Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Die Grenzboten
Dieser Dichter, von dessen poetischen Werken so eben eine neue
Gesammtausgabe erschienen ist, gehört einer Richtung der englischen
Literatur an, in welcher wir zwar den Einfluß des deutschen Geistes
wiedererkennen, aber ohne uns über diese Sympathie besonders zu freuen.
Wir haben von seinem letzten Gedicht "Weihnachtsabend und Ostertag"
im 25. Heft des vorigen Jahrgangs Bericht erstattet. – Die beiden
Schriftsteller, deren Einfluß vorzugsweise es zuzuschreiben ist,
daß ganz gegen das Wesen der englischen Sprache und Gesinnung
Faustische Gedankenlabyrinthe und die Mäandrischen Windungen des
Jean Paul'schen Styls einen großen Theil des fashionablen
Lesepublicums beschäftigen, sind Shelley und Thomas Carlyle.
Der Erste verband mit einer Sprache, die zum Theil von hohem
poetischen Werth ist, eine so frostige Allegorie, eine so weit
hergeholte Metaphysik, daß man in den meisten Fällen gar keine
Ahnung mehr hat, um was es sich eigentlich handelt. Wenn das schon
uns Deutschen so geht, so mußte dem praktischen Engländer die Sache
noch viel unheimlicher vorkommen. Dennoch hat Shelley nicht allein
im Publicum einen ziemlich bedeutenden Anhang gefunden, sondern er
hat auch eine Schule gegründet. Es war damals in der feinen gebildeten
Welt eine Reaction gegen das steif puritanische Wesen der altenglischen
Traditionen eingetreten, welche durch die Härte der Gesellschaft gegen
die poetischen Kühnheiten Lord Byron's nur noch geschärft wurde, und
doch ist Byron kein eigentlicher Empörer gegen den Geist seines
Vaterlandes, wenigstens ist seine Empörung nur individueller Natur:
durch die Ausnahmen, die er zu Gunsten seiner melancholischen und
frivolen Helden macht, bestätigt er nur die Regel, der sie zum Opfer
fallen; selbst sein Lucifer, auch wenn er blasphemirt, zittert vor
dem Gott des Himmels und der Erde. – Bei Shelley dagegen ist der
Zusammenhang mit der Tradition abgeschnitten; so wie er theoretisch
von dem Glauben seiner Väter abfiel, so wirft er praktisch alle Bande
ab, die ihn an die Denk- und Empfindungsweise seines Volkes knüpfen
konnten. – Carlyle, den man in poetischen und religiösen Dingen beinahe
einen Reactionär nennen könnte, denn er ist ein harter Eiferer
gegen die weichliche
[10] Humanität und den nivellirenden Liberalismus des 18. Jahrhunderts,
geht in den Neuerungen seines Denkens und seiner Sprache noch weiter,
als Shelley. Es ist in seiner Prosa ein so wüstes Durcheinander von
sinnlichen Bildern, abstracter Metaphysik, gelehrten Reminiscenzen und
dergleichen, daß man sich mitunter versucht fühlt, zu Hippel, <Hamann>,
Jean Paul, Arnim, Bettina u. s. w. zu flüchten, wie jener preußische
Officier von den Spontinischen Opern zu dem Zapfenstreich. Es ist das
eine merkwürdige Erscheinung, daß es auch bei dem besonnensten Volk der
Erde einmal dahin kommen sollte, daß man die Begriffe "geistreich und
genial" mit "unklar und verworren" identificirte. – Von den übrigen
Dichtern, die dieser Richtung angehören, ist Philipp Bailey der
bedeutendste. Sein "Festus" geht über den Faust hinaus, und seine
"Engelwelt" läßt Shelley's Phantasien weit zurück, um von Byron's
Mysterien nicht zu reden. – Robert Browning gehört in der Sprache wie
in der Denk- und Empfindungsweise der nämlichen Richtung an. Die erste
trotzt nicht nur fortwährend den Regeln der Gewohnheit und des guten
Tons, sondern nicht selten auch der Grammatik; seine Bilder sind gewagt,
an eine Einheit der Stimmung ist nicht zu denken, sie springt aus dem
Tragischen ins Lustige ungefähr in der burlesken Art Heine's über, aber
ohne die Grazie, welche diesen Dichter doch nur selten verläßt. Zuweilen
wird man geradezu an Karl Beck und Titus Ulrich erinnert. Es ist für die
Unparteilichkeit der englischen Kritik höchst anerkennenswerth, daß sie
trotz dieser Verirrungen das große Talent des Dichters noch immer gelten
läßt. – Browning begann seine poetische Laufbahn mit dem "Sordello",
1840, einem Gedicht, in welchem der Gegensatz des Genius gegen die
prosaische Welt behandelt wurde; ein leidiges Thema, welches auch bei
uns über Gebühr variirt worden ist. – Ein ganz ähnlicher Gegenstand
ist in dem zweiten Gedicht "Paracelsus"; der alte Naturphilosoph und
Charlatan wird durch die Anerkennung seiner genialen Conceptionen in den
Augen der gebildeten Welt über Gebühr rehabilitirt, wenn auch wegen
seiner titanischen Selbstüberschätzung gedemüthigt. Er stirbt im Hospital
zu Salzburg und bekennt zuletzt die Allmacht Gottes und seine strafende
Gerechtigkeit. In dem Ton dieses Gedichts ist ein wesentlicher Unterschied
von "Sordello". In diesem ist die Sprache übertrieben, schwülstig,
leidenschaftlich, bewegt und abgerissen; sie schmeckt nach dem Schwefel,
wie die Engländer sich ausdrücken; dagegen herrscht im Paracelsus eine
gewisse Monotonie und ein zuweilen schläfriger Ernst. Die spätern
Gedichte, "Pippa Passes" und "The Soul's Tragedy",
leiden ebenso an einer
unbestimmten und zu skizzenhaften Zeichnung; "der Weihnachtsabend" ist in
seiner Mischung des Tragischen und Burlesken schon vollständig Manier
geworden. Unter den andern zahlreichen kleinern Gedichten finden sich
unter vielen, in denen die Seele von Land zu Land, von Himmel zu Himmel
streift, um der Qual ihres Selbstbewußtseins zu entgehen, doch manche,
in denen der alte brittische Geist sich
wie[11]der geltend macht, volksthümliche Balladen,
der Geschichte und den Sagen
entnommen und in der gemäßigten Romantik der schottischen Schule
wiedergegeben. Sonderbarer Weise verrathen seine Dramen nichts von
der überspannten Phantasie, die seine Lyrik bewegt. Sie heißen:
"Colombe's Birthday", "Luria",
"The Return of the Druses" und
"A Blot on the Scutcheon", und sind Intriguenstücke in der kalten
Calderon'schen Manier; die Situationen sind sehr geschickt combinirt,
aber mit Personen ohne Fleisch und Blut, nichts als Requisite fürs
Theater. – Gleichzeitig mit seinen eignen Gedichten hat Browning auch
die seiner Gemahlin herausgegeben, welche schon früher dem Publicum
als Miß Elisabeth Barrett bekannt war. Auch diese bewegen sich meistens
in der überirdischen Welt, und ihre beiden größten Gedichte, "The Drama
of Exile" und "The Seraphim", erinnern lebhaft an Bailey.
Doch zeigt
sie namentlich in den kleinern Sonetten ein Talent für Rhythmus und
Musik, welches zu besseren Hoffnungen berechtigt.
Wir knüpfen an diese Mittheilung eine allgemeinere Betrachtung. Die allgemeine Verbreitung, welche die anarchistischen Ideen der Poesie in ganz Europa gefunden haben, bezeugt zweierlei: einmal, daß sie wenigstens verhältnißmäßig berechtigt sein muß, denn ohne Grund tritt eine so weit ausgedehnte Erscheinung nicht in die Welt; sodann die Nothwendigkeit, mit Ernst und Consequenz gegen eine Krankheit anzukämpfen, die immer mehr Ausdehnung gewinnt. Uns scheint, daß diese Pflicht vornehmlich uns Deutschen zukommt, denn von uns ist das Uebel ausgegangen; wir haben diese gestaltlose Metaphysik und die zügellose Phantasie in die Welt eingeführt. Uns kommt es zu, den Weg zur Ordnung und zum Gesetz wieder zu finden.
Erstdruck und Druckvorlage
Die Grenzboten.
Zeitschrift für Politik und Literatur.
Jg. 10, 1851, Bd. 2, Nr. 14, 4. April, S. 9-11.
Ungezeichnet.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Die Grenzboten online (ohne Titelblätter der Hefte)
URL: http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb10612589
URL: http://data.onb.ac.at/rep/10489303
URL: http://catalog.hathitrust.org/Record/000057894
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/007914762
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Grenzboten
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Literatur: anonym
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Vgl. Kap. 4.2: 'Aristokratismus' in Zeitschriften am Beispiel der "Grenzboten".
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer