[anonym]

 

Neueste Lebenszeichen der deutschen Lyrik.

[Auszug]

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Blätter für literarische Unterhaltung

 

Nicht zu leugnen, unsere jüngstzeitige Lyrik hat etwas Ahnungsvolles, Vorbedeutendes, Hoffnungberechtigendes. Man gewahrt mindestens ein Ringen und Bemühen: wieder allseitig-frische, naturwahre, romantische, ursprünglich-poetische Richtungen einzuschlagen.

Es wird jetzt ungeheuer gesungen, Das ist wahr. Die Reime werden jetzt milliardenweise verbraucht und die Verleger wissen nicht mehr wie sie in glänzender Ausstattung ihrer oft sehr precairen lyrischen Pfleglinge miteinander wetteifern sollen; dennoch regt sich in vielen dieser zahllosen Erscheinungen eine Unbescholtenheit des innern Dranges und Bedürfnisses, die der alten Tollheit sich entschlagen will; man arbeitet wieder den Tiefen der Poesie zu. Die deutsche Lyrik ist jetzt wirklich eine Art von Bergwerk. Ihr Genius scheint eine neue Ader entdeckt zu haben, und inspirirt nun seine Leute und Leutchen und weist ihnen ihre Gänge und ihre Arbeit an.

Auf den Höhen der Poesie sucht man wieder nach der verschollenen blauen Blume, in ihren Tiefen nach dem sagenhaften Karfunkel. An dem Grabmal der Romantik pocht man wieder leise und sehnsuchtsvoll in süßen Mondscheinnächten. Wenn man jetzt 31 Liedersammlungen vor sich aufgeschlagen hat, so vernimmt man aus ihnen gar mannichfaltige Klänge, vielgestaltige Töne: der Nacht, wie des hellen Sonnentags; es klingt und stellt sich dar, und will doch Etwas werden. Alter, schlechter Wust läuft noch mit, Das ist wahr, ja Mancher spendet Schlechtes und Gutes aus Einem Füllhorn, aber im Allgemeinen ist ein Regen und Drängen nach allen Phasen und Gebieten Dessen hin was Poesie ist nicht zu verkennen. Da haben wir den einen lyrischen Geist der geht aufs Meer und buhlt mit den "Möven", der andere rast in die Steppe hinaus und sucht in ihren Wüsten und Weiten das namenlose Kleinod der Poesie; in seltsamen Natur- und Dichternachtwegen verliert sich der Eine, indeß der Andere "Vaterländisches" spinnt und die leidige Heldenstrophe zum zehntausendsten male maltraitirt; der Eine schwingt sich zu den Sonnenhöhen des poetischen Denkens, während ein Zweiter niedertaucht in die Abgründe heiliger Mystik, die an Bonaventura's mystische Nächte gemahnen. In indisches Wesen versenkt sich Dieser, und dann wieder jagt es ihn auf vom Gangesgestade, wo Krokodil und Lotos baden, in die Gespensternacht des kalten Nordens zu Eule, Klagefrau und Wehrwolf. Dort wieder begräbt sich Einer in die trauervolle Erinnerungswonne versunkener Liebe, während sein keckerer Nachbar selbst seinen Haß poetisch macht und sein Leid aus der Brust heraus dem Himmel ins Angesicht schleudert. Ein kluger Referendar, der erst nach abgelegten Examinibus poetisch wird, setzt uns die Herrlichkeit der Dachstübchenliebe auseinander, der Sonntagswonne: wenn man incognito mit Geheimraths hübscher Jungemagd zum Weißbier geht, während hingegen ein ronneburger Philister sein Heil in langathmigen "Streckversen" findet, und in diesen ungeheuern molossischen Rhythmen, deren Sinn lebhaft an den seligen Baron Lorenz erinnert, seinen Freunden "Lichtbilder" und "Gedankenspiele" widmet. In lieber trauter Stille sehen wir den Einen sich dem "Idyll" zuwenden, während ein Anderer uns eines unsterblichen Dichters Schatten heraufbeschwört und hierin das Fundament für die eigene lyrische Begeisterung sucht.

Das Alles sind Phänomene, und mich dünkt: nicht ganz bedeutungslose! Soviel ist gewiß: der leidige coquettirende Weltschmerz ist in unserer jüngsten Lyrik abgethan, einerseits; andererseits reagirt man, wenn auch noch unbewußt, wieder auf die Urromantik der Natur. Ich müßte mich sehr täuschen, wenn nicht auch schon wieder der poetische Gedanke über den lyrischen Wassern brütete!

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Blätter für literarische Unterhaltung.
1851, Nr. 110, 19. Juli, S. 666-673.

Unser Auszug: S. 666.

Gezeichnet: 39.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Blätter für literarische Unterhaltung   online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Zeitschriften_(Literatur)#BflU
PURL: http://digital.slub-dresden.de/id390927252
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100319397
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008697234
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/501569-8

Blätter für literarische Unterhaltung   inhaltsanalytische Bibliographie
Alfred Estermann: Inhaltsanalytische Bibliographien deutscher Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts - IBDK.
Band 9; 5 Teile: Blätter für literarische Unterhaltung (1826-1850 [-1898]). München u.a. 1996.

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

 

 

Literatur: anonym

Albrecht, Wolfgang: Wegweiser zu neuer Poesie? Ästhetische Kriterien politisierter deutscher Literaturkritik um 1850 (Wienbarg, Vischer, J. Schmidt). In: Literaturkonzepte im Vormärz. Hrsg. von Michael Vogt u.a. Bielefeld 2001 (= Forum Vormärz Forschung, Jb. 2000), S. 23-47.

Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus. Freiburg i.Br. u.a. 2019.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Bunzel, Wolfgang u.a. (Hrsg.): Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 2003.

Göttsche, Dirk: Poetiken des 19. Jahrhunderts (Realismus). In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität. Hrsg. von Ralf Simon. Berlin u. Boston 2018, S. 175-200.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u. New York. 2004.

Pott, Sandra: Poetologische Reflexion. Lyrik als Gattung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik; N.F., 11), S. 31-59.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Zymner, Rüdiger: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23-36.

 

 

Literatur: Blätter für literarische Unterhaltung

Bachleitner, Norbert: Die Aufnahme der englischen Literatur in den 'Blättern für literarische Unterhaltung' (1818-1898) In: Beiträge zu Komparatistik und Sozialgeschichte der Literatur. Amsterdam u.a. 1997, S. 99-149.

Hauke, Petra-Sybille: Literaturkritik in den Blättern für literarische Unterhaltung 1818 – 1835. Stuttgart u.a. 1972 (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur, 27).

Hohendahl, Peter U.: Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830 – 1870. München 1985.

Obenaus, Sibylle: Die deutschen allgemeinen kritischen Zeitschriften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entwurf einer Gesamtdarstellung. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14 (1973), Sp. 1-122.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer