken soll. Von unserer Unsumme fashionabler Lieder, die mit den
lyrischen Blumenlesen von Wien und Berlin aus Hand in Hand gehen, ganz
zu schweigen. In der Literatur hat uns der sentimentale, süßlichnaive
Norden den Andersen und König Renés Tochter gebracht. Wo man hinsieht,
macht Glück fast immer nur das, was entweder für das Lovely wirklich
geschrieben ist, wie Stifter's Studien, Herrn von Redwitz' Amaranth,
Kinkel's an sich viellieber Otto der Schütz, Puttlitz' Was sich der
Wald erzählt, oder das, was an sich tiefer angelegt, doch im Sinne
des Lovely ausgebeutet werden kann, wie die Richtung, die Auerbach so
höchst glücklich fand und auf der ihn sein dichterisch ernster, in
Principien so streng gewissenhafter Genius bewahren möge, auch
seinerseits ins Lovely zu verfallen, wie z. B. neuerdings in einer
Novelle, wo er ein einfaches Begegnen und harmloses Sichfinden guter,
aber gewöhnlicher Menschen auch sogleich im Lovelystyl mit dem nicht
mehr ganz keuschen Titel überschrieb: "Liebe Menschen."
Wer wird leugnen und unsern Blumenleslern bestreiten, daß das Liebliche im poetischen Schaffen eine reizende Berechtigung hat? Allein gefährlich ist es, wenn man eine ganze Zeitrichtung diesen Ueberhang gewinnen und sich so bequem schon in dem Satz abfinden sieht, das absolut Anmuthige als das erste Erforderniß aller künstlerischen und dichterischen Wirksamkeit anerkennen zu sollen. Das Anmuthige hat schon in der bildenden Kunst an der Wahrheit seine Grenze, in der Architektur sogar am Zwecke, wie viel mehr in der Dichtkunst, die an den ganzen Ernst des Lebens anknüpft, das Leben zwar nicht unmittelbar, wie es ist, verbrauchen darf, sich es aber auch nicht künstlich zurechtlegen, durch Verblümen oder Vertuschen verschönern darf. Der Sturm ist wahrlich nicht Lovely, ebensowenig wie die Passion von Bach. Am allerwenigsten aber Lovely ist der Gedanke, derselbe ringende, bewegende, schöpferische Gedanke, der noch zu allen Zeiten in der Literaturgeschichte mit der Form allein maß[810]gebend Hand in Hand gegangen ist und in dem Grade die Förderung aller Kunstbewegung war, daß Goethe schon von sich gestehen mußte, er habe zu allen Zeiten durch den Stoff immer in erster Stelle gewirkt und in zweiter erst durch die Behandlung.
Eine einseitige
Literaturgeschichte, nur im Interesse der Sprache, wie uns die
Blumenlesler glauben machen wollen, giebt es nicht. Was kann man groß
von dem eigentlichen Werthe Schiller's, Goethe's, Lessing's in einer
Anthologie unterbringen? Sprachproben sind leicht gegeben,
Geistes- und Richtungsproben viel schwieriger, und nur einigermaßen
erschöpfend sind sie ganz unmöglich. Wer jetzt schon eine Geschichte
unserer zeitgenössischen Literatur fixiren will, hat vor Allem zu
horchen und zu lauschen auf die großen objectiven Richtungen des
Gesammtgeistes der Nation und der Zeit selbst. Er hat diesem Geiste
die Träger und berufenen Organe in Kunst und Wissenschaft unterzuordnen.
Er muß lange prüfen und sich vorsehen, ob er geneigt sein darf, irgend
einer dichterischen Subjectivität, ihrem aparten Leben und Streben zu
folgen, hinzuhören auf mancherlei Einzelnes, was ihr immerhin gelingen
mag, aber in dem großen wichtigen und nothwendigen Ganzen wie ein Tropfen
verschwindet. Er hat vor Allem jenen Universalismus festzuhalten,
durch den sich alle unsere großen Köpfe, die für die Literatur
tonangebend wurden, auszeichneten. Unsere Literaturhistoriker, die
nach Blumenlesen Geschichte schreiben, machen es gerade so, wie wenn ein
Kunsthistoriker der neuen Zeit Overbeck, weil er nichts seinem Geschmacke
Zusagendes oder auch, objectiv genommen, nichts absolut Vollendetes
geschaffen hätte, geringer fassen wollte, wie z. B. den in seiner Art
vollendeten Schlachtenmaler Heß, oder den in seiner Art vollendeten
Architekturmaler Quaglio, oder einen vollendeten Seemaler wie
Achenbach. Allen diesen Fähigkeiten wird eine Stelle gebühren voll
Auszeichnung, aber eine Verschiebung des Schematismus in der
Kunstgeschichte, eine Störung der genetischen Ordnung durch die im
Einzelnen vollendeteren Fähigkeiten, als die unvollendeteren, aber
im Ganzen befruchtenderen, würde mit Recht als ein thörichtes
Unterfangen gerügt werden. Unsere Literaturhistoriker verfahren
aber so. Sie geben z. B. Tieck's Novellen als einen interessanten
Anhang zu Tieck's romantischer Zeit und schildern breitspurig den
unbedeutenden Chamisso als einen Ausdruck der Literaturgeschichte von
1820 bis 1830, während diesem nur eine gar bescheidene Stellung in
irgend einer Seitenkapelle zur Erbauung für etwaige Liebhaber an
derartigen Schöpfungen, wie er sie in der Bequemlichkeit seiner
Promenaden im botanischen Garten von Berlin brachte, gebührt, Tieck's
Novellen dagegen den einseitigen, aber eigenthümlichen dichterischen
Ausdruck jener ganzen Restaurationsperiode darstellten. Der Rückblick
auf die ältere Literaturgeschichte in ihrer jetzigen Gestalt lehrt hier
[811] das allein Richtige. Wer spricht von den Nachahmern Klopstock's,
von Denis und Willamov, und wollte z. B. Friedrich Nikolai jetzt noch so
kurz abfertigen, wie wir es nach den Traditionen der romantischen
Periode von den Schlegels her gewohnt waren? Goethe's Spott auf
Nikolai wird nicht hindern, dem von ihm vertretenen Geiste der
Aufklärung, seinen Nachahmungen der englischen Romanhumoristik,
seinem Zusammenhange mit Mendelssohn und Lessing eine Aufmerksamkeit
zu schenken, die nicht blos in einer Note zum Text abgemacht ist,
sondern organisch mit zur Gliederung des Allgemeinen gehört. Es wird
damit nicht gesagt werden, daß man Nikolai und die Seinigen über die
Gebühr erhebt, es soll nur an einem Beispiele gezeigt werden, wohin
unsere Literaturhistoriker der halb noch embryonischen Neuzeit ihr
Auge zu richten haben, wenn sie sich für ihre Arbeit einen organischen
Schematismus denken und mehr als ein Register von nach Willkür und
persönlichem Geschmack beurtheilten Namen.
Integrirend in diesem
Universalismus, muß der zweite Hauptnachdruck auf die Kunstgattung
als solche gelegt werden. Erst immerhin die Personen, falls sie Träger
einer großen objectiven Idee und jenes ebenbezeichneten Universalismus
sind; dann aber die Sachen, auf die es in der Kunstgeschichte ankommt,
in der Dichtkunst das Drama, der Roman, die epische, die lyrische,
didaktische Dichtung. Dilettantismus fürchtet sich vor allem geschlossenen
Schaffen. Er wird immer darauf zu ertappen sein, daß er der Literatur
als einem großen, ernsten, bedeutsamen Begriffe lieber aus dem Wege geht.
Es hängen .an allen Säulen des Tempels der Unsterblichkeit Kränze; sie
winken und locken, und täppisch genug ringen auch Tausende nach ihnen,
Tausende ohne Beruf. Von diesen reden wir nicht. Aber von denen müssen
wir reden, die einen Beruf haben sollten, diese Kränze zu gewinnen und
mit scheuem Blicke dieser Arbeit aus dem Wege gehen. Es ist doch wohl
im höchsten Grade charakteristisch für die Stellung, die manchen
Lyrikern einzuräumen sein wird in der Literaturgeschichte, daß sie bei
allem einzig auf ihr Dichten gerichteten Trachten, bei vollster Zeit
und Muße, bei Gelüst und aller Neigung, es nicht dahin bringen, ihr
Talent auch in einem Epos, einem Drama, im geregelten Romane zu bewähren.
Wer ein deutscher Dichter sein will und nur Verse schreiben kann, nicht
wie Goethe, Schiller, Lessing, die Schlegel, Tieck, Platen, Immermann,
Heine auch eine eigenthümliche, inhaltreiche, gedankenvolle Prosa, für
den würd' ich das Thor des Ruhmes sehr lange prüfend nur erst halb offen
lassen, und schriebe er die wohllautendsten Verse; ich würde lange mit
ihm parlamentiren, was das für ein eigenes stelzenfüßiges Wesen in ihm
wäre, das ihm da nur erlaubte, immer in ungewöhnlichen Bildern zu reden,
welche Gesundheit oder Krankheit diesem pathologischen Zustande, diesem
halben
[812] Starrkrampf der Bildersucht zum Grunde liege. Ich würde solche
à la Anastasius Grün zusammengeschweißte Verse sehr lange prüfend
betrachten, bis ich darin die Nothwendigkeit entweder einer einmal so
und nicht anders gewordenen subjectiven Complication des Autors, oder
die Nothwendigkeit eines objectiven, damit der Poesie wirklich zu
Gute kommenden Factums anerkennte; denn wo ist da z. B. von Anastasius
Grün ein Epos vorhanden, das an Leichtigkeit, Grazie, Anmuth sich mit
dem wenn auch recht arg koketten, doch künstlerisch geschlossenen Otto
der Schütz vergleichen könnte? Und sage man, was man gegen die Amaranth
von Redwitz sagen muß, es ist doch allerdings die gewissenhafte
Einhaltung einer Kunstform in ihr anzuerkennen. Dieser junge Dichter
verstimmt uns sattsam durch eine frühreife Altklugheit in der Beurtheilung
solcher Lebensfragen, in denen wir seit Menschengedenken die Jugend immer
nur freier und heiterer urtheilend gewußt haben; er verleidet uns sehr
den Genuß seines Buches von der Mitte an durch eine Absichtlichkeit,
die sich wie auf Bestellung in dem Bann einer ascetischen Beschränkung
hält; er arbeitet, was die Form anlangt, leider wie nach Bildern in der
Art der Bilder des duftverschwommenen, hellfarbigen Foltz oder anderer
Münchner oder Düsseldorfer Conterfeien Uhland'scher und Goethischer
Balladen, die er von der saubern Farbe abzuschreiben scheint, so daß
selbst das Rossezäumen und das Walten in Küche und Keller bei ihm wie
mit Glacehandschuhen vor sich zu gehen scheint; er überfluthet uns
ferner mit einer solchen Fülle von kostbaren, aber schon etwas sehr gemein
gewordenen Gleichnissen und Beiwörtern, daß wir aus dem Azurblau, dem
Purpurroth, dem Smaragdgrün, der Karfunkelgluth nicht herauskommen und
zur Freude einer geringen und mittleren Bildungsstufe die einfachsten
Begriffe nicht mehr natürlich, sondern durch ein Bild ausgedrückt finden
(z. B. nie von einem "Mädchen" hören, sondern immer nur von einer
"Blume" oder einem "Stern"). Allein, abgesehen von dem Unmuthe, den
es uns einflößt, unser reactionäres Zeitalter solchen raffinirt-berechneten
Schöpfungen nachtrachten zu sehen, an solchen Auffassungen die Frauen
namentlich wie an einem krystallhellen Wiesenquell sich niederlassend
und daran sich erquickend anzutreffen, wird man dennoch einigermaßen
beschwichtigt immerhin durch das Zugeständniß von Fleiß und Composition,
das man jenem Gedichte machen muß. Es ist doch ein Opfer auf dem
ständigen Altar der Musen, eine gesammelte ernste, feierliche Stimmung
hat sich hier doch Propyläen zu einem ernsten Lebenscultus der Kunst
erbauen wollen; es ist doch mehr als Dilettantenwerk, sucht einen
bedeutenden Inhalt auszutragen, nimmt an der Literatur als solcher
einen Antheil und überragt in dieser Hinsicht z. B. weit die
vielgepriesenen Gedichte Geibels, von denen man bis zu dieser Stunde,
trotz ihrer fünfundzwanzig Auflagen, noch
[813] nicht weiß, wozu sie überhaupt da sind und was sie Anderes bedeuten
können, als jenes gerügte der Literatur aus dem Wegegehen.
Nach dem
Augenmerk erstens auf die Universalität, zweitens auf die dauernde
Hauptberechtigung der Kunstformen, an denen Richard Wagner und seine
wortgewandte Dialektik vergeblich rütteln und schütteln wird, wäre
endlich drittens der verfrühten Geschichtsschreibung der neuesten
Literatur die Aufgabe zu stellen, daß sie die Geschichte dieser
Literatur, die äußere Chronik von der Darstellung selber trenne.
Die synchronistische Methode schon in der Weltgeschichte bietet
allerdings den Reiz der lebendigsten und anschaulichsten Darstellung,
aber sie kann, allein festgehalten, zu einer großen Ungerechtigkeit
gegen die factischen Bestände führen. Die Geschichte des siebenjährigen
Krieges ist nicht die erschöpfende gleichzeitige Geschichte Preußens und
Oesterreichs. Die Chronik wird sich unter der Hand des Forschers immer
in der Art in Geschichte zu verwandeln haben, daß sie nur als das
zufällige, äußere, anekdotische Symptom von viel bedeutenderen
Hauptsachen erscheint, die mit Jahreszahlen und Namen allein nicht
ausgedrückt sind. Ebenso sind in der Literaturgeschichte einzelne
Ereignisse, z. B. der Hainbund und das Verbrennen der Werke
Wieland's, die Sammlung einiger tonangebender Geister in Weimar,
nicht die Literaturgeschichte selbst, sondern höchstens das Gerippe
ihrer Darstellung und eine Erleichterung derselben. In neuester Zeit
vollends sind Chronik und wirkliche Geschichte der Literatur um so
mehr zu trennen, als die geistige Arbeit in immer schroffere
Widersprüche mit dem Gegebenen tritt und sich dem Wirken des Genius
Thatsachen an die Fersen setzen, die nicht immer zu seiner eigensten
nothwendigen Natur gehören. So findet man z. B. in allen neuesten
Literaturdarstellungen mit großer Umständlichkeit Auseinandersezungen
über ein "junges Deutschland" gegeben, das im Wesentlichen doch nur
ein chronikalisches Interesse hatte und auf die Beurtheilung der zu
ihm gerechneten Schriftsteller nur von vorübergehender Bedeutung ist.
Weil man sich aber immer noch nicht entschließen kann, diesen noch dazu
fingirten Bund als eine rein mehr der politischen Chronik angehörende
Thatsache zu behandeln, rächt sich im Verlaufe der weiteren
Geschichtsentwickelung, die man schon versucht hat, gewöhnlich dann
der Schematismus, nach dem man doch zielt, durch Wiederholungen aller
Art und ein Nebeneinandergruppiren von Namen, die nicht zusammengehören,
bis zuletzt die voreilige Geschichtsdarstellung in das ganze Chaos der
Blumenlesler verfällt, die bunt durcheinander würfeln, was sie nur zu
ihrem Schul- oder Lehr- oder Unterhaltungszwecke irgend brauchen können.
Schließlich sei noch an Goethe's Merksätze über das Dilettantenthum erinnert! Er hielt eine Schrift gegen die Dilettanten für nothwendig im Jahre 1799, wo die Menge neu entstehender Taschenbücher und Zeit[814]schriften, verbunden mit der die Gemüther in Unruhe und Gährung versetzenden, zunehmenden historischen Bewegung, eine Art von ausgedehntester Brutwärme für ein Uebermaß unmotivirter Production verbreitete. Alles wollte damals schreiben, sprechen, rathen, dichten, sich hörbar machen. Wir befinden uns in einer ähnlichen Zeit und mahnend genug stellt sich somit dem Kritiker die Pflicht, abzuwägen zwischen dem allerdings bestehenden Urrechte der freien Persönlichkeit und ihres Wollens und Wirkens (also in unserm Falle dem Uhland'schen: Singe, wem Gesang gegeben!), und der principiell bedingten, durch den wirklichen objectiven Werth zur zünftigen Bedeutung erhobenen geistigen Arbeit.
Sollte man sich in der Rückbenuzung der Blumenlesen für die geschichtliche Darstellung künftig vorsichtiger zeigen, so ist der Zweck dieser Zeilen erreicht, und nur noch folgenden Vorschlag eines Schematismusversuches für die neueste Literaturgeschichte von 1830 an wolle man prüfen oder nach besserem Wissen verwerfen:
1. Aeußere chronikalische Darstellung des geschichtlichen Verlaufes sowohl in den Thatsachen, wie in den leitenden Ideen. Die Literatur als integrirender Bestandtheil der politischen und sittlichen Volksgeschichte.
II. Würdigung und Darstellung der
hervorragendsten Genien, die theils in universeller, theils, wenn sie
nur im Einzelnen wirkten, darin doch in prägnantester und
bekennzeichnendster Art jenem äußern Verlaufe von Thatsachen und
Ideenrichtungen den vorzüglichsten Ausdruck gaben. Für die lezten
zwanzig Jahre möchte dabei etwa diese Gruppirung gelten dürfen:
A. Ausläufe früherer Perioden.
1) Subjectiv romantisch: Uhland, Kerner, Schwab, Eichendorff, Julius Mosen.
2) Formenstrebend,
Schiller- oder Goethisirend: Rückert, Wilh. Müller, Zedlitz, Gustav
Pfizer, Chamisso.
B. Zerrissenheit und Verstimmung. (Byron'sche
Einwirkung. Selbstironie.)
1) Subjectiv romantisch: Heine und seine
lyrische Schule; Immermann.
2) Formenstrebend: Platen, Grabbe,
Lenau.
C. Die Revolution. (Beziehungsweise auch ihre Bekämpfung.)
1) Subjectiv.
a. Witz: Börne.
b. Kritik in drei Stadien:
α) W. Menzel.
β) Die Kritik des sogenannten jungen Deutschlands.
γ) Die philosophische Kritik. Strauß. Hallische Jahrbücher. Vischer. Julian Schmidt.
[815] c. Poetische Polemik: A. Grün, Herwegh, Freiligrath, Hoffmann von Fallersleben, Prutz, Dingelstedt.
2) Formenstrebend in objectiven Schöpfungen.
a. Neugestaltung aus dem gegebenen Material:
Volkszustände von der untersten Stufe der Curiosität (Genrebild) an bis zum bewußten Zusammenraffen der bildsamen Volksstoffe in der Dorfgeschichte. Diese selbst: reactionär (Jeremias Gotthelf); bewegend: (J. Rank, B. Auerbach). Volksschriften und Kalenderwesen.
b. Neugestaltung aus der Kraft des
Subjects, mit Rückwirkung auf die Kunstgattungen. Die poetischen
Gegenbilder der Wirklichkeit. Das Tendenzkunstwerk.
Auch hier wird
es höhere oder niedere Stufen geben. Die Tendenz wird mit der blinden
Leidenschaftlichkeit z. B. der Frauenzimmer- und Emancipationspoesie
anfangen (Gräfin Hahn-Hahn, Fanny Lewald), beim Tendenzkunstwerke
des Witzes und der feineren Grazie (Gustav Freytag) vorüber emporsteigen
bis zu demjenigen Kunstwerke, wo die Tendenz nur der Gußform eines
Standbildes gleicht, die, wenn jenes fertig ist, als überflüssige
Hülle zurückbleiben und zusammenbrechen kann. Hier wäre auch die
Gelegenheit, von dem erfrorenen Kunstwerke zu berichten, der Klippe
eines rein objectiv-seinwollenden Schaffens, das, wenn es in der
That so große Wirkungen hervorbringen wollte, wie es anstrebt, in
seiner Brust eine Welt voll Liebe, Hingebung, Bescheidenheit und
jener unendlichen Fülle subjectiven Lebens und gemüthlicher Naivetät
hegen müßte, die Shakespeare und Goethe bei all ihrer Objectivität
erst durch die im Objecte aufgegangene Subjectivität so groß gemacht
haben. Ein Wink für die Bedeutung Friedrich Hebbel's.
III. Pflege der
einzelnen Gattungen der Rhetorik und der Poesie nach ihren
unvordenklichen Rechten durch entweder jene von der zweiten Abtheilung
her zu subsumirenden Namen und ihre Leistungen, oder neue Namen, die
eine Geltung nur als Specialitäten in diesen bestimmten Gattungen in
Anspruch zu nehmen haben. In dieser Abtheilung wird sich der Kunstrichter
durch strenge Gerechtigkeit für diejenige Billigkeit schadlos halten
dürfen, die er in der zweiten Abtheilung bei der Entwickelung des
Historischen vorzugsweise wird haben walten lassen müssen. Denn gegen
das in der Zeit einmal Gewordene geht kein Gott an; er muß es lassen stân
trotz Classicität und Aristoteles.
Erstdruck und Druckvorlage
Deutsches Museum.
Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
Jg. 1, 1851, Nr. 23, 1. Dezember, S. 801-815.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Deutsches Museum online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Deutsches_Museum_(Prutz)
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/010308807
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/003948951
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/217526-5
Deutsches Museum inhaltsanalytische Bibliographie
Alfred Estermann: Inhaltsanalytische Bibliographien deutscher Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts - IBDK.
Band 1; 2 Teile: Deutsches Museum (1851-1867).
München u.a. 1995.
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer