Johann Jakob Wagner

 

Dichterschule

[Auszug]

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

§. 101.

 

[85] Die Lebensformen zeigen das Menschensubjekt handelnd und behandelt in den Weltverhältnissen, von welchen es umfangen und getragen wird; die objektive Weltanschauung, welche Poesie heißt, wird eben daher die Formen ihrer Darstellung nehmen. Die erste wird also sein, wie das Subjekt sich in diesen Verhältnissen fühle und sehe, – lyrische Poesie mit ganz subjektivem Charakter; ihr gegenüber wird stehen die Aufgabe, ein Ganzes solcher Verhältnisse darzustellen und allseitig zu zeigen, wie sich in ihnen die Subjektivität handelnd und leidend bewegt, die epische Poesie mit ganz objektivem Charakter. Dazwischen wird die Aufgabe fallen, einen Charakter zu organisiren, der sich in diesen Verhältnissen handelnd Bahn bricht – dramatische Poesie, oder einen Charakter, den diese Verhältnisse ausbilden – erzählende Poesie, welche das Individuum durch die Geschlechtsverhältnisse durchführt.

 

§. 102.

 

In diesen vier Dichtungsarten steigert sich also die Objektivität der Darstellung von der Lyrik anfangend, welche als Monolog des Dichters zu betrachten ist, in welchem er mit Blicken auf jene Lebensverhältnisse, oder mit Gefühlen, die sie in ihm hervorriefen, spielt. In der epischen Dichtung dagegen legt sich ein Ganzes jener Verhältnisse um Subjekte herum, deren Bewegung in dieser Umgebung der Dichter zu schildern bat, so daß er selbst mit seinen Ansichten oder Ge[86]fühlen sich nicht einmischt, sondern die Verhältnisse und die Menschen ganz auf ihre Weise gewähren läßt. Will nun der Dichter im Drama die Handlung poetisch organisiren, so muß er Charakter gegen Charakter in Bewegung und in ihren Verhältnissen aufstellend ebenfalls mit seiner eigenen Subjektivität zurücktreten, und auch, wo er in der erzählenden Poesie seinen durch die Begebenheiten und Verhältnisse bearbeiteten Helden als dritte Person zurückstellt und der Dichter selbst als erste Person erzählend hervortritt, darf er den Verhältnissen und Begebenheiten seines Helden nicht durch Urtheile oder Gefühle vorgreifen, sondern muß sich darauf einschränken, durch lebendige Schilderung sie dem Urtheile und Gefühle des Zuhörers oder Lesers nahe zu bringen. Daber verhalten sich die vier Dichtungsarten wirklich wie die grammatikalischen Fürwörter: ich, du, er, es, und die Lyrik ist wirklich ein Monolog, das Drama ein Dialog, und in den beiden folgenden Dichtungsarten wird erzählt und geschildert. Eben so kann man sagen, daß der Dichter, der im lyrischen Gedichte offen hervorgetreten, im Drama sich hinter den Handelnden versteckend nur als Prolog oder Chor noch hervortritt, im erzählenden Gedichte wieder sichtbar wird, und im epischen das Tableau hält. Nach dem Gegenstande betrachtet enthält die lyrische Poesie Momente des innern Subjektivitätslebens, die erzählende Poesie die Entwicklungsgeschichte der Subjektivität im Geschlechtsleben, die dramatische das Heraustreten der Subjektivität in das handelnde Leben, und die epische das Gemälde des gesammten menschlichen Lebens.

 

Lyrische Poesie.

§. 103.

 

Für die lyrische Poesie liegt das Wesen in der Spiegelung objektiver Verhältnisse in der Seele des Dichters, und ihre Form ist demnach subjektiv-individuell. Den Gegensatz macht hier der Eindruck, den diese Verhältnisse auf Geist [87] und Gemüth des Dichters gemacht, und die Reaktion seiner Subjektivität gegen diesen Eindruck, welche beide Glieder des Gegensatzes sich in der Stimmung ausgleichen, mit welcher der Dichter sich auszusprechen eilt.

 

§. 104.

 

Die Reaktion der Subjektivität des Dichters gegen den Eindruck, welchen die objektiven Verhältnisse auf ihn gemacht, wird zum Laute, welchen er als Gedicht ihnen zurückgiebt, und in welchem seine gemüthliche oder geistige Aufregung nachklingt. Durch diese Reaktion macht der Dichter sein Inneres von dem Eindrucke frei, indem er ihn als Ausdruck herausstellt, und das lyrische Gedicht hat seine Stufen in der Einfachheit oder Entwicklung dieses Ausdrucks, seine Seiten aber in der gemüthlichen oder geistigen Richtung.

 

§. 105.

 

Die einfachste Reaktion ist hier der bloße Gedanke, in welchen der Eindruck sich bei dem Dichter verwandelt hat, und der völlig indifferent blos als Vorstellung hervortretend zeigen kann, daß der Dichter den Eindruck aufgefaßt habe. Der Eindruck kann aber auch einseitig das Gemüth zu einem Gefühle, oder den Geist zu einer Ansicht gebracht haben, auch können Gemüth und Geist sich zu einem objektiven Ausdrucke vereinigt haben, in welchem beide zugleich ihre Befriedigung finden.

 

 

 

 

Druckvorlage

Johann Jakob Wagner: Dichterschule.
2. Aufl. Ulm: Stettin 1850.

Unser Auszug: S. 85-87.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.32044079640785
URL: https://books.google.fr/books?id=NtJfqvl4DpQC

 

 

Literatur

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