Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Anthologie
[V] Noch kein Menschenalter ist es her, daß der hochmüthige Corse
seine Banner wehen ließ in Deutschlands Gauen; die Enkel Hermanns seufzten
unter dem Druck des fremden Eroberers. In der Brust der Nation pochte
die Scham ob solcher Entwürdigung, die Erinnerung öffnete die Heldengräber,
und hervorstiegen die Väter und ermahnten das erniedrigte Geschlecht,
das Joch der Knechtschaft abzuschütteln. Aber der Nation, welche
Friedrich der Große in seiner Sterbestunde eine "Nation der Sklaven"
genannt, fehlte der Muth, sich zu erheben, denn der Absolutismus hatte
sie mit hundertfachen Banden umstrickt. In der Stunde der Gefahr
fühlten die Fürsten, daß die Schwerter des Volkes geweiht werden müßten
an dem Altare der Freiheit, wenn es gelingen sollte, die mächtigen
Söldnerheere des Feindes zu vernichten. Und sie riefen dem Volke
zu: "Erwache! Kämpfe mit Gott für König und Vaterland, und nimm dann
als Lohn die Freiheit." Mit diesem Zauberworte erwachte
unend[VI]liche Begeisterung im Volke, Greis und Knabe griffen zu den
Waffen. Es galt ja nun den Kampf um das höchste Gut einer Nation. Den
erwachenden Freiheitsgefühlen gaben deutsche Barden – wir nennen nur
E. M. Arndt, Th. Körner,
Max v. Schenkendorf – Worte,
und mit freudigem
Muth gingen Tausende in den Tod, um den Nachbleibenden als heiliges Erbe
die Freiheit zu hinterlassen. Nach schweren Kämpfen war das Vaterland
gerettet und sein Boden geweiht mit dem Blute der Edelsten. Die Fürsten
bestiegen wieder die Throne ihrer Väter, aber sie vergaßen das Gelöbniß,
das sie in heiligen Augenblicken gegeben hatten, und vergebens harrten
die edelsten Männer auf die erlösende Stunde. Ein Jahrzehend nach dem
andern ging dahin, und statt der versprochenen freieren Institutionen
erschuf der kluge, im russischen Solde stehende Fürst Metternich eine
geheime Polizei, die überall ihr Ohr hatte, und die darauf ausging, die
erwachte Sehnsucht nach Freiheit bis zur letzten Spur zu vertilgen.
Metternich's Politik wurde von allen deutschen Höfen sanctionirt, und nun
begann ein planmäßiger Krieg gegen jede freie Volksregung. Uhland,
in dessen Seele der Aufschwung der deutschen Nation die Erinnerung alter
deutscher Macht und Herrlichkeit mächtig erweckt hatte, mahnte schon 1816
die Fürsten, "zu leisten jetzt, was sie gelobt!" – Freilich blieben alle
Mahnungen ohne Erfolg; die Männer, die unter verschiedenen Formen, aber
alle in dem großen Gedanken, die Herstellung einer einigen, freien,
deutschen
[VII] Nation zu erwirken, sich verbanden, wurden als Demagogen verfolgt.
Mit Kerkermauern, Censur, Polizeiregiment und Pietismus, den man von
oben herab begünstigte, wollte man das deutsche Volk nach
überstandener Gefahr wieder in den alten Schlaf zurückführen.
"Für jeden Funken gab's flugs eine Spritze,
Zehn Wächter gab's für jeden Leu."
Aber vergebens waren alle Mühen! Die feinsten und
schlauesten Regierungskünste, die der große Staatskanzler in Wien
ausheckte, und die willig alle Cabinette annahmen, wurden zu Schanden.
Der Genius der Freiheitsdichtung, der die Männer auf dem Schlachtfelde
begeistert hatte, lebte im Volke, und seine Jünger predigten mit
flammenden Worten das Evangelium der Freiheit. August Graf von Platen,
erfüllt von heiligem Zorn gegen die rohe Willkür absoluter Herrschaft,
und begeistert für die klassische Dichtung des griechischen
Heldenlebens, verkörperte den Gedanken der Freiheit in antike Formen
und erhob ihn dadurch zu immer höher wachsender Kraft. Weniger
rücksichtslos, aber um so inniger erklangen die Lieder des Grafen
Auersperg (Anastasius Grün). Doch auch der Unmuth über die nie
enden wollende Sklaverei des deutschen Volkes fand seinen Ausdruck
in den Dichtungen des Nikolaus Lenau (Niembsch von Strehlenau), der,
als er voll Gram nach Amerika ging, seiner Heimath zurief: "Vaterland,
das feige, dumm, die Ferse des Despoten küßt!" In seiner größten
Dichtung: "die Albingenser" stellt er in erschütternder Weise
[VIII] die Leiden eines nach Freiheit ringenden Volkes dar. Einen
andern Ausdruck fand der Gedanke der Freiheit in den Liedern Heinrich
Heine's. Unermüdlich schwang der Heimathlose die Geißel des Spottes über
die Zustände des Vaterlandes, und nur der Tieferblickende sah die
Thräne über die Schmach in dem lachenden Auge des genialen Satyrikers.
Hauptsächlich in diesen Dichtern spiegelte sich der Wille des denkenden
Theils der deutschen Nation ab. Aber reich an Geduld und Hoffnung
blieb lange noch der größte Theil des Volkes. Erwartungsvoll richteten
sich die Blicke der Harrenden auf einen "hohen Fürsten im Norden", und
von ihm hoffte man, er werde das erlösende Wort sprechen. Das Jahr 1840
kam, und ein Fürstenwort schien die Sehnsucht des deutschen Volkes
befriedigen zu wollen. Die Nation lebte auf. Kinkel, der jetzt im
Kerker schmachtet, pries das Jahr als die Pforte zur langersehnten Freiheit
in den loyalsten Dichtungen. Aber die finsteren Mächte, die die Kette
der Tyrannei bis in die Ewigkeit schmieden wollen, drängten sich
zwischen Thron und Volk und säeten die schwarze Saat gegenseitigen
Mißtrauens. Ferner als je schien der Tag der Erlösung zu sein. Das
Fürstenwort hatte auf's Neue die Hoffnung belebt, aber die That
entkräftete die Versprechungen. Da schleuderte Georg Herwegh seine
flammenden Dichtungen in die Wellen des aufgeregten Volksgemüthes, und
der unerhörte Absatz und Anklang, den dieselben fanden, hätte wohl dem
Blödesten die Augen über das, was im Volke lebte,
[IX] aufthun sollten. Aber statt der Volksstimmung Rechnung zu tragen
und sich auf den wahren und edlen Inhalt derselben durch Erweiterung
nationaler Institutionen zu stützen, nahmen die Regierungen in kleinlicher
Selbstsucht, in verletzter Eitelkeit, eine noch feindseligere Stellung
gegen das Volk ein und entkräfteten sich dadurch immer mehr. Heftiger
ward das Begehren des Volkes; neue Namen traten mit neuer Kraft auf.
Freiligrath verließ die "hohe Warte" der Neutralität und verstärkte
den Reigen der lyrischen Opposition durch herrliche Dichtungen. Auch
der Norden sandte seinen Sänger, Rudolf Gottschall, zu dem Olympischen
Feste der neuen Zeit. Aus Alfred Meißner's, Karl Becks
und Ludwig Köhler's
Gedichten ertönte neben der Sehnsucht nach Freiheit auch der Ruf des
Proletariats, die trostlosen Zustände der untersten Volksklassen zu
verbessern. Noch lauter erscholl dieser Ruf in dem bald darauf
erscheinenden Buche: "Der arme Mann" von Karl Beck, während Alfred
Meißner in seinem "Ziska", einem Gegenstück zu Lenau's "Albingensern,"
die Mauern des verbundenen katholischen und protestantischen Pfaffenthums
zu durchbrechen suchte, ein Ziel, das früher schon Friedrich v. Sallet,
besonders in dem "Laienevangelium" unb jetzt Titus Ullrich in
seinem "Hohen Lied" und "Victor" erstrebte, Beide ausgezeichnet durch
Tiefe der Anschauchung und Reichthum der Gedanken. Mit den Waffen des
poetischen Humors kämpften Hoffmann von Fallersleben und Adolf
Glaßbrenner gegen das dem
[X] Drange der Zeit noch immer Widerstand leistende Zopfthum. – Das Jahr
1847 war erschienen, und wieder hatte eine hohe Kundgebung Hoffnungen
erweckt. Aber auch diesmal wurde dem Volke der Stein statt des
Brotes gereicht, indem bald darauf vom Throne herab der liberalen
Richtung, der sich fast die ganze Nation zugewendet hatte, der
Fehdehandschuh hingeworfen ward. Stärker als je ertönten die
prophetischen Stimmen der Dichter, geweihte Vorboten der
donnernden Volksstimme.
Grenzenlos war die Verblendung der
deutschen Regierungen, die mit sehenden Augen nicht sahen, mit
hörenden Ohren nicht hörten. Das Jahr 1848 brach endlich heran.
Louis Philipp ward von einem deutschen Fürsten als der "von der
Vorsehung erhobene Arm" begrüßt, "dessen erhabenes Amt es sei, die
Monarchieen Europas zu schützen." – Einen Monat später –
und der Arm war
von dem Weltgeist niedergeschlagen, der schüzzende Schild sank in den
Staub! – –
Der Genius der Freiheit schritt über den Westen Europa's dahin, und
die Welt erzitterte. Und wer, wer war es nun, der die wankenden Throne
Deutschlands hielt? – Waren es die feilen Rathgeber, die am Ohre der
Fürsten bis dahin die Völker verleumdet hatten? O, sie wurden verweht
von dem Brausen des Weltgeistes wie Spreu, und der Meister der
Staatskünstler, Fürst Metternich, war der erste, der die Ferne
suchte.
Das treue, so schwer verleumdete Volk schützte seine Fürsten.
[XI] Da waren denn endlich die Tage gekommen, in denen das deutsche Volk seinen Willen mit eisernen Buchstaben schrieb, seinen Willen, der sich für eine wahrhafte, freie constitutionelle Staatsverfassung aussprach. Dieser sein Wille ward in Form der Verheißungen von den Thronen anerkannt, und in treuem Glauben und versöhnendem Geiste legte darauf das Volk die blutige Waffe aus der Hand.
Fast zwei Jahre sind seitdem vergangen, und nun fragen wir uns tiefbekümmert wieder: Haben wir noch, was wir blutig errungen? – Sind die Schwüre und Verheißungen Wahrheit geworden? – Oder hat die Partei, die hinter dem Zeichen des Kreuzes würgt und lästert, noch einmal die Throne mit ihrem Netz umsponnen und das vertrauensvolle Volk um seinen Sieg betrogen?
Die Auflösung fast aller aus Urwahlen hervorgegangenen National-Versammlungen und Kammern, die Belagerungszustände, die Octroyirungen, die Polizeiwirthschaft, die politischen Verfolgungen, das Standrecht, die gefüllten Gefängnisse, die Minoritätskammern – sie geben bittere Antworten auf diese Fragen. –
Diese ganze Zeitgeschichte mit ihren Licht- und Schattenseiten
schilderte mit Begeistering Moritz
Hartmann in seiner "Reimchronik des Pfaffen Mauritius."
Und wie steht's mit dem Freiheitsgefühl im Herzen der Nation? O, es ist reger als je! Die vertrauende Sorglosigkeit des Volkes ist noch einmal um den Segen der Freiheit gebracht worden. Aber dennoch verzagen wir nicht. Wir haben in das Land der Freiheit geschaut, und [XII] die Stunde wird gewißlich nahen, in der die letzten Mauern der Tyrannei fallen.
Rein und geläutert aber wird dann die Freiheit ihr Haupt erheben,
denn die Tage der Prüfung, die jetzt über uns gekommen sind, mahnen
uns, die Elemente, die unser Streben verdunkelten und unseren Feinden
die Waffen in die Hand gaben, von uns zu weisen. In der Freisprechung
der großen, edlen Männer des Volkes Waldeck und Jacoby
erblicken wir das
Morgenroth einer nahen bessern Zeit, denn in diesen Prozessen stand die
Demokratie der Reaction in dem Lichte der Oeffentlichkeit gegenüber.
Dieses Licht wird uns zum Siege verhelfen.
Du aber, edle, treue Nation, erfrische Dein Herz an den Liedern Deiner
Sänger, Deiner Propheten; ihr Geist erfülle Dich, ihr Schauen erhelle
Deinen Blick und zeige Dir immer und immer wieder den Morgen des großen
Tages der Freiheit. Dann wird er um so eher kommen der Tag, den alle
Edlen begrüßen und nennen werden:
"Tag des Heils!
Der Freudenthränen Tag!
Du meines Gottes Tag!"
Erstdruck und Druckvorlage
[anonym; Hrsg.]:
Freiheitsklänge.
Eine Sammlung politischer Gedichte der vorzüglichsten Dichter des deutschen Volkes.
Mit einer Einleitung: Die Politik und die Dichtkunst der neuesten Zeit.
Berlin: Simion 1850, S. V-XII.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
PURL: https://hdl.handle.net/2027/ien.35556007294606
URL: https://books.google.fr/books?id=PhqQrVrmdPYC
Bibliographie der deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 – 1914
Literatur: anonym
Ammon, Frieder von: Politische Lyrik.
In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
Hrsg. von Dieter Lamping.
2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 152-159.
Beckmann, Nicholas: Nationalgeschichte erzählen.
Berlin 2023.
Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus.
Freiburg i.Br. u.a. 2019.
Brandmeyer, Rudolf: Poetologische Lyrik.
In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
Hrsg. von Dieter Lamping.
2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 164-168.
Dembeck, Till: Der Ton der Kultur.
Lyrik und Sprachforschung im 19. Jahrhundert.
Göttingen 2023.
Frank, Gustav: 'Soziologische' und 'psychologische' Möglichkeitsbedingungen für
Geschichtsmodelle um 1850.
In: Vormärz – Nachmärz.
Bruch oder Kontinuität? Vorträge des Symposions des Forum Vormärz Forschung e.V. vom 19. bis 21.
November 1998 an der Universität Paderborn.
Hrsg. von Norbert O. Eke u.a. Bielefeld 2000
(= Forum Vormärz Forschung; Vormärz-Studien, 5), S. 85-124.
Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches.
Frankfurt a.M. 2001 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1510).
Pott, Sandra: Poetiken.
Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke.
Berlin u. New York. 2004.
Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860.
Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).
Weber, Ernst: Lyrik der Befreiungskriege (1812-1815).
Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur.
Stuttgart 1991.
Zymner, Rüdiger: Funktionen der Lyrik.
Münster 2013.
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer