[anonym]

 

Zur Geschichte der neuesten Lyrik.

[Auszug]

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Blätter für literarische Unterhaltung

 

[469] Unsere Zeit ist ganz und gar nicht lyrisch, und doch wurden nie mehr Gedichte veröffentlicht als gerade jetzt. Alljährlich tritt eine Unzahl jugendlicher Lyriker mit einer Erstlingsgabe vor das Publicum. Die Meisten von ihnen verschwinden freilich nach dieser ihrer ersten That für immer, sehr Viele aber harren hartnäckig aus, und bringen Jahr aus Jahr ein <empfindliches> Opfer, um die jüngsten Sprößlinge ihrer Muse der Welt immer wieder darzubieten. Noch Andere erringen sich sogar einigen Beifall und dadurch einen Platz in Almanachen und belletristischen Journalen, und halten sich natürlich für vorzugsweise berechtigt von Zeit zu Zeit einigen lyrischen Laich öffentlich abzusetzen. Diese zahllosen lyrischen Fehlgeburten, mit denen unser Büchermarkt fortdauernd überschwemmt wird, sind ein Erzeugniß unserer eigenthümlichen geselligen Verhältnisse. Diese Kunst überhaupt, und unter den Künsten vorzugsweise die Dichtkunst und unter den Zweigen der Dichtkunst wieder vorzugsweise die Lyrik, stehen im genauesten Zusammenhange mit der geselligen Bildung der Völker und Zeiten. Die lyrische Dichtkunst ist wesentlich eine gesellige Kunst; sie blüht immer nur da, wo sie durch gemüthvolle, gesellige Verhältnisse angeregt und gestützt wird. Die Griechen würden ohne ihre volksthümlichen und religiösen Feste keine lyrische Dichtkunst gehabt haben; die Römer hatten keine nennenswerthen Lyriker, weil sie keine ausgebildete, gemüthlich anregende Geselligkeit hatten; im Mittelalter gedieh und verkümmerte die lyrische Poesie mit der Courtoisie der Ritterwelt; in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war es ebenfalls eine reiche, herzerhebende Geselligkeit, welche die Keime der lyrischen Kunst jener Zeit hegte und pflegte, und zu so schönem Gedeihen brachte. Damals lebte in allen Ländern Europas, namentlich aber in Deutschland, eine große Anzahl geistvoller, edler und liebenswürdiger Frauen, welche die geselligen Kreise ihrer Zeit beherrschten, und ihnen ein wahrhaft poetisches Leben verliehen. Seit dem Anfange unsers Jahrhunderts ist die Zahl dieser Frauen mit jedem Jahre mehr zusammengeschmolzen, und zwar ist auch hierin Deutschland den übrigen Ländern Europas vorangegangen. Verständige, selbst gelehrte Frauen sind noch jetzt unter uns nicht ganz selten, aber sie entbehren fast sämmtlich in hohem Grade weiblicher Anmuth und jenes eigenthümlichen Zaubers welchen nur Feinsinnigkeit und poetische Empfänglichkeit zu verleihen vermag. Die sehr große Mehrzahl unserer Frauen dagegen ist vollständig in prosaische Alltäglichkeit versunken; die sogenannte Häuslichkeit, das heißt das Walten für die Bedürfnisse des sinnlichen Lebens, ist der einzige Zweig weiblichen Wirkens in welchem sie noch Etwas leisten. Für alles Höhere sind sie mit wenigen Ausnahmen ohne alle Empfänglichkeit. Nicht ganz so übel steht es mit den Männern. Zwar hat auch unter ihnen der Geist der Prosa seit 50 Jahren ungeheuere Fortschritte gemacht; aber es gibt denn doch unter ihnen noch eine ziemlich große Anzahl poetisch gestimmter Gemüther, und sogar manches lyrische Talent. Diese poetische Stimmung aber, dieses Talent vermag nicht sich naturgemäß zu entwickeln, sie müssen verkümmern, weil der Boden in dem sie wurzeln, die geselligen Verhältnisse der Gegenwart nämlich, vollkommen unfruchtbar ist. Vor 50 Jahren fehlte es den poetischen Gemüthern zwar auch nicht an Anfechtung, im Gegentheil, sie wurden viel heftiger angefochten als jetzt; aber sie standen damals den Prosamenschen als Partei gegenüber, und der Kampf mit ihnen wirkte daher belebend und erkräftigend auf sie. Gerade die Roheit mit welcher die Gegner sie verfolgten wurde die Veranlassung, daß sie sich enger aneinander anschlossen, und sich aneinander bildeten und entwickelten. Eine solche Gemeinschaft ist aber jetzt schon deswegen unmöglich, weil Diejenigen welche sie bilden könnten so wenig zahlreich und so zerstreut unter einer gleichgültigen Menge sind, daß Viele von ihnen kaum von dem Vorhandensein anderer gleichgestimmter Gemüther erfahren. Ueberdies verliert Derjenige der in prosaischer Umgebung aufwächst sogar die Fähigkeit den Gleichgestimmten zu erkennen, oder sich Andern in geeigneter Weise mitzutheilen und dadurch erkennbar zu machen; er wird wenigstens nach außen hin ein Philister, wenn auch in dem Innersten seines Herzens noch ein poetisches Flämmchen glüht. Solche vereinzelte, in ihrer Entwickelung gehemmte poetische Gemüther nehmen nun natürlich gern zu Papier und Tinte ihre Zuflucht, und legen die Gefühle [470] die sie im Gesellschaftszimmer nicht mitzutheilen Gegenheit haben wenigstens in ihrem Schreibtisch nieder. Während daher vor 50 Jahren lyrische Gedichte die Blüten eines geistig bewegten Lebens und einer bildenden Geselligkeit waren, ist jetzt das Anfertigen lyrischer Gedichte ein ärmliches Ersatzmittel, bei dessen Gebrauch der unglückliche Poet sich über die Mängel angemessener Lebensverhältnisse zu trösten versucht, eine Art geistigen <Konsens> mit sich selbst, in Ermangelung der Gelegenheit mit Andern in herzerquickender Weise zu verkehren. Einige dieser Poeten sind nun nicht ohne ein bedeutendes lyrisches Talent; aber gerade diese Begabtern pflegen sehr bald einzusehen, daß das Dichten keine zeitgemäße Beschäftigung ist, und daher haben wir gerade von unsern talentvollsten Lyrikern nur Ergüsse jugendlicher Begeisterung, die Erwartungen zu welchen diese Erstlingsversuche berechtigten sind nicht erfüllt worden, und werden auch wahrscheinlich nie erfüllt werden. Ueberdies bestätigt der Inhalt dieser Gedichte in der Regel die soeben gemachten Bemerkungen. Es geht aus ihnen hervor, daß die Verfasser sich in gleichgültigen oder widerwärtigen Lebensverhältnissen bewegten, daß sie der Aufmunterung vollständig ermangelten, daß sie im Gegentheile durch kleinliche Verdächtigungen oder durch geringschätzende Kälte behelligt und entmuthigt wurden. Unter diesen Lyrikern sind besonders Zwei in deren Gedichten Lebensverhältnisse wie die soeben beschriebenen sich deutlich abspiegeln, Gottfried Kinkel nämlich und Oswald Marbach. Gottfried Kinkel hat ein weiches, vielseitig empfängliches Gemüth, entbehrt aber jener Kraft Selbständigkeit des Geistes welche die kleinlichen Widerwärtigkeiten eines unerquicklichen Lebens als solche erkennt und verachtet; daher beklagt er sich mit fast weiblicher Naivetät über die Steine die man ihm in den Weg geschleudert hat, über die ungedeihliche Atmosphäre in welche er sich versetzt sah. Daneben schildert er freilich auch Hochgefühle, doch es gelingt ihm nicht den Leser zu überzeugen, daß ihm wirklich ein überschwengliches Glück zu Theil geworden. Vielmehr scheint nur seine Sehnsucht nach poetischen Freuden ihm die Erfüllung seiner Wünsche vorübergehend vorgespiegelt zu haben. Oswald Marbach ist ein kräftigerer, männlicherer Geist, und verschmäht es daher sich zu beklagen; aber aus seinen Gedichten geht denn doch auch hervor, daß er bis zu Veröffentlichung derselben nichts Erhebliches erlebt hatte. Unbedeutende Erlebnisse sind freilich nicht sehr geeignet poetisches Talent zu bilden und zu entwickeln. Auch haben diese beiden Dichter ihre Jugendarbeiten schon vor geraumer Zeit veröffentlicht, und seitdem wenig als Lyriker geleistet, und auch Dies darf wol als Beweis gelten, daß ihre Lebensverhältnisse in den letzten Jahren nicht erfreulicher als vorher waren. Denn in jenen Jugendarbeiten beider Dichter zeigt sich ein so bedeutendes Talent, daß man wol behaupten darf, Beide würden sich zu Lyrikern ersten Ranges ausgebildet haben, wenn sie vor 50 Jahren gelebt hätten.

Da nun selbst diese talentvollern Dichter durch die Ungunst der Zeitverhältnisse gleichsam erdrückt worden, so darf man sich freilich nicht wundern, wenn die Poetchen zweiten, dritten und vierten Ranges, welche aller Orten auftauchen, sehr bald nach ihrem ersten Aufblühen wieder verschwinden, ja man muß ihnen noch Glück wünschen, wenn sie sich veranlaßt gesehen haben das Reimen wirklich aufzugeben; denn eine ganz jämmerliche Rolle spielen diejenigen dieser Dichter welche, verführt durch den höflichen oder unverständigen Beifall einiger Freunde, das Handwerk nicht zur rechten Zeit aufgegeben haben. Diese Dichter eignen sich mit der Zeit die Fertigkeit an wahre Gespenster von Gedichten zu machen, hohle Formen, nämlich denen nicht nur Fleisch und Blut abgeht, sondern überhaupt jeder geistige, verständige Inhalt; sie kleistern die alltäglichsten Redensarten wohl oder übel zusammen, und bilden sich dann ein sie hätten ein Gedicht gemacht. Es gibt heutzutage Dichter welche sich eines gewissen Rufs erfreuen, und die doch nie etwas Anderes gemacht haben als hohle, abgedroschene Rebensarten, in deren Gedichten sich keine Spur von poetischem Schwunge, keine Spur von Farbe oder Ton, mit Einem Worte, weder Inhalt noch Form findet. Der Umstand, daß solche Reimschmiede dennoch nicht entschieden der Lächerlichkeit anheimfallen, ist an und für sich schon geeignet die poetischern Gemüther zu entmuthigen; denn ein Publicum das jene Wasserpoeten duldet wird sich niemals wahrer Dichtkunst geneigt erweisen.

Die Unerquicklichkeit unserer geselligen Verhältnisse, die herrschende Abneigung poetischen Eindrücken sich hinzugeben erklärt aber nicht nur die Untüchtigkeit unserer neuesten Lyriker, sondern auch die besondere Richtung welche viele derselben genommen haben, ihre kritische, verneinende Tendenz. Das Verneinen ist an und für sich ein unpoetisches Geschäft, und in eigentlich poetischen Zeiten haben die Dichter sich daher auch selten damit befaßt. Die Komödien des Aristophanes schildern den Untergang griechischer Sitte und griechischen Lebens, die römischen Satiriker lebten schon inmitten des Verfalls, und auch im Mittelalter gedieh das satirische Lehrgedicht erst als die Poesie jener Zeit bereits von der Prosa besiegt war, als die glänzenden, geselligen Verhältnisse der eigentlichen Ritterzeit einerseits in Roheit und unpoetische Lasterhaftigkeit, andererseits in steife, ebenso unpoetische Pedanterie und hausbackene Gesinnung umgewandelt waren. Fast alle Dichter dagegen welche das Glück hatten einer empfänglichen, bildungsfähigen Gesellschaft anzugehören, haben sich für den positiven Inhalt des Lebens, die zu ihrer Zeit eben bestehende Form desselben begeistert, und sie zum Gegenstande ihrer Schilderungen gemacht. Sie trugen damit nur eine Schuld der Dankbarkeit ab; denn das Leben ihrer Zeit war ihnen entgegengekommen, hatte sie gehoben und getragen, hatte sie zu Dem gemacht was sie waren. Im vorigen Jahrhundert war das Leben mit der Kunst schon halb und halb entzweit, namentlich die höhern Stände welche früher vorzugsweise die Künste gepflegt hatten, [471] fingen damals schon an sich von ihnen abzuwenden, und nur noch der gelehrte Mittelstand erwies sich als empfänglich für geistige Schönheit. Daher nahmen auch die Dichter jener Zeit theilweise bereits eine demokratische Richtung; sie nahmen Partei für den sie begünstigenden Mittelstand gegen die höhern Stände. In neuerer Zeit aber haben alle Stände sich in gleicher Weise von der Poesie abgewendet, und es ist daher eben nicht zu verwundern, wenn die Dichter ihrerseits sich auch gegen alle Stände, mithin gegen die gegenwärtig bestehenden Lebensformen überhaupt erklären, und sich socialistischen Träumen ergeben. Die Dichter üben nur das Recht der Vergeltung, wenn sie die bestehende gesellschaftliche Ordnung bekämpfen, weil diese Gesellschaft sie ausgegestoßen, sie gleichsam zu Proletariern, zu Parias gemacht hat.

Dieser Zwist zwischen der Gesellschaft und der Poesie hat aber unglücklicherweise die Zahl unserer schlechten Lyriker ebenfalls sehr bedeutend vergrößert. Er ist die Veranlassung geworden, daß die Poesie des Hasses, des Zornes und der Verachtung in neuerer Zeit vorzugsweise gepflegt worden ist. Nun können zwar diese Gemüthsbewegungen allerdings poetisch werden; aber sie sind es nur dann, wenn sie sich entweder würdevoll oder witzig äußern. Der polemische Dichter kann groß, erhaben erscheinen oder auch durch Schärfe und Feinheit ergötzen; aber er bedarf dazu eines sehr bedeutenden Talents, einer großartigen Anschauungsweise, eines kräftigen, durchdringenden Geistes. Nichtsdestoweniger hält sich seit 10 - 15 Jahren jeder Stümper, welcher einige abgedroschene politische Redensarten zusammenzureimen vermag, für berechtigt diese seine Pfuschereien der Mitwelt darzubringen. Eine Menge von halben oder Viertelpoeten, welche vielleicht nicht gewagt haben würden ihre Reimereien über Maienlust und Liebesschmerz und Vogelsang zu veröffentlichen, glauben im vollsten Rechte zu sein, wenn sie öffentlich von Völkerglück und Tyrannenübermuth, von Pfaffentrug und Freiheitsdrang stammeln. Die meisten dieser Gedichte enthalten Nichts als Ansichten welche jeder Lehrjunge im Munde führt, in möglichst jämmerlicher Form vorgetragen.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Blätter für literarische Unterhaltung.
1849:
Nr. 118, 17. Mai, S. 469-471
Nr. 119, 18. Mai, S. 473-475
Nr. 120, 19. Mai, S. 477-478
Nr. 121, 21. Mai, S. 481-483

Unser Auszug: Nr. 118, 17. Mai, S. 469-471.

Gezeichnet: 13.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Blätter für literarische Unterhaltung   online
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Blätter für literarische Unterhaltung   inhaltsanalytische Bibliographie
Alfred Estermann: Inhaltsanalytische Bibliographien deutscher Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts - IBDK.
Band 9; 5 Teile: Blätter für literarische Unterhaltung (1826-1850 [-1898]). München u.a. 1996.

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

 

 

Literatur: anonym

Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus. Freiburg i.Br. u.a. 2019.

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Göttsche, Dirk: Poetiken des 19. Jahrhunderts (Realismus). In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität. Hrsg. von Ralf Simon. Berlin u. Boston 2018, S. 175-200.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u. New York. 2004.

Pott, Sandra: Poetologische Reflexion. Lyrik als Gattung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik; N.F., 11), S. 31-59.

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Walcher, Bernhard: Vormärz im Rheinland. Nation und Geschichte in Gottfried Kinkels literarischem Werk. Berlin u. New York 2010.

Zymner, Rüdiger: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23-36.

 

 

Literatur: Blätter für literarische Unterhaltung

Bachleitner, Norbert: Die Aufnahme der englischen Literatur in den 'Blättern für literarische Unterhaltung' (1818-1898) In: Beiträge zu Komparatistik und Sozialgeschichte der Literatur. Amsterdam u.a. 1997, S. 99-149.

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Hohendahl, Peter U.: Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830 – 1870. München 1985.

Obenaus, Sibylle: Die deutschen allgemeinen kritischen Zeitschriften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entwurf einer Gesamtdarstellung. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14 (1973), Sp. 1-122.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer